Künstlerkolonien gab und gibt es in Europa viele. Bereits im 18. Jahrhundert, vor allem ab dem 19. Jahrhundert, taten sich Künstler zusammen, um an bestimmten, oft idyllisch gelegenen Orten, ein Kunstrefugium zu etablieren, an dem sie in Ruhe und inspirierend arbeiten konnten. Zurzeit zählt der Dachverband der Vereinigungen der Europäischen Künstlerkolonien – 1994 gegründet – registrierte 45 Künstlerkolonien in 13 Ländern.
In Deutschland sind bis heute Worpswede, Ahrenshoop, Dachau, Dangast und Murnau die wohl bekanntesten. Einen Blick auf die weniger bekannten Künstlerkolonien zu werfen, ist ein lohnender.
Die Stadt Solingen ist allgemein für ihre Schneidwarenindustrie bekannt: Klingen, Scheren und Bestecke kommen von dort, aber die Künstlerkolonie taucht weder auf der offiziellen Homepage der Stadt noch im Wikipedia-Eintrag auf.
Dankenswerterweise haben die Bettina Heinen-Ayech Foundation in der Person von Dr. Haroun Ayech im sogenannten „Schwarzen Haus“ in Solingen – dem in den 1920er Jahren gegründeten Kunstquartier, das zuvor das Steigerhaus der nahegelegenen Bleimine war –, sowie der Zweckverband Dachauer Galerien und Museen mit seiner Leiterin der Gemäldegalerie, Dr. Laura Cohen, den drei Hauptvertretern der Künstlerkolonie Solingen einen Ausstellungsort gegeben.
Noch bis Ende April 2025 lassen sich Werke von Erwin Bowien (1899–1972), Bettina Heinen-Ayech (1937–2020) und Amud Uwe Millies (1932–2008) in den großzügigen Räumen der Gemäldegalerie Dachau besichtigen.
Auffällig ist, dass die beiden Maler und eine Malerin Reisekünstler waren. So ist auch der Titel der Ausstellung „In der Welt unterwegs“ zu erklären. Nicht jede Reise war jedoch eine freiwillige, einige waren Reisen, um dem Nationalsozialismus zu entkommen.
Weltkarte mit den Orten, an denen die Protagonisten der Künstlerkolonie tätig waren. Quelle: Schwarzes Haus. Gemeinsame Reisen brachten Bowien, Heinen-Ayech und Millies in die Schweiz, nach Italien oder nach Paris. Amud Uwe Millies zog es später in die Ferne, nach Südamerika und Asien, während Bowien und Heinen-Ayech häufig – auch gemeinsam – nach Skandinavien und Nordafrika reisten: Norwegen faszinierte Bowien zutiefst. Algerien wurde Heinen-Ayechs neue Heimat.
„Während die zeitgenössische Kunst in der Mitte des 20. Jahrhunderts durch Abstraktion geprägt war, malten die drei Solinger Künstlerinnen gegenständlich und sahen sich in der Tradition der Künstlerkolonien der Jahrhundertwende: Sie arbeiteten draußen, „plein air", und nahmen Licht und Atmosphäre ihrer Umgebung auf.
Erwin Bowien war Lehrer und engster Vertrauter von Bettina Heinen-Ayech, die er schon seit ihrer Kindheit kannte. Auch Amud Uwe Millies wurde Bowiens Schüler und ständiges Mitglied der Künstlerkolonie Solingen.
Alle drei waren freundschaftlich eng verbunden, aber ihr künstlerischer Stil offenbart höchst individuelle und prägnante Ausdrucksweisen“, heißt es im Einführungstext zu Beginn der Ausstellung.
Der chronologische, thematische Aufbau vereint Gemälde, Zeichnungen und erläuternde Dokumente sowie Fotografien in Vitrinen. Alle drei Individualisten sind durchgängig in der Ausstellung erkennbar. Der in Mülheim/Ruhr geborene Erwin Bowien ist ein exzellenter Zeichner und eine ganze Reihe seiner Bilder schwanken stilistisch zwischen Spätimpressionismus und dem groben Landschaftsnaturalismus eines Gustave Courbet (1819–1877).
Erwin Bowien: Im Vaporetto in der Lagune von Venedig, 1954, Privatbesitz
Seine Grün-Gelb- und Rosa-Töne im Bild „Île de la cité in Paris“, kreieren eine ganz einzigartige Stimmung und lassen die Stadt distanziert zurück. Parallel dazu gibt es in einer der Vitrinen eine Fotografie, die Bowien in dickem Mantel und mit Baskenmütze auf der Nachbarbrücke, Pont des arts, vor einer Staffelei sitzend zeigt. Der Pinsel gehalten wie einen Taktstock, die Leinwand berührend, um sich von rechtsoben nach linksunten über das Bild zu arbeiten.
Zu jenem Zeitpunkt, 1964, hat Bowien schon ein bewegtes Reiseleben hinter sich, denn seine Werke wurden von den Nationalsozialisten als „Bilder minderwertiger Kunsterzeugnisse“ eingestuft und die Verbreitung war untersagt – was einem Berufsverbot gleich kam – wie ein Schreiben der Reichskammer der Bildenden Künste aus dem März 1944 dokumentiert.
