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Eine Zivilisation, „welche als nächste Mutter der unsrigen noch jetzt fortwirkt“, so nannte Jacob Burckhardt die Zeit der Renaissance. In ihr wurde alles anders, in der Kunst wie in der Wissenschaft, in der Politik wie in Literatur und Philosophie.

Europa entdeckte das Individuum, es wandte sich der Antike zu („Wiedererwaxung“ in den Worten Albrecht Dürers), und nicht zuletzt in den Naturwissenschaften ging es mit Riesenschritten voran.

 

Ein historisches Sachbuch über die Bedeutung der Zahl in der Renaissance

Thomas de Padova Alles wird Zahl COVERIn seinem Buch über die Fortschritte der Mathematik entfaltet der Physiker und Wissenschaftsjournalist Thomas de Padova ein Panorama dieser Epoche, indem er nicht allein den Wechsel von den römischen Ziffern zu den arabischen behandelt oder die gewaltigen Fortschritte in der Astronomie darstellt, sondern auch der Entdeckung der Perspektive und ihrer Bedeutung für die bildende Kunst nachgeht. Sogar die Beziehung von Leonardo und Dürer zur Mathematik ist Thema seines Buches.

 

Im Grunde ist sein Buch eine Kulturgeschichte des Rechnens in der Frühen Neuzeit, in dem wir auch einiges über Lebensgewohnheiten und Vorurteile erfahren und das den Leser mit einigen zwar ziemlich vergessenen, aber tatsächlich wichtigen Menschen bekannt macht. Der erste in dieser Reihe war eine wirkliche Jahrhundertgestalt – und trotzdem ist dieser große Mensch längst aus dem Bewusstsein der Mehrheit verschwunden. Regiomontanus (1436–1476), der eigentlich Johannes Müller hieß und aus dem fränkischen Königsberg stammte (daher sein Pseudonym), war ein Tausendsassa – unter anderem war er auch Drucker, der astronomische Tabellen verlegte.

 

Vor allem aber war er ein großer Mathematiker, der als einer der ersten in Europa mit den arabischen Ziffern umzugehen verstand, die sich so viel besser für wissenschaftliche Rechnungen wie für das Kaufmannswesen eigneten. Die unübersichtlichen Kolonnen von römischen Ziffern waren für die erwachende Wissenschaft wie für ökonomische Kalkulationen völlig ungeeignet – das kann de Padova, der sich hier ganz und gar in seinem Element befindet, an verschiedenen Beispielen deutlich machen. Mit den arabischen Ziffern lässt sich viel leichter Buch führen – plötzlich sind die Zahlenkolonnen überschaubar – und dazu auch besser rechnen, nicht zuletzt dank der Null, deren Sinn zunächst auch nicht jedem einleuchtete.

 

Aber es ist nicht allein Regiomontanus, den wir im ersten von nur drei Kapiteln des Buches kennenlernen, ein anderer und deutlich älterer ist Leonardo von Pisa (1170–1240), den sogar viele, die von Mathematik keine Ahnung haben, wenigstens vom Namen her als Fibonacci kennen. Leonardo war Autor eines Rechenbuches, des „Liber abacci“, das nicht allein die Grundrechenarten, sondern auch das Dezimalsystem darstellt. Besonders für Kaufleute war dieses Buch von exorbitanter Wichtigkeit. Schließlich sollte es dreihundert Jahre nach dem irdischen Wandel des Autors Florenz sein, wo sich der Kapitalismus zusammen mit der Renaissancekunst entwickelte. Eine zufällige Parallelität? Nein, natürlich nicht, denn das kaufmännische Rechnen spielte eine überragende Rolle, als es um die Entdeckung von Proportion und Perspektive ging. Es ist die zweite Stärke des Autors (neben der Darstellung mathematischer Zusammenhänge), auf relevante kulturhistorische Zusammenhänge hinzuweisen. Und zu diesen gehört, dass in Florenz die Schüler in sogenannten „Abakus-Schulen“ die arabischen Ziffern besonders früh kennen lernten.

 

ACardano SagesseZwei große Mathematiker des 16. Jahrhunderts, die von de Padova in den Mittelpunkt seines Buches gestellt werden, waren Girolamo Cardano aus Pavia (1501–1576), der vielleicht erste Erforscher der Wahrscheinlichkeit, sowie der protestantische Geistliche Michael Stifel (1487–1567). Dieser versuchte sich zunächst an etwas, für das in unserer Zeit kaum noch jemand Verständnis besitzt: an der symbolischen Deutung der Bibel. In „Wortrechnungen“ ordnete er verschiedenen Wörtern Zahlenwerte zu und glaubte, auf diese Weise das Ende der Welt kalkulieren zu können. Natürlich endete das im Desaster, jedenfalls für ihn, denn das Ende der Welt trat nicht ein. Er verlor sein Amt, aber dank seiner Freundschaft zu Martin Luther konnte er einer strengen Bestrafung entgehen und wandte sich von da an einer ernsthaften Beschäftigung mit der Mathematik zu. Ja, er wurde sogar zu einem Begründer der Arithmetik mit allergrößtem Einfluss auf Terminologie („Exponent“ stammt von ihm) und Symbolik – er war es, der das „x“ in die Gleichungen einführte, dazu Plus- und Minuszeichen und endlich die Wurzel. Noch Leonard Euler als einer der größten Mathematiker der Neuzeit griff mehr als einhundert Jahre später auf Stifels Lehrbuch der Mathematik zurück.

