Was passiert, wenn während eines Konzertauftritts die Saite eines Streichinstruments reißt? Ich erinnere mich an zwei Fälle, bei denen dieses Malheur passiert ist. Der Cellistin Jacqueline du Pré, die 1967 den Pianisten und Dirigenten Daniel Barenboim ehelichte, ist zu Beginn eines Satzes die Saite gerissen.
Sie verließ daraufhin die Bühne, um – das Ganze dauerte in etwa fünf Minuten – eine neue Saite aufzuziehen.
Der lettischen Violinistin Kristīne Balanas ist exakt dasselbe ‚Missgeschick‘ passiert. Was tat sie? Sie schnappte sich kurzerhand in Windeseile und mit frappierender Geistesgegenwart das Instrument des zunächst überraschten und gleich anschließend sichtlich amüsierten Konzertmeisters und beendete auf seinem Instrument den Solopart des Konzerts.
Sayaka Shojis Reagieren auf eine Unwägbarkeit ist nicht ganz so dramatisch verlaufen. Bei dem Konzert vom 03.02.2008 im Centre des Congrès de Nantes in Frankreich unter der musikalischen Leitung Jacek Kaspszyks, bei dem das Rondo für Violine und Streichorchester A-Dur, D 438 Franz Schuberts auf dem Programm stand, bestand bei der Schulterstütze auf der linken – und auch auf der rechten – Seite von Beginn an die Gefahr, dass sie sich vom Instrument lösen würde. Und so geschah es dann ja auch. Zunächst versuchte die japanische Violinistin, das Problem in einer kurzen Spielpause, in der nur das Orchester tätig war, zu beheben.
Unterbrach dann aber doch ihr Spiel – und, was besonders frappierte, das Orchester der Streicher hielt exakt in diesem Moment gleichfalls, wie aufs Stichwort, mit seinem Spiel inne, obwohl der Dirigent von seinem Standort aus das sich anbahnende ‚Unglück‘ gar nicht kommen sehen konnte. Es sei denn, der erste missglückte Versuch hatte – ein kurzer Blickkontakt sorgte für Aufmerksamkeit – für das, was im Raum stand, die Sinne bereits geschärft.
Das sind drei Beispiele, die dafür stehen, dass bei Live-Auftritten Unvorhergesehenes jederzeit passieren kann. Das deswegen auch nicht der Rede wert wäre. Der Rede wert ist meines Erachtens aber, wie die je auf ihre Weise an dem konzertanten Auftritt Beteiligten auf diese Überraschung reagieren. Das Stichwort lautet: Souveräne Gelassenheit. In einer Situation mehr, in einer anderen weniger. Vor allem im zuletzt genannten Fall mit der Schulterstütze fallen mir für die Reaktion Sayaka Shojis diese Worte zwecks Charakterisierung ein: Ihr Gesicht erstrahlte in einem rührend unschuldigen, sich entschuldigenden, herzerwärmendem, liebevollen Lächeln.
Dass bei diesem Konzert darüber hinaus bei einem/einer der Streicher(innen) auch noch die Seite gerissen ist und zwischen dem Gesehenen und dem zu Hörenden eine geringe Differenz zum ‚Nachteil‘ des zu Sehenden bestand – freilich lediglich ein Problem bei der audio-visuellen Übertragung –, sei am Rande auch noch vermerkt.
Violine und Schulterstütze. Foto: Pixabay. CC BY-SA 2.0 DE
Aber jetzt komme ich zum Eigentlichen. Da sich die Saite des Cellos zu Beginn des Satzes verselbständigte, war der Neueinsatz im Anschluss an die Reparaturmaßnahme ein wie selbstverständlich gegebener. In den beiden anderen Fällen passierte das nicht Vorherzusehende – obwohl im Fall der Schulterstütze die Violinistin längst bemerkt hatte, dass etwas im Argen lag – mitten im Satz. Dass die berufsmäßig Konzertierenden ausnahmslos auf einem Niveau ihr Instrument beherrschen, das sie souverän mit derartigen Situationen umgehen lässt, versteht sich von selbst. Was aber stutzig macht, das ist, dass die Musik darunter keinen erkenn- oder spürbaren ‚Schaden‘ nimmt. Im Anschluss an die Zwangspause geht es exakt so weiter, wie davor, gerade so, als ob gar nichts von Belang vorgefallen wäre.
Und das lässt den Verdacht aufkommen, dass die sich in der gesamten Darbietung manifestierende Intensität lediglich eine womöglich vorgetäuschte ist. Oder anders gefragt: Ist das, was an Gefühlen in der Komposition präsent ist, in seiner Reproduktion etwas mechanischer Weise Angelerntes und sozusagen jederzeit, egal wann und wo, Abrufbares? Was im Extremfall darauf hinausliefe, dass es sich bei dem transportierten Gefühl in all seinen Schattierungen um etwas Scheinhaftes, Fingiertes handelt.
