Täuschen, tricksen, Fake News verbreiten. Im Zeitalter von Internet und KI haben wir uns längst daran gewöhnt, nicht mehr alle Informationen für bare Münze zu nehmen.
Doch die Manipulation von Wahrnehmung ist beileibe keine neue Erfindung, ihre Geschichte reicht bis in die Antike. Die enorme Bandbreite an Scheinwelten und Sinnestäuschungen fächert nun die epochenübergreifende Ausstellung „Illusion. Traum – Identität – Wirklichkeit“ in der Hamburger Kunsthalle auf.
Visualisierungen künftiger Häuser oder Straßen auf Planen vor Großbaustellen sind mittlerweile so geläufig im Stadtbild, dass man kaum noch auf sie achtet. So kann es auch passieren, dass man an der schwarzweißen Fotowand im Foyer des Hubertus-Wald-Forums vorübergeht, ohne zu realisieren, dass die darauf abgebildete virtuelle Realität einer verkehrsberuhigten, begrünten Straße mit Fußgängern und Radfahrern bereits das erste Exponat der Schau ist. Sie stammt von Schauspiel-Star Lars Eidinger, der sich mittlerweile auch als Fotokünstler etabliert und auf surreal anmutende Alltagsbeobachtungen spezialisiert hat. Zum zweiten Mal nach „Klasse Gesellschaft“ (2021/22) hat Sandra Pisot, Sammlungsleiterin Alte Meister und (gemeinsam mit Johanna Hornauer) Kuratorin der Ausstellung, Eidingers „Objets trouvé“, wie er selbst sagt (Schnappschüsse, meist mit dem Handy aufgenommen) in eine opulente Museumsschau einbezogen, die mit rund 150 Werken von 80 Künstlern den Bogen vom Mittelalter in die unmittelbare Gegenwart schlägt. Einige der Eidinger-Fotografien zeigen ein verblüffendes Gespür für den richtigen Augenblick, zum Beispiel das Großformat „Paris, 2021“, auf dem die Besucher des Louvre mit Veroneses Mammut-Gemälde „Die Hochzeit von Kana“ zu verschmelzen scheinen.
Dennoch bleibt festzuhalten: Diese fantastische Schule des Sehens durch Zeiten und Kunstgattungen wäre zweifellos auch ohne den prominenten Schauspieler, Publikums-Magneten und DJ – der am Eröffnungsabend noch auflegte – gelungen. Denn die beiden Kuratorinnen haben es nicht bei einer braven Chronologie belassen, sondern spannungsreiche Gegensätze geschaffen. So sind die ältesten Exponate der Schau, zwei Buchmalereien aus der „Paduaner Bilderbibel“ (um 1400) mit Darstellungen der Stechmücken-Plage (der vierten Gottesstrafe für die Ägypter) Kiki Smiths ikonischer Grafik „Fly“ von 1998 gegenübergestellt.
Beide Werke verweisen auch auf die Ursprungslegenden des „Trompe l‘ oeil“: Trauben, die so echt wirken, dass die Vögel danach pickten, ein Vorhang der einen Maler täuscht und eine Fliege, die sich nicht verscheuchen lässt. Antike Zeugnisse frappierender Wirklichkeitsnähe, die im Barock mit den Stillleben und Kunstkammerschränken von Simon Luttichuys (1610–1661), Cornelius Norbertus Gijsbrechts (um 1625 – nach 1675) oder Johann Georg Hinz (um 1630–1688) ihren Höhepunkt erreichten.
Zehn Kapitel umfasst der Parcours, von „Raumillusionen“ über „Masken“ und „Spiegelungen“ geht es weiter zum „Fenster der Welt“, „Vorhang und Schleier“ bis hin zu „Verwandlung, Traum, Vision“. Natürlich dürfen im Reigen der fantastischen Täuschungen die bekannten surrealen und hyperrealen Werke von Francisco de Goya, René Magritte, Max Ernst, M.C. Escher oder Duane Hanson nicht fehlen, auch nicht Verkleidungskünstlerin Cindy Sherman und Gerhard Richter mit seinen berühmten „Vorhangbildern“.
Die Kuratorinnen überraschen jedoch auch mit Werken, die man thematisch nicht zugeordnet hätte: David Hockneys „Hollywood Garden“ (1966) beispielsweise, Robert Delaunays „Fenster-Bild“ (1912), Max Beckmanns „Selbstbildnis Florenz“ (1907) oder Edgar Degas‘ „Vor dem Spiegel“. Allesamt Klassiker im Besitz der hauseigenen Sammlung, die sich hier einmal einem ganz neuem Blickwinkel stellen. Zu den Favoriten der Autorin jedoch gehören zwei Arbeiten aus allerjüngster Zeit: Der völlig natürlich wirkende Löwenzahn, der unbemerkt aus einer Fußbodenfuge herauszuwachsen scheint (eine bemalte Bronze des US-Künstlers Tony Matelli, 2024) und eine beunruhigende Installation, die nachdenklich macht, wie wir Beziehungen in einer Welt erleben, die zunehmend digital manipuliert wird. Diesen dunklen, abgeschlossenen Raum, in dem Andreas Greiners Arbeit „Conspiracy Theory“ demonstriert, wie Verschwörungstheorien und Hasstiraden durch KI-gesteuerte Bots entstehen, muss man erlebt haben. Gänsehaut-Feeling!
