Da schweben zwei riesige Phallusballons auf die Zuschauerinnen und Zuschauer zu, die sich um die drei Laufstege und auf den Rängen vor der Bühne versammelt haben. In eines der aufgeblasenen rosa Gebilde krabbelt auf allen vieren eine halbnackte Frau hinein. ‚Peaches‘ singt, nein brüllt dazu ihren Song „Dick in the Air“.
Mit dem hat die Electroclash-Perfomerin schon im Februar das Stuttgarter Staatsschauspiel im Brecht/Weill-Ballett „Die sieben Todsünden“ aufgeheizt. Den Choreographen und Tänzer Louis Sties hat sie von dort gleich mitgebracht – als fettig glänzenden Adonis. Zwei barbusige Tänzerinnen mit überdimensionalen Vulva–Masken auf dem Kopf werfen sich konvulsivisch zuckend vor die Sängerin, die sich wie schon öfter mit vielen Brüsten ausstattet, und mimen einen Geschlechtsakt. Die Trapezkünstlerin ‚Empress Stah‘ hat sich einen Laserpointer in die Vagina geschoben, so sieht es von unten zumindest aus, und beleuchtet turnend das faszinierte Publikum aus dem Bühnenhimmel mit neonschrillen Strahlen. Die ganze Halle dampft und rockt in Schummerlicht und Bühnennebel.
Noch nie hat die kanadische Künstlerin Merill Beth Nisker, die als Peaches zur Ikone für Feminismus, Queer- und Transgenderkunst wurde, mit so einem riesigen Aufgebot an Varietékünstlerinnen und -künstlern gearbeitet. „There’s only one peach with the hole in the middle“ ist eine von drei großen Eigenproduktionen, die das Internationale Sommerfestival auf Kampnagel dieses Jahr auf die Bühne gestemmt hat, und die anschließend nach London, Berlin und Aarhus tourt. Bis zu 30 Menschen, darunter 16 sehr unterschiedliche Tänzer und Tänzerinnen spreizen und winden sich zur ostinat hämmernden und variantenarmen 80er-Retromusik des 12-köpfigen Frauenorchesters. Der New Yorker Multigender-Choreograph Christeene tritt in einem abenteuerlichen Outfit als Sexteufel auf. Und Peaches selber wirft ihr Kleid aus bodenlagen Haaren und Zöpfen, ein Kostüm von Haar-Couture-Designer Charlie Le Mindu, sehr bald ab.
Mit immer wieder überraschenden, schweißtreibenden und wilden Choreographien feiert die ganze Show in großer Beharrlichkeit den Geschlechtsakt und vergrößert einfallsreich die dazugehörigen Organe. Weniger aufregend sind Texte und Musik. Botschaften wie „Shake your dicks, shake our tits“ oder Peaches größter Hit „Fuck the pain away“ erscheinen in ihrer Schlichtheit merkwürdig überholt. Doch innerhalb dieser hemmungslos eindimensionalen Sexfeier tragen sie bei zu einer schillernden Illusion der Roaring Twenties, mit allzu dumpfen, lauten, womöglich ironischen und distanzierenden Untertönen.
Seit in den Achtziger Jahren Pornodarstellerinnen wie Annie Sprinkle ihre Selbstermächtigung als Kulturschaffende durchsetzten, sich den Feminismus zu eigen machten und Menschen auf der Bühne ihre Gebärmutter zeigten, ist die Empörung des damaligen, männlich-moralisch dominierten Kulturbetriebs einem genderbewussten „Anything goes“ gewichen.
Zur nächsten Generation von Sexkünstlerinnen gehört die 52jährige Peaches. Sie reihte sich mit ihrem ersten Album vor 20 Jahren in die Tradition dieses offensiven, mit Sexsymbolik spielenden Feminismus ein, der Frauen vom Sexobjekt zum Sexsubjekt machte. Doch nun stellte sich eine neue Frage: Was kommt nach dem sexuellen Tabubruch? Die Instrumentalisierung von Sex? Müssen Frauen wie Peaches als Performerin, Video-Künstlerin, Electro- und Monteverdi-Opernsängerin überzeugen, als Jesus Christ Superstar das Kreuz zum Phallus erklären und mit einer Revolution der Sexspielzeuge in die bildende Kunst gehen? Peaches’ jüngster Eroberungsversuch, der parallel in ihrer ersten Einzelausstellung „Whose Jizz ist This?“ im Hamburger Kunstverein läuft, könnte eine humorvolle Antwort liefern: Postfeministische Kunst muss sich immer wieder neu erfinden, kreatives Terrain gewinnen, Identität als willkürliche Behauptung bloßstellen. Wohl auch deshalb stellt die Multimedia-Queen Peaches mittlerweile das Geschlecht als definierendes Merkmal überhaupt in Frage. Scham war sowieso gestern.
