Mit dem Roman „Oben Erde, unten Himmel“, der jetzt im Wagenbach Verlag auch als Taschenbuch vorliegt, ist der Schriftstellerin Milena Michiko Flašar wieder ein Meisterstück subtiler Erzählkunst gelungen.
Die Protagonistin und Ich-Erzählerin Suzu ist 25 Jahre alt und lebt in einer japanischen Großstadt. Nur ein Hamster leistet ihr in ihrer kleinen Erdgeschoßwohnung Gesellschaft. Sie ist gerne allein.
Die Erwartungen ihrer Eltern, die weit entfernt wohnen, hat sie enttäuscht, weil sie ihr Studium schon nach einem Semester aufgegeben hat. Sie kellnert nun in einem Familienrestaurant, einem sogenannten „FamiResu“, immer korrekt gekleidet und ausdauernd lächelnd. Über ein Dating-Portal findet sie ab und an flüchtige Bekanntschaften. Nur mit einem jungen Mann – sie nennt ihn „Kotaro067“ - scheint es anders zu sein. Suzu verliebt sich, es entwickelt sich eine konstante Beziehung. Doch nach drei Monaten bricht „Kotaro067“ unvermittelt den Kontakt ab, er „ghostet“ Suzu. Sie ist verletzt.
Kurz danach verliert sie auch noch ihren Job. Einen Boden wischen könne sie hervorragend, meint ihr Chef, aber: es fehle ihr beim Servieren „das soziale Plus“. Er rät ihr, sich einen Job zu suchen, bei dem sie möglichst wenig mit Menschen zu tun habe. Obwohl: „Ihr Lächeln, sagte er zum Schluss, ist übrigens 1a.“ Suzu muss sich eine neue Arbeit suchen und schreibt zahlreiche Bewerbungen.
Bis hierhin erleben wir mit Suzu eine moderne, unscheinbare Großstadtexistenz, die sich überwiegend in anonymen Räumen und Beziehungen bewegt: dem Dating-Portal, Spielhallen, Internetcafés, Hotelzimmern, dem FamiResu. Sie hat keine Freunde. Ihre direkten Wohnungsnachbarn, ein altes Ehepaar, hört Suzu zwar miteinander sprechen und um die Fernbedienung streiten, grüßt sie aber nur höflich. Sie schafft mit ihrem höflich-korrekten Verhalten eine Distanz, die in Beziehungslosigkeit gipfelt. Suzu verharrt dabei in einem merkwürdigen Gemütszustand zwischen Resignation und Verweigerung.
Das beginnt sich unmerklich zu ändern durch die Begegnung mit Herrn Takai, ihrem neuen Chef, der sie und den jungen Mann Yūto gleichzeitig als neue Arbeitskräfte in seiner Reinigungsfirma anstellt - angeblich, weil sie zufällig den gleichen Nachnamen haben: Takada. Herr Takais Firma reinigt die Leichenfundorte und kümmert sich um den Nachlass von „Kodokusha“. So bezeichnet man in Japan einsam Verstorbene, deren Leiche lange Zeit in ihrer Wohnung unentdeckt bleiben, ein unter dem Begriff „Kodokushi“ weit verbreitetes Phänomen. Nachdem die Behörden einen Toten abtransportiert haben, beseitigen Herr Takai und sein vierköpfiges Team die Spuren der Verwesung, die der „Kodokusha“ in seiner Wohnung hinterlassen hat: Leichenflüssigkeit, Hautfetzen, Maden, Fliegen und die Gerüche. Der Hausrat - soweit noch brauchbar – wird gesammelt und verkauft, der Rest vernichtet. Herr Takai stellt jedes Mal aus einigen persönlichen Gegenständen der Verstorbenen eine Erinnerungsbox zusammen, die er den Angehörigen in der schließlich vollständig leeren und sauberen Wohnung übergibt. Meist rechtfertigen diese sich dann, warum sie keinen Kontakt mehr zu dem Vater, Bruder oder der Tante gehabt haben.
Die ganze Prozedur der Reinigung und Übergabe ist eine einzige Geste des Respekts gegenüber den Toten. Zum Beispiel: bevor Herr Takai eine Wohnung betritt, spricht er zu dem verstorbenen Bewohner oder der Bewohnerin, sei es, um deren „Geist“ auf sein Eindringen vorzubereiten oder sein Team auf die bevorstehende Arbeit einzustimmen. Es ist nicht wichtig, ob oder wie viel spirituelle Bedeutung man den verschiedenen Ritualen beimisst, die die Reinigung begleiten. Wichtig ist für Herrn Takai nur, dass sie dem Vorgang Würde verleihen und einen letzten Liebesdienst an den Verstorbenen darstellen in einer Welt, in der sie schon lange vergessen sind.