Zum gleichen Thema ist im Musée Marmottan Monet in Paris die Ausstellung „Trompe-l'œil, von 1520 bis heute“ (Le trompe-l’œil de 1520 à nos jours) bis zum 2. März 2025 zu sehen. Die ebenfalls von zwei Kuratorinnen (Sylvie Carlier, Aurélie Gavoille) entwickelte Schau erkundet vom Renaissance-Illusionismus bis zu seinen modernen Verkörperungen die Täuschung.
Der Begriff „trompe-l'oeil" soll übrigens erstmals vom französischen Maler und Lithograf Louis Léopold Boilly in der Bildunterschrift zu einem im Salon von 1800 ausgestellten Werk verwendet worden sein.
Es werden über 80 beeindruckende Werke aus verschiedenen internationalen Museen und Sammlungen von Meistern wie Cornelis Norbertus Gysbrechts (um 1625– nach 1675), Anne Vallayer-Coster (1744–1818), Louis Léopold Boilly (1761–1845), William Harnett (1848–1892), Michelangelo Pistoletto und Giuseppe Penone, Daniel Firman sowie Daniel Spoerri. Eine weitere Welt, in der Realität und Illusion verschwimmen.
„Illusion. Traum – Identität – Wirklichkeit“
Zu sehen bis 6. April 2025, in der Hamburger Kunsthalle, Glockengießerwall, 20095 Hamburg. Eingang: Hubertus Wald Forum
Öffnungszeiten: Di.–So.: 10–18 Uhr, Do.: 10–21 Uhr
Weitere Informationen (Hamburger Kunsthalle)
Künstler der Ausstellung: Helene Appel, Hans Arp, Thomas Baldischwyler, Max Beckmann, Paris Bordone, Carl Gustav Carus, Marc Chagall, Jean-Baptiste Siméon Chardin, Adriaen Coorte, Lovis Corinth, Edgar Degas, Robert Delaunay, Johann Friedrich Dieterich, Gerrit Dou, Wilhelm Schubert von Ehrenberg, Lars Eidinger, Elmgreen & Dragset, James Ensor, Max Ernst, M. C. Escher, Juan Fernández, Charles de la Fosse, Caspar David Friedrich, Johann Heinrich Füssli, Xaver Fuhr, Jean-Léon Gérôme, Cornelis Gijsbrechts, Nan Goldin, Francisco de Goya, Andreas Greiner, Duane Hanson, Vilhelm Hammershøi, Johann Georg Hinz, David Hockney, Samuel van Hoogstraten, Roni Horn, Gerard Houckgeest, Horst Janssen, Alexander Kanoldt, Howard Kanovitz, Anish Kapoor, Oskar Kokoschka, Jens Lausen, François Lemoyne, Lorenzo Lippi, Simon Luttichuys, Alfred Madsen, René Magritte, Tony Matelli, Stefan Marx, Hans Memling, Adolph Menzel, Frans van Mieris d. Ä., Piet Mondrian, Ron Mueck, NEAL, Giovanni Battista Piranesi, Sigmar Polke, Gerhard Richter, Joachim Ringelnatz, Jan van Rossum, Pieter Jansz. Saenredam, Godfried Schalcken, Markus Schinwald, Oskar Schlemmer, Georg Schrimpf, Cindy Sherman, Kiki Smith, Antoine van Steenwinckel, Theodoor van Thulden, Nikos Valsamakis, Victor Vasarely, Wolf Vostell, Friedrich Wasmann, John William Waterhouse, Jacob de Wit, Francisco de Zurbarán.
Es ist ein Katalog erschienen:
ILLUSION. Traum, Identität, Wirklichkeit.
Mit Texten von Juliane Au, Markus Bertsch u.a. Hg. Johanna Hornauer. Katalog, Hartje Cantz Verlag / Hamburger Kunsthalle 2024.
22 x 28 cm, 336 S., 250 Abb., geb.
YouTube-Video von Cornelia Schiller und Jürg Lützelschwab (Ohne Sinn uns los) zur Eröffnung der Ausstellung in der Kunsthalle. DJ: Lars eEdinger. (3:17 Min.)
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Weitere Informationen (Musée Marmottan Monet, fr./engl.)
Künstler der Ausstellung: Martin Battersby, Louis Léopold Boilly, Henri Cadiou, Guillaume Dominique Doncre, Pierre Ducordeau, Daniel Firman, Piero Fornasetti, Johann Caspar Füssli, Gaspard Gresly, Cornelis Norbertus Gysbrechts, John Haberle, William Harnett, Jean Antoine Houdon, Nicolas de Largillière, Jean-François de Le Motte, Jean-Etienne Liotard, Cristoforo Munari, Jean-Baptiste Oudry, Giuseppe Penone, John Frederick Peto, Michelangelo Pistoletto, Jacques Poirier, Christian Renonciat, Pierre Roy, Lisa Sartorio, Piat Joseph Sauvage, Daniel Spoerri und Anne Vallayer-Coster.
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