So liest sich die Biografie Bowiens wie ein Reise- und Migrationsbericht.
„Finanzielle Unsicherheit, gesellschaftliche Zwänge oder Krieg zwingen Menschen dazu, ihre Heimat zu verlassen. Erwin Bowien musste ab 1933 bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs mehrfach seinen Wohnort wechseln, da er aufgrund fehlender Papiere und seiner entschiedenen Haltung gegen den Nationalsozialismus der drohenden Verhaftung ausgesetzt war“, lautet es auf einem der Wandtexte.
Ausstellungsansicht, Bilder von Bowien und Vitrine mit Dokumenten. Foto: Claus Friede
Bettina Heinen-Ayech ist die Expressivste der drei Maler. Ihr Temperament spiegelt sich im Duktus und in der Farbigkeit wider. Ihre großformatigen Aquarelle sind beeindruckend intensiv. Sie scheut weder plakative, kräftige Ansätze noch detailgetreue Landschafts-, Stadt- und Menschengruppenwiedergaben. Rot- und Grüntöne als komplementäre Komponenten erzeugen eine eigene Wirklichkeit. Zudem lässt sie die Farben nicht ineinander verlaufen, sondern setzt einzelne Farbfelder voneinander ab, die sie in weiteren Arbeitsschritten intensiviert und damit räumliche Tiefe generiert.
Sie studiert an der Werkkunstschule in Köln, an den Kunstakademien in München und Kopenhagen, später in den frühen 1960er Jahren, nimmt sie auf Einladung an der Winterakademie im ägyptischen Luxor teil. Von den Künstlerkolleginnen und den weiblichen Modellen ist Heinen-Ayech sehr fasziniert und so malt sie die Frauengruppe.
Bettina Heinen Ayech: Mädchen in der Wüste (bei Luxor in Ägypten), 1962, Aquarell auf Papier, 72,5x101,5cm. Privatbesitz
„Nie vergesse ich die roséfarbige Küste Nordafrikas, wie ich sie vom Schiff aus gesehen habe. Dieser Anblick gab mir das Gefühl, in ein Zauberland anzukommen. I...] Ich suchte die spezifische Farbe zu erfassen, die teils durch das unglaubliche Licht Nordafrikas kommt, aber auch in sich stärker als jede europäische Farbigkeit ist." Bettina Heinen-Ayech
Der Maghreb hat es ihr angetan, sie heiratet Abdelhamid Ayech, zieht schließlich mit ihm nach Algerien und bereist in ihrem mobilen Atelier – einem umgebauten Renault R4 – das Land. Gerade ihre Algerien-Bilder sind von einer bezaubernden Intensität, feiner Beobachtungsgabe und der Kenntnis von Licht und Farbe geprägt.
Amud Uwe Millies und Erwin Brtowien, 1964. © Dr. Haroun Ayech
Amud Uwe Millies, ein Hamburger Jung‘, muss bereits als Schulkind die Hansestadt verlassen und wird qua „Kinderlandverschickung“ in Oberbayern vor dem Bombenkrieg geschützt. Er, der Ingenieur, der den elterlichen Kronkorken-Betrieb in Hamburg übernehmen soll, wendet sich, nachdem er Bowien und Heinen auf Sylt kennenlernt, nur noch der Malerei zu. Auch ihn zieht es nach Solingen ins „Schwarze Haus“, das war 1955. Bowien erhält seinen nächsten Schüler und fördert ihn in der Suche nach einem eigenen Stil. Zunächst reist man gemeinsam, ab 1973 zieht es Millies in ferne Länder: nach Ägypten, in den Himalaya nach Indonesien sowie nach Mexiko und Peru.
Anfangs war der Schüler malerisch noch seinem Lehrer ähnlich, doch ab den 1970ern werden Millies Bilder lichter, leicht, fast pastellartig, pointillistischer, obwohl sie in Öl auf Leinwand gemalt sind.
Die drei Maler der Künstlerkolonie Solingen sind es wert, wiederentdeckt worden zu sein, und die Ausstellung macht deutlich, dass es sich immer lohnt, auch abseits des Mainstreams, die Augen offenzuhalten und zu entdecken.
In der Welt unterwegs – Die Künstlerkolonie Solingen
Zu sehen bis 27. April 2025 in der Gemäldegalerie Dachau, Konrad-Adenauer-Str. 3, in 85221 Dachau.
Öffnungszeiten: Di.–Fr. 11– 7 Uhr, Sa., So., Feiertag 13–17 Uhr
- Weitere Informationen (Gemäldegalerie Dachau)
- Weitere Informationen (Bettina Heinen-Ayech Foundation)
- Weitere Informationen (euroArt)
Es ist ein Katalog zur Ausstellung erschienen:
In der Welt unterwegs. Die Künstlerkolonie Solingen / Travelling the world. The Solingern Artists‘ Colony
80 Seiten, dt. / engl.
ISBN: 978-3-949603-07-7
Lesen Sie zu dem Thema bei KulturPort.De:
Faszination Nidden. Eine Künstlerkolonie zwischen Ostsee und Kurischem Haff
Geschrieben von Claus Friede - Montag, 18. September 2023
Lichtwarks Heidegarten und die Hittfelder Landhauskolonie
Geschrieben von Ruth Asseyer - Montag, 19. Februar 2024
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