 

Michael Stifel Buechlein

Links: Michael Stifel, Kupferstich, gemeinfrei. Rechts: Michael Stifel: Ein Rechen Büchlin Vom EndChrist, Wittenberg 1532

 

Mathematiker legen großen Wert darauf, dass ihre Wissenschaft viel mehr sei als bloßes Rechnen, mit dem die allergrößte Mehrheit sich in der Schule begnügt. Bei Stifel kann man sagen, dass seine Werke Lehrbücher des Rechnens waren, aber dass er – ähnlich wie Cardano, der sich hier sogar noch größere Verdienste erworben zu haben scheint – auch als ein wirklicher Mathematiker gelten muss, als ein Forscher, der wesentliche Beiträge zur Theorie der komplexen Zahlen formulierte.

 

Wer an die Kunst der Renaissance denkt, an den Unterschied zwischen mittelalterlichen Bildwerken und den berühmten Gemälden vom Ende des 15., Anfang des 16. Jahrhunderts, dem steht die Erfindung der Perspektive vor Augen. In mancher Hinsicht scheinen uns die Gemälde des 13. und 14. Jahrhunderts naiv wie die ersten Malversuche von Kindern. Die wichtigen Figuren sind groß, die unbedeutenden klein, und Vorder- und Hintergrund stimmen nicht überein – wenn es überhaupt einen Hintergrund gibt, zum Beispiel einen Blick hinein in eine verschwimmende Landschaft.

 

Immer wieder kommt de Padova auf die Entdeckung der Perspektive und ihre Bedeutung für die Kunst zu sprechen. Aber hier ist seine Darstellung vergleichsweise oberflächlich. In seinem Buch stellt es sich so dar, dass die Kunst der Perspektive eine Frage der Geometrie ist und in augentäuschender Freskomalerei gipfelt. Für derartige Illusionen bietet sein Text verschiedene und allerdings spektakuläre Beispiele. Und natürlich wird der Araber Alhazen (965–1040) erwähnt und zum „Vordenker“ europäischer Wissenschaft und Kunst ernannt. Der arabische Forscher hatte mit zahlreichen Experimenten die antike Sehstrahlentheorie widerlegt und dazu verschiedene mathematische Werke verfasst.

 

Alhazen 9651040

Links: Alhazen in den Augen der frühen Neuzeit: Bildnis in einer Ausgabe der Selenografie des Johannes Hevelius (1647). Rechts: Kupferstich auf dem Titelblatt der lateinischen Ausgabe des "Opticae Thesaurus". Die Darstellung zeigt wie Archimedes von Syrakus römische Schiffe mit Hilfe von Parabolspiegeln in Brand gesetzt haben soll. Quelle: Bayerische Staatsbibliothek München

 

Alhazen war der erste, der dem Weg der Lichtstrahlen in eine Camera oscura hinein folgte, und so handelt seine Theorie vom Sehen, nicht etwa von Bildern. Es ist dieser physikalische Aspekt, der bereits den Titel seines Traktates bestimmt. Denn diese Abhandlung, in der ersten Übersetzung noch „Perspektiva“ überschrieben, wurde von der 2. Auflage an „Optik“ genannt. „Will man die Dinge auf den Punkt bringen,“ so fasst der Kunsthistoriker Hans Belting in dem großartigen Buch „Florenz und Bagdad“ seine Überlegungen zu Alhazen zusammen, „so kann man sagen, dass die Lichtgesetze Gegenstand der arabischen Sehtheorie waren, während ein Sehbild, in dem der Blick ausgemessen wurde, erst in der westlichen Theorie darstellbar wurde.“ Für Belting stehen also arabische Optik und europäische Perspektive einander gegenüber, und es war und ist ein Missverständnis, in der europäischen Kunst der Perspektive eine bloße Fortführung, vielleicht gar eine Umsetzung der arabischen Entdeckungen zu sehen. Anders als de Padova, der sich gar nicht erst daran versucht, kann Belting verständlich machen, warum die Perspektive für die Entstehung des modernen Europäers so wichtig werden konnte oder sogar werden musste.

 

In der Zentralperspektive wird der Blick einer Person dargestellt, und damit gerät auch diese selbst in den Blick und in das Bild. Besonders deutlich zeigt der Blick durch das Fenster auf den Horizont, wie Raumerfahrung auch das Hinausschauen selbst thematisiert. In den Worten Beltings öffnet sich „ein schwindelerregender Abgrund der Seelenerfahrung“ – er sieht darin die Geburtsstunde des Porträts, das es in dieser Weise im islamischen Kulturkreis nicht geben kann und darf.

 

Hans Belting COVER Außer auf das Werk Beltings hätte de Padova auch auf Oswald Spenglers Überlegungen aus den ersten Passagen vom „Untergang des Abendlandes“ zurückgreifen können oder sogar sollen – mit die