Und dennoch droht die simple Botschaft dieses Abends zu bleiben: „Sex sells“. Keine Genderdebatte kommt an unseren neuronalen Netzen vorbei, und die reagieren nun mal erfolgversprechend auf sexuelle Signale.
Die stets gefüllte 1000-Plätze-Halle K6 gibt jedenfalls Festivalleiter Andra´s Siebold Recht, der den Fokus des Festivals mehr und mehr auf theatrale Hybridformate und die gegenwärtige Musikszene gelenkt hat. Schon ist die nächste Musiktheater-Produktion für das kommende Jahr geplant, mit dem kanadischen Musiker Kid Koala.
Etwas zartfühlender als Peaches zeigte das spanische Kollektiv „La Tristura“ die Beziehungen zwischen den Geschlechtern in ihrer Deutschlandpremiere „Future Lovers (Unplugged)“. Darin reflektiert eine Frau aus der Zukunft in einer offenbar psychotherapeutischen Sitzung über ihr neunzehntes Lebensjahr, und das spielt sich dann in unserer Gegenwart ab. Im leeren Raum der Erinnerung ist plötzlich diese Clique von sechs Jugendlichen, die immer die Handys im Anschlag haben und eine vibrierende Energie verbreiten, die sich in gefährliche Situationen bringen, Hiphop tanzen, sich herumschleudern, trinken und ihre Gedanken über Sex und Liebe austauschen, ohne jegliche Bühnenshow oder Kostümierung . Aus der Authentizität der Teenager, die ihre eigenen Texte erarbeitet haben, entsteht eine ganz eigene Poesie – und ein erfrischender Gegensatz.
Und schließlich war da noch der belgische bildende Künstler Kris Verdonck, der mit einer apokalyptischen Vision in die Kampnagelfabrik zurückkehrte. „Something (out of Nothing)“ entwickelt sich wortwörtlich aus dem Nichts und bleibt über weite Strecken eher eine Installation als ein Theaterabend. Das leise Kratzen der Cellistin Leila Bordreuil erzeugt die ersten, schwer einzuordnenden Laute im schwarzen Bühnenraum. Aus dem Off erzählt Tawny Anderson den Mythos eines Urvolkes: Wer einen Baum fällt, muss sterben, glaubte dieses Volk. Als der erste Mann einen Baum fällte, starb er zum größten Erstaunen der Menschen nicht. Und der nächste, der es ihm nachtat, auch nicht. So wurden alle glücklich, heißt es. Dann wachsen sehr langsam, zunächst vereinzelt pilzartige Säcke von oben herab, ein magisches Bild, sie werden mit leisem Luftrauschen aufgeblasen und verlieren wieder an Luft. Vier Tänzer in schwarzen Ganzkörper-Anzügen und schwarzen Schalen vor dem Gesicht bewegen sich in minutiös inszenierter Unbeholfenheit zu einander, scharren in den Boden und verschwinden wieder. Erneut erklingt der Text, diesmal erweitert um weniger hoffnungsfrohe Sätze. Das Kratzen des Cellos wird unangenehmer. Ganz langsam steigert Verdonck so das Tempo und die Unausweichlichkeit der Erfüllung des anfänglichen Orakelspruchs – und Verdoncks Antwort auf die sich anbahnenden Folgen des Klimawandels. Auch dies ein wunderbares Beispiel, wie sich Theater, Tanz und Bildende Kunst zu einem durchlässigen Gesamtkunstwerk verbinden, das tiefe und verstörende Spuren hinterlässt.
Internationales Sommerfestival Kampnagel 2019
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Fotos: Lydia Daniller
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