Bildende Kunst

Das Meer, ein Blick: An verschiedenen Stränden der Welt – in Polen, Großbritannien, der Ukraine, Kroatien, den USA – zeigt die Künstlerin Rineke Dijkstra junge Menschen, die direkt in die Kamera schauen. Die komponierten Fotografien sind eine Suche nach der Essenz des menschlichen Daseins: einfühlsame Begegnungen, mit denen die Künstlerin auch die Frage nach Authentizität und Wahrhaftigkeit in der Porträtfotografie aufwirft.

 

Das Städel Museum in Frankfurt/M. präsentiert in einer Einzelausstellung insgesamt 27 Arbeiten, davon 23 Bilder aus der Beach-Portraits-Serie, mit der Rineke Dijkstra (*1959) international bekannt wurde und sich als eine der wichtigsten Fotografinnen der Gegenwartskunst etablierte. Erweitert wird die Ausstellung mit Werken der Streets-Serie sowie einem Selbstporträt.

 

In der überwiegend in den 1990er Jahren entstandenen Werkreihe der Beach Portraits verbindet Dijkstra die dargestellten Jugendlichen über Ländergrenzen hinweg durch eine immer gleiche Komposition. Vor dem klaren, einfachen Hintergrund des Meeres, in Kontext wie Kleidung reduziert, liegt der Fokus ganz auf den Dargestellten, ihrem Wesen und ihrer jugendlichen Natürlichkeit, die sich in kleinsten Nuancen von Mimik und Haltung manifestieren – vor allem, wenn ihre Gefühlswelt trotz all ihrer Anstrengung doch spürbar wird. Dieses Moment macht die konzentrierten Aufnahmen ebenso zu zeitlosen Bildern, die das Menschsein verkörpern und in denen sich zentrale Aspekte und Herausforderungen des Lebens bündeln: Unsicherheit, Neugier und die Suche nach der eigenen Identität. Mit ihrer einzigartigen Bildsprache, die kunsthistorische Bezüge auf Werke von Sandro Botticelli bis August Sander aufweist, werden die Fotografien zum Ausdruck einer zeitgeschichtlichen Beobachtung der Ära nach dem Kalten Krieg.

 

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Philipp Demandt, Direktor des Städel Museums, zur Ausstellung: „Rineke Dijkstras Porträts könnten gegenwärtiger nicht sein und sind zugleich heute schon große Werke der Kunstgeschichte: Sie sind längst Ikonen der Fotografie. Das fotografische Medium spielt eine zentrale Rolle in der Sammlung des Städel Museums. Bereits in den 1850er-Jahren wurden Fotografien für die Lehrsammlung erworben. Heute umfasst das Konvolut über 5.000 Werke – von den Anfängen der Fotografie bis zur unmittelbaren Gegenwart, darunter zentrale Arbeiten von wegweisenden Fotografinnen. Umso mehr freue ich mich, dass wir nun im Städel Museum mit Rineke Dijkstra eine so bedeutsame Fotokünstlerin präsentieren können.“

 

„In ihren Arbeiten gelingt es Rineke Dijkstra, sich dem Wesen des Menschen auf einfühlsame Weise anzunähern – ein Anspruch, den die Fototheorie und die Kunstgeschichte teilen. Rineke Dijkstras Protagonisten sind Menschen, die, über kulturelle Grenzen hinweg, nicht nur auf der Suche nach ihrer Identität sind, sondern die auch eine überzeitliche Frage verbindet: ‚Wann und wie verstehe ich mich selbst und wie möchte ich von meiner Umwelt wahrgenommen werden?‘ Es ist dieses empathische, allzu menschliche Moment, das in Dijkstras Arbeiten zum Ausdruck kommt und sie damit so zeitlos macht“, ergänzt Maja Lisewski, wissenschaftliche Mitarbeiterin Sammlung Gegenwartskunst und Kuratorin der Ausstellung.

 

Inszenierung und Natürlichkeit

Der hohe Grad an Natürlichkeit in ihren Aufnahmen ist für Rineke Dijkstra von zentraler Bedeutung. Während sie Ende der 1980er-Jahre als freiberufliche Fotografin für verschiedene Magazine arbeitete, suchte sie nach neuen künstlerischen Ausdrucksformen. Ein Wendepunkt in ihrer Karriere als Künstlerin stellt Self-Portrait, Marnixbad, Amsterdam, Netherlands, June 19, 1991 (1991) dar. Die Aufnahme zeigt sie im Moment völliger Erschöpfung nach einem intensiven Schwimmtraining, das sie infolge eines schweren Fahrradunfalls im Jahr 1990 täglich zur Rehabilitation absolvierte. Zu müde, um eine Pose einzunehmen, bleibt ihr nur der direkte, unverstellte Blick in die Kamera. In diesem Moment, der zwischen Zurückhaltung und persönlicher Veränderung liegt, findet Dijkstra Inspiration für die Beach Portraits. Mit den Fotografien dieser Werkserie beginnt sie, die Vielschichtigkeit junger Menschen in Übergangsphasen in all ihrer Widersprüchlichkeit einzufangen. Die Künstlerin interessiert sich seitdem weniger für die Jugendlichen an sich, sondern für den Punkt, an dem sich Identität und Persönlichkeit noch entwickeln und noch nicht vollständig von erlernten gesellschaftlichen Rollen eingenommen sind.

