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Christoph Eschenbach ist ein großartig musizierender Dirigent! Ab dem ersten Einsatz scheint er nur ein Ziel zu verfolgen: die Partitur angemessen und für das Publikum verständlich zum Klingen zu bringen.

Vollkommen uneitel, in liebevoller Einfachheit, aber in stiller Leidenschaft. Es ist faszinierend zu erleben, wie freundschaftlich-weise-hilfreich, wie fern und frei von jeglichen Eitelkeits- oder Bevormundungsallüren der 84-Jährige beim Schleswig-Holstein Musikfestival die jungen Musiker des Festival-Orchesters durch die Probenarbeit und einen Konzertabend führt.

 

Das führt zu konzertanten Feinheiten, die wiederum zu einem beglückenden Ergebnis für alle führen - für Ausführende und Zuhörende gleichermaßen. So geschehen beim Konzert des Schleswig-Holstein Festivalorchesters unter der Leitung von Christoph Eschenbach in der Elbphilharmonie in Hamburg mit der Solo-Cellistin Alisa Weilerstein.

 

Musizierlust und Lebensfreude

Wer (zumindest) einen Part der intensiven einwöchigen Probenarbeit des Festivalorchesters mit Christoph Eschenbach in der Thormannhalle in Rendsburg/Büdelsdorf miterlebt hat, den begeistert die (auch beim Konzert in der Elbphilharmonie) spürbare gleichberechtigte Verständigung zwischen Dirigent und Orchester, das Verschwinden von Altersunterschieden, die Atmosphäre heiterer Ernsthaftigkeit. Entsprechend begeisternd ist dementsprechend auch das Ergebnis dieser Probenarbeit: Pulcinella klingt nun durchsichtig, witzig, von neobarocker Lebensfreude durchdrungen und dank der Concerto-grosso-Anlage des Stücks trotz des großen Orchesterapparats erstaunlich kammermusikalisch. Und wie gelingt Eschenbach das? Durch präzise Artikulation, genaues Anzeigen von Rhythmus-Takt-Spannungen, vor allem aber durch höchste dynamische Differenzierung, z.B. das konsequent durchgeführte decrescendo nach einem sfz-Impuls. So entsteht am Konzertabend, der mit der Pulcinella-Suite von Igor Strawinsky begann, beim fantastischen Orchester hohe Musizierlust und beim Publikum Lebensfreude. Ganz entscheidend für den großartigen Erfolg sind die Streicher-Solist*innen, allen voran die schon jetzt vollkommen scheinende junge kanadische Konzertmeisterin Anaïs Saucier-Lafond.

 

Ballett Pulcinella – Suite Pulicinella

Strawinsky hatte das Ballett Pulcinella für Les Ballets Russes nach dem großen Triumph von Der Feuervogel und dem großen Skandal von Le sacre du printemps geschrieben. Im Mai 1920 begeisterte das Ballett Pulcinella das Pariser Publikum in einer neuen Premiere des Ballets Russes mit dem legendären Impresario Sergej Diaghilew. Léonide Massine kreierte die Hauptrolle, entwarf Libretto und Choreografie. Ernest Ansermet stand am Dirigentenpult. Pablo Picasso gestaltete Bühne und Kostüme. Im Dezember 1922 folgte dann die Uraufführung der Pulcinella-Suite in Boston. In der Suite werden die Gesangsrollen durch Instrumentalpassagen ersetzt. Während das einaktige Ballett 21 Ausschnitte hat, besteht die Suite nur aus acht Sätzen (Sinfonia, Serenata, Scherzino, Tarantella, Toccata, Gavotta, Vivo und Minuetto). Musikalisch gespielt wird mit den typischen Verwechslungen und Intrigen der Commedia dell’arte, mit denen der gewitzte Pulcinella durch die Handlung purzelt: Eifersüchtige Rivalen trachten ihm nach dem Leben, doch Pulcinella schickt sein Double in den Kampf. Den vermeintlich Toten erweckt er in der Verkleidung als Zauberer wieder zum Leben und heiratet schließlich seine Geliebte Pimpinella. Der Komponist selbst äußerte sich später so: „Pulcinella war meine Entdeckung der Vergangenheit, die Erleuchtung, durch die mein gesamtes Spätwerk möglich wurde. Es war natürlich ein Blick zurück – der erste von vielen Liebesaffären in diese Richtung –, aber es war auch ein Blick in den Spiegel“.