Zwar ist natürlich auch die tönende Kunst in der Region des (schönen) Scheins beheimatet. Aber der Schein, der hier zur Diskussion steht, ist ein potenzierter oder reflektierter Schein. Und in dieser Reflektiertheit der Wiedergabe hat das – aufgesetzte – Virtuosentum tatsächlich etwas Verlogenes, gerade weil es der Komposition auf eine lediglich äußerliche Weise dann eben doch nicht genügt, entspricht oder konform ist.
Anders problematisiert: Ist es möglich, auf der Basis souveräner Könnerschaft, Intensität täuschend echt zu realisieren? Ist diese Intensität das Produkt eines mechanisch ablaufenden, abgelaufenen Lernprozesses, gerade so, wie der Educandus unter der Aufsicht und unter Anleitung des Pädagogen sich den Lernstoff gedächtnisgestützt geist- und begriffslos – ein Akt der Dressur – einpaukt?
Freilich, ich mag das nicht glauben, jedenfalls nicht hinsichtlich derjenigen Musiker, die ihrer Kunst mit heißem Eifer und bar jeder Affektiertheit ergeben sind, indem sie sich mit ihrer Kunst zum dienenden Werkzeug der kompositorischen Vorgabe machen. Und dennoch, es hat etwas Verwirrendes zu sehen, dass wie auch immer motivierte Einschnitte im Lauf der Darbietung trotzdem nie dazu führen, dass der musikalische Faden in seiner tief auslotenden Innigkeit reißt. Ist die Identifikation derart intensiv, dass selbst ein Bruch es nicht vermag, die Musizierenden ihrer tönenden, klanglichen Traumwelt momentweise zu entfremden? Es wäre trostreich, wenn dem so wäre. Denn bestünde der Verdacht des Aufgesetzten vor wie nach, die Freude und das Glück des Rezipienten wäre wohl verloren oder in Gefahr, verloren zu gehen, wenn er davon ausgehen müsste, dass es sich bei dem schönen Schein um etwas in Wahrheit Scheinhaftes handelt.
„Was wird von Dichtern höher gepriesen, als der bezaubernd schöne Schlag der Nachtigall in einsamen Gebüschen, an einem stillen Sommerabende, bei dem sanften Lichte des Mondes? Indessen hat man Beispiele, daß, wo kein solcher Sänger angetroffen wird, irgendein lustiger Wirt seine zum Genuß der Landluft bei ihm eingekehrten Gäste dadurch zu ihrer größten Zufriedenheit hintergangen hatte, daß er einen mutwilligen Burschen, welcher diesen Schlag (mit Schilf oder Rohr im Munde) ganz der Natur ähnlich nachzumachen wußte, in einem Gebüsche verbarg. Sobald man aber inne wird, daß es Betrug sei, so wird niemand es lange aushalten, diesem vorher für so reizend gehaltenen Gesange zuzuhören; und so ist es mit jedem anderen Singvogel beschaffen. Es muß Natur sein, oder von uns dafür gehalten (nämlich in der Kunst; siehe den Schlussabsatz, F.-P.H.) werden, damit wir an dem Schönen als einem solchen ein unmittelbares Interesse nehmen können…“ (Immanuel Kant)
Wobei die Sache noch dadurch verkompliziert wird, dass es sich in unserem Fall ja gerade nicht um die Nachahmung eines Naturlautes handelt, sondern um Kunst, die sich als Kunst zu erkennen gibt und also nicht vortäuscht, etwas anderes zu sein, als sie ganz offensichtlich ist. Vielleicht ist vor diesem Hintergrund Schillers Gedanke der Wegweiser aus der potenzierten Scheinwelt, dass, wie es ungefähr heißt, Kunst zwar selbstredend ein Machwerk, und insofern – eine Tautologie – künstlich ist, aber in ihrem Erscheinen Natur zu sein scheint. Denn dieser Schein wäre eine sozusagen künstlich erzeugte Natürlichkeit, die sich zu ihrem Erzeugt-sein bekennt. Und die Kunst bestünde gerade darin, den Schein der Natürlichkeit auf eine authentisch wirkende Art zu erzeugen, wodurch sie zwar nicht aufhörte, künstlich erzeugt zu sein, dieses ihr Erzeugt-sein aber vergessen ließe. Welches Vermögen vermutlich (und hoffentlich!) das Vermögen der professionell Konzertierenden ist. So dass – ein klassisches Paradoxon – das letztlich eben doch Unauthentische das Authentische authentisch zu sein scheint. Diese Art des Scheins ist in keiner Kunst, qua Kunst, zu liquidieren. Sie muss also mit diesem Schein zu leben und umzugehen wissen.
Über den Umgang mit Malheurs während eines Konzerts
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Sayaka Shoji plays Schubert: Rondo for violin and strings in A major, D.438 (arte live; 15:29 Min.)
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