 

Rineke Dijkstra ausstellungsansicht beach portraits

Ausstellungsansicht Rineke Dijkstra. Beach Portraits Foto: Städel Museum - Norbert Miguletz

 

Die Menschen, die Dijkstra porträtiert, üben auf sie eine gewisse Faszination aus, die es ihr ermöglicht, eine Verbindung zu ihnen aufzubauen. Ihr eigenes Verhältnis und das des Betrachters zu den Porträtierten ist für sie von großer Relevanz und sie wahrt in den Fotografien stets eine respektvolle Distanz. Sowohl für die Beach Portraits als auch für die Streets-Serie inszeniert sie die jungen Menschen in frontaler Pose, wie freistehende Skulpturen, und verleiht ihnen eine würdevolle Aura. Der erwiderte Blick ermöglicht eine direkte Begegnung zwischen Betrachter und Porträtiertem, ohne dass trotz dieses intimen Moments ein voyeuristischer Effekt entsteht. Die Aufmerksamkeit wird durch die schlichte und sich wiederholende Komposition der Aufnahmen ganz auf die zentrale Figur gerichtet. Wie in einem Fotostudio ist der Hintergrund des Meeres immer derselbe, nur das Wetter und die Elemente der Landschaft verändern ihn und prägen die Bildkomposition, die die unaufgeregte Körperhaltung der Jugendlichen deutlich hervortreten lässt.

 

Der fotografische Moment

Die Künstlerin nutzt zum Fotografieren einen Aufhellblitz und eine analoge

Großformatkamera in 4 x 5 Zoll, die viel Aufmerksamkeit und Zeit in Anspruch nimmt. Durch die technisch bedingte Entschleunigung des fotografischen Prozesses entspannen sich die Porträtierten im Laufe der Zeit immer mehr und verlieren das Bestreben, ihre Erscheinung vor der Kamera zu kontrollieren. Bei den Beach Portraits und den Bildern der Streets-Serie konzentrierte sich Rineke Dijkstra stark auf die Silhouetten der Jugendlichen und bat sie als einzige Anweisung darum, nicht zu lächeln, weshalb es so scheint, als hätten sich die Emotionen von ihrem Gesicht auf den gesamten Körper übertragen.

 

Für Dijkstra ist der Moment entscheidend, in dem beim Fotografieren zwar bestimmbare Faktoren wie Licht, Farbigkeit und Bildaufbau zusammenkommen und der sich dennoch ihrer vollständigen Kontrolle entzieht. Generell nähert sie sich ihren Motiven in zwei Schritten: Zuerst betrachtet sie die Person durch den Sucher der Kamera. Dabei erscheint diese auf dem Kopf, sodass Emotionen und Mimik zwar schwieriger zu erkennen sind, dafür aber die Komposition mehr zur Geltung kommt. Das fotografische Ergebnis ist für die Künstlerin aufgrund der analogen Technik erst hinterher sichtbar. Details, die sie beim Fotografieren nicht bewusst wahrgenommen hat, offenbaren in ihrer Kombination unerwartete Facetten der Porträtierten, die sie für einen Augenblick aus ihrer Alltagsrealität herausheben. Die genaue Angabe von Entstehungsort und -zeit in den Werktiteln birgt einen dokumentarischen Aspekt und weist auf diese kurzen, bedeutsamen Momente hin, die einen Kontrast zur schlichten Inszenierung und den lässigen Posen der Jugendlichen bilden.

 

USA und Osteuropa

Durch den Verzicht auf überflüssige Bildinformationen kreiert Rineke Dijkstra Porträts, mit denen sich der Betrachter leicht identifizieren kann und in denen sich soziale Typisierungen von Menschen wiederfinden. In der Tradition von August Sander (1876–1964), den Dijkstra selbst als eine wichtige Inspirationsquelle benennt, schafft sie soziologische Beobachtungen und hinterfragt gesellschaftliche Rollenbilder. Nachdem sie die Serie der Beach Portraits 1992 in den Niederlanden begonnen hatte, reiste sie noch im selben Jahr in die USA und fotografierte Jugendliche am Strand der Insel Hilton Head im Bundesstaat South Carolina, die noch immer als eines der luxuriösesten Urlaubsziele der Vereinigten Staaten gilt. Die Fotos, die sie kurze Zeit danach in Osteuropa machte, offenbaren subtile, aber signifikante soziokulturelle Unterschiede und zeigen Teenager an den Stränden Polens, der Ukraine und Kroatiens in unverstellten Posen und altmodischer Badebekleidung, zuweilen auch in Unterwäsche oder Straßenkleidung. Die US-amerikanischen Heranwachsenden hingegen tragen modische Bikinis und Badeanzüge und versuchen mitunter, Posen aus Hochglanzmagazinen zu imitieren.