 

Atemraubendes Spiel

Im dann laut Programm folgenden berühmten Cellokonzert von Antonín Dvořák - eines der populärsten Werke seiner Gattung – brillierte die virtuos aufspielende amerikanische Cellistin Alisa Weilerstein und das Orchester begleitete klangvoll.

 

2006 bekam sie als erste Cellistin den Leonard Bernstein Award verliehen. Inzwischen tritt sie weltweit auf und wird für ihre herausragende Musikalität und ihre interpretatorische Tiefe überall gefeiert. Atemraubend ist das portamento gefärbte, fingerbrecherische Spiel der Solistin – und doch bleibt Raum, an Casals und dessen Glaubenssatz zu denken: „Kunst und Menschlichkeit sind untrennbar!“ Rauschender Applaus für die Bravour-Leistung und die Zugabe der Sarabande aus der Suite Nr. 4 für Cello von J.S. Bach.

 

Alisa Weilerstein F marco borggreveAtem, Hauch, Seele

Nach der Konzertpause in der Hamburger Elbphilharmonie dann die krönende Vollendung des Abends mit der sogenannten „Unvollendeten“ von Franz Schubert.

 

Nach über 30 Jahren beim Festivalorchester dirigierte Christoph Eschenbach, seit 2004 Principal Conductor des SHMF-Festivalorchesters, das erste Mal eine Sinfonie Franz Schuberts: Die Unvollendete – ein Werk, das wie das Cellokonzert in h-Moll steht. Eschenbach führt hier das Orchester (und das Publikum) aus der Atemlosigkeit in die von Atem getragene Liedhaftigkeit des Komponisten der Winterreise. Atem, Hauch - durchaus verstanden als Seele, von Luther als Odem in die religiöse Sphäre gehoben. Und dann beginnt er: der sakrale Teil des Abends.

 

Zeitgenössische Zeitenwende

In äußerst beeindruckend großflächig ausmusizierten Spannungsbögen, in schlichten, aber feierlichem Tempo, führt uns Eschenbach behutsam an den Abgrund des Themenendes, lässt es in einem ppp kaum noch hörbar aushauchen, um dann, nach der berühmten Generalpause uns in aller Härte vorzuführen, dass es sehr wohl noch weitergeht. Ungebändigter, zeitgenössischer lässt sich diese Zeitenwende nicht darstellen im Sprung von h-moll nach c-moll! Die Kraft aus diesem Harmonie-Dynamik-Schock kann Eschenbach bis in den 2. Satz hinübertragen, dessen Schluss in E-Dur wie der Schluss eines Requiems für die Menschheit in alle Ewigkeit weiterzustrahlen scheint, auch nach dem Verklingen. Nach einer Ewigkeit der Stille stehender Applaus eines sichtlich gerührten Publikums. Ein großer Abend!

 

Weilerstein Esachebach F Marion Hinz

Christoph Eschebach bedankt sich bei Alisa Weilerstein zum Abschluss des Konzerts. Foto: Marion Hinz


Meisterwerke

Das Schleswig-Holstein Musik Festival am 19. August 2024 in der Elbphilharmonie Hamburg

Mit:

Alisa Weilerstein, Violoncello
Schleswig-Holstein Festival Orchestra
Christoph Eschenbach, Dirigent

 

Igor Strawinsky:Pulcinella-Suite
Antonín Dvořák: Cellokonzert h-Moll op. 104
Franz Schubert: Sinfonie Nr. 7 h-Moll D 759 »Unvollendete«

 

Weitere Informationen (SHMF)

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