Meinung

Ich will nicht über dieses Violinkonzert in D-Moll, Op. 77 von Johannes Brahms (1833–1897) aus dem Jahr 1878 sprechen. Allenfalls möchte ich, in einer Art Summary, die Grundtöne der drei Sätze kurz in Erinnerung rufen.

 

Im 1., Allegro non troppo überschriebenen Satz, ist ein ins Extreme gesteigerter Schrei des Schmerzes und der Verzweiflung sozusagen omnipräsent. Wobei der unerhört zaghaft-sanft-flehende Eintritt des Orchesters im Anschluss an die Solokadenz die Grundstimmung des 2. Satzes in nuce antizipiert. Der 2. Adagio-Satz ist ein auf Grund seiner Herzinnigkeit ebenfalls schmerzhafter (Liebes-) Dialog zwischen der Oboe (der Querflöte und dem Fagott) und der Violine. Das Allegro giocoso, ma non troppo vivace überschriebene Finale ist ein mit eruptiver Macht und begeisternder Verve herausplatzender Teufelstanz ungarischen Charakters.

 

In summa: Brahms hat in diesem Konzert drei Grundstimmungen menschlichen emotionalen Befindens mit einer ungeheuren Intensität in Töne gesetzt, derart, dass das so oder so Tumultarische des Sanften – ein Paradoxon – oder der explosiv hervorbrechenden Verzweiflung dem aufnahmebereiten Rezipienten, ob er will, oder nicht, die Tränen in die Augen schließen lässt.

 

Johannes Brahms

Johannes Brahms. Foto: gemeinfrei

 

Dazu gehören aber stets und wie auch nicht vier teilnehmend Betroffene. Zuerst und vor allem der Komponist selbst. Dann, dieses Falls, der US-amerikanische Dirigent Alan Gilbert, das NDR Sinfonieorchester Hamburg und schließlich und nicht zuletzt die japanische Violinistin Sayaka Shoji, auf die sich, was gleich seine Erläuterung finden soll, die Überschrift bezieht.

 

Diese vier haben sich am 10.12.2005 in der NHK Hall in Tokio ‚zusammengefunden‘, um dieses Konzert Ereignis werden zu lassen. Sayaka Shoji befand sich zu diesem Zeitpunkt am Ende ihres 23. Lebensjahrs, war also keineswegs mehr ein Kind. Und ein Kind könnte auf gar keinen Fall die Gefühlsextreme dieser Komposition weder empfinden noch zum Erklingen bringen. Um dazu vermögend zu sein, bedarf es einer hochsensiblen Reflektiertheit und intellektuellen Reife, die in der Regel – leider! – bei kaum einem Erwachsenen vorauszusetzen ist. Von der Hoch- und Höchstkompetenz am Instrument ist hier noch und überhaupt nicht die Rede.

 

Das Frappierende an dem Spiel dieser Violinistin besteht darin, dass sie eine Synthese des Entgegengesetzten und eigentlich nicht zu Vermittelnden zuwege bringt. Ihr Spiel, das sich in ihren Gesichtszügen, ihrer Mimik, ihrer Bewegung dezent manifestiert, ist wirklich das eines Kindes, das sich selbstvergessen in seiner Wunder- und Zauberwelt verliert. Sie spielt mit einer schlafwandlerischen Sicherheit und Hingabe, die für das selbstvergessene Spiel von Kindern charakteristisch sind, und die sich – wiederum und erneut: leider! – im Älterwerden ganz schnell verlieren. Aber diese Unmittelbarkeit intensivster Hingabe ist, und darin besteht das Wunder ihres Spiels, mit einer Bewusstheit verbunden und gepaart, die der unreflektierten Hingabe eigentlich widerstreitet.