 

Die Fußspuren im Sand von Hilton Head Island, S.C., USA, 24. Juni 1992 (1992) verraten, dass das Mädchen Erin verschiedene Körperhaltungen ausprobiert hat. Make-up und Schmuck lassen bestimmte Erwartungen und Hoffnungen der jungen Heranwachsenden gegenüber diesen Aufnahmen erahnen; Rineke Dijkstra wurde am Vortag von Erin bei Abenddämmerung am Strand gefragt, ob sie sie porträtieren könne, und sie verabredeten sich für die Aufnahmen am nächsten Tag – eine Ausnahmesituation innerhalb der Serie, denn die anderen Aufnahmen von Dijkstra wurden spontan initiiert. Das Foto zeigt Erin sowohl bei dem Versuch, ihr vom Wind bewegtes Haar zu bändigen und dabei perfekt auszusehen, als auch mit einem Gefühl der Unsicherheit.

 

Kunsthistorische Parallelen

Aufgrund der Pose von Erin wird Hilton Head Island, S.C., USA, 24. Juni 1992 oft mit Sandro Botticellis (1445–1510) Die Geburt der Venus (1485–1486) in Verbindung gebracht. Noch näher an die kunsthistorische Ikone kommt die etwa 15-Jährige in Dijkstras bekanntestem Werk Kolobrzeg, Poland, July 26, 1992 (1992). Der starke Bezug ergibt sich aus ihrer eleganten und einfachen Erscheinung. Das Mädchen am polnischen Strand erinnerte von Anfang an Rineke Dijkstra an eine Abbildung aus der Renaissance, aber die Ähnlichkeit zur Venus, nicht zuletzt durch die fast identische Pose des Kontraposts, offenbarte sich erst nach der Aufnahme. Obwohl Dijkstra in ihrer Arbeit nicht aktiv danach sucht, weisen auch andere ihrer Fotografien Gemeinsamkeiten mit bedeutenden Werken der Kunstgeschichte auf, wie beispielsweise Jalta, Ukraine, July 30, 1993 (1993), die an die Harlekin-Motive von Pablo Picasso (1881–1973) erinnert. Verstärkt werden diese Parallelen zu Gemälden etwa durch Dijkstras beinahe malerischen Einsatz von Farben, dem Aussparen von Schatten und dem einheitlich gestalteten Hintergrund der Fotografien.

 

Rineke Dijkstra macht in ihren Werken die Diskrepanz zwischen der gewünschten Selbstdarstellung und der tatsächlichen Wirkung ihrer Protagonisten deutlich. Ihre Porträts zeigen oft, was die Abgebildeten nicht nach außen tragen wollen, aber dennoch spüren. Kleinste Details und unbewusste Gesten wie die Stellung der Hände oder der Ausdruck in den Augen verraten mehr über die jungen Menschen, als sie selbst vielleicht offenbaren möchten. Durch das Festhalten dieser spezifischen, persönlichen Merkmale schafft Dijkstra authentische Bilder, die weit über die individuelle Person hinausweisen und Erkenntnisse über menschliche Identität und Selbstwahrnehmung vermitteln.


Rineke Dijkstra: Beach Portraits

Zu sehen bis 18. Mai 2025 im Städel Museum, Schaumainkai 63, in 60596 Frankfurt am Main

Kuratorin: Maja Lisewski, Wissenschaftliche Mitarbeiterin Sammlung Gegenwartskunst

Öffnungszeiten: Di, Mi, Fr, Sa, So + Feiertage 10.00–18.00 Uhr, Do 10.00–21.00 Uhr

Weitere Informationen (Städel Museum)

 

Rineke Dijkstra (*1959 in Sittard, Niederlande) lebt und arbeitet in Amsterdam, wo sie von 1981 bis 1986 an der Gerrit Rietveld Akademie studierte. Sie erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Hasselblad Foundation Award 2017 und den Johannes Vermeer Award 2020. Sie ist in bedeutenden internationalen Sammlungen vertreten, darunter das Stedelijk Museum in Amsterdam, das Museum of Modern Art in New York, das Art Institute of Chicago, das MACBA in Barcelona, das Centre Georges Pompidou in Paris, das Metropolitan Museum of Art in New York, die Tate Modern in London und das Städel Museum in Frankfurt am Main. Ihre Werke wurden in umfangreichen Einzelausstellungen präsentiert, unter anderem im Lehmbruck Museum, Duisburg (2022), im Rijksmuseum, Amsterdam (2019), im Louisiana Museum of Modern Art, Humlebaek (2017), im Museum für Moderne Kunst (MMK), Frankfurt am Main (2013) und im Solomon R. Guggenheim Museum, New York (2012).

 

Vom 8. November 2024 bis 10. Februar 2025 zeigt die Berlinische Galerie eine Überblicksausstellung der Künstlerin.

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