Ob es an der speziellen Arbeit liegt, die in einem Zwischenbereich von Leben und Tod stattfindet und daher eine neue Perspektive auf Menschen und ihre private Persönlichkeit eröffnet, oder an der entschiedenen Art, wie der gesprächige und kettenrauchende Herr Sakai sein Team leitet: Suzu beginnt, sich innerhalb eines Jahres zu verändern und ihre unangreifbare, unauffällige Haltung aufzugeben. Teil der Arbeit ist am Ende immer der gemeinsame Besuch eines traditionellen japanischen Badehauses, ein sogenanntes „Sentō“, um den Leichengeruch zu vertreiben, der sich trotz Schutzanzüge auf die Haut gelegt hat. Auch das Nudellokal von Master Chen, in das Herr Takai seine neuen Angestellten nach dem Bad eher nötigt als einlädt, ist kein anonymer Großstadtort wie eine kapitalgetriebene Fastfood-Kette, sondern eine Art Nachbarschaftskantine, die durch die Kochkunst und Persönlichkeit ihres Betreibers Master Chen geprägt ist. Der Chinese bietet auf seiner speckigen Speisekarte nur drei Gerichte an: Tantan-men (spezielle chinesische Nudelsuppe), Gyoza (gefüllte Teigtaschen) und tausendjährige Eier, die aber von einer Qualität, der Herr Takai heilende Wirkung zuschreibt.
Durch Herrn Takai lernt Suzu, dass schon kleine Gesten viel verändern können, wie z.B. der Austausch von Telefonnummern und Adressen unter Arbeitskollegen, damit man herausfinden kann, warum jemand plötzlich nicht mehr kommt, weil er vielleicht schwer krank zu Hause liegt und sich nicht mehr rühren kann. Das feine Gespür für den Unterschied zwischen dem Respekt vor der Privatheit der Mitmenschen und der Gleichgültigkeit gegenüber ihrem Schicksal scheint bei Suzu und vielen anderen beim Übergang vom traditionellen in das moderne Leben irgendwie verloren gegangen sein.
Es ist spannend, Suzu dabei zuzusehen, was sie bei ihrer Arbeit über das Leben der anonym Verstorbenen erfährt, und wie sie ihren Drang, unsichtbar zu bleiben, schrittweise überwindet - ohne unhöflich zu werden. Sogar gegenüber ihren Eltern schafft sie es zu erklären, warum sie ihre neue Arbeit schätzt und mag und weder daran denkt, schnell zu heiraten noch zu studieren.
Milena Michiko Flašar beschreibt präzise und mit feinem Humor das soziale Leben einer japanischen Großstadt, das sich in Straßenfluchten, Büros, Einkaufszentren, Snack- und Karaoke-Bars, Spielhallen und Internetcafés abspielt, und wo die Geschichten ihrer Bewohner sich in wenigen Zeichen in den Wohnungen manifestieren. Einmal stehen Suzu und ihr Arbeitskollege Yūto auf dem Dach von Suzus Mietshaus und blicken über das Häusermeer, in dem die Menschen in den wabengleich kleinen Wohnungen ihren privaten Verrichtungen nachgehen: gleichzeitig und dicht nebeneinander, ohne viel voneinander zu wissen. Einen kurzen, flüchtigen Augenblick teilen die beiden das seltene Erlebnis von Himmel, Weite und, ja, fast möchte man sagen: Verbundenheit mit ihrer Stadt.
Milena Michiko Flašar: „Oben Erde, unten Himmel.“
Wagenbach Verlag Quartbuch 2023.
Roman.
Taschenbuch 1924
ISBN 978-3-8031-3353-3
Weitere Informationen (Verlag)
Nächster Termin einer Lesung mit Milena Michiko Flašar:
Mittwoch, 22. Januar 2025, 19:30 Uhr
Oben Erde, unten Himmel
Experiment Literatur – Milena Michiko Flašar & Daniel Wisser
Alter Schlachthof
Dragonerstraße 22
A-4600 Wels/Österreich
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