 

Sayaka Shoji besitzt in und vermittelst ihres Spiels die Fähigkeit, die eigentlich verlorene Unmittelbarkeit kindlichen Spiels auf einer hochintellektuellen und -reflektierten Stufe, also dem Künstlichsten, wieder auferstehen, aufleben zu lassen. Das Künstlichste findet zu seinem Ursprung, der Verlorenheit im Spieluniversum des Kindes, zurück. Und das ist ein Wunder, an dem teilzunehmen all denjenigen vergönnt ist, die sich dieses Konzert, ohne Wenn und Aber anzuhören bereit und in der Lage sind.

 

Wobei ich darauf zu achten bitte, wie dieser in seiner Musik verlorene Mensch, vor allem am Ende des 1. Satzes, nachdem die letzte Note verklungen ist, in die unverstellte Glücks- und Freude-Welt ihres Kindseins zurückfindet. In diesem unscheinbaren Augenblick löst sich das Hochkünstlerische in die natürlichste Unmittelbarkeit des unbedarften Bei-sich-selbst-Seins auf, findet mit einem beseligten, beseligenden Lächeln des Erstaunens in es zurück.

 

Und das heißt, dass es zwei Arten des schlafwandlerischen Marionettendaseins gibt. Dasjenige, das sich unmittelbar mit der Welt auf eine differenzlose Weise eins weiß, bzw. diese Identität bar jeder Reflektiertheit ist, und folglich gerade nicht um sie weiß, weil das Wissen es aus dieser Identität herausrisse – und das ist wohl der wahre Sinn dessen, was Heimat meint –, und dasjenige, das gerade in höchstem, künstlerisch-künstlichem Selbstverlust zu sich selbst (zurück-) findet, indem es sich mit seinem eigentlich längst verlorenen Ursprungsextrem zusammenschließt. Das Glück und die Freude des Nicht-mehr- und Doch-wieder-Kindseins.

 

Abschließend noch dies: Was an diesem Beispiel in Worte zu fassen gesucht wurde, lässt sich, pars pro toto, auf sämtliche Einspielungen dieser Violinistin ‚anwenden‘. Sayaka Shoji ist ein Geschenk an die Menschheit von ganz weit her; aus dem Land der Kinder, das, günstigstenfalls und wenn es gut läuft, eines des (verlorenen) Paradieses ist; und aus dem Land derjenigen Kinder, die, hochreflektiert und mit äußerster Intellektualität begabt, das wiedergefundene Kindsein in zweiter Potenz verkörpern. Wie Wolfgang Amadeus Mozart oder Albert Einstein, um nur zwei Beispiele zu nennen.

 

„Wir lieben“ in den Kindern „das stille schaffende Leben, das ruhige Wirken aus sich selbst, das Dasein nach eignen Gesetzen, die innere Notwendigkeit, die ewige Einheit mit sich selbst. Sie sind, was wir waren; sie sind, was wir wieder werden sollen. Wir waren Natur, wie sie, und unsere Kultur soll uns, auf dem Wege der Vernunft und der Freiheit, zur Natur zurückführen. Sie sind also zugleich Darstellung unserer verlorenen Kindheit, die uns ewig das Teuerste bleibt; daher sie uns mit einer gewissen Wehmut erfüllen. Zugleich sind sie Darstellungen unserer höchsten Vollendung im Ideale, daher sie uns in eine erhabene Rührung versetzen.“ (Friedrich Schiller, Über naive und sentimentalische Dichtung)

 

Sayaka Shoji hat in ihrer Kunst das Wunder wirklich werden lassen, die verlorene Kindheit in der und durch die höchste(n) Vollendung zu sich selbst zurückfinden zu lassen. Was, nicht nur in der Kunst, wohl das höchstmöglich zu Erreichende ist.


Johannes Brahms: Violinkonzert in D-Moll, Op. 77

 

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Sayaka Shoji plays Brahms: Violin Concerto in D major, Op.77 (43:41 Min.)

 

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Geschrieben von Frank-Peter Hansen - Freitag, 22. März 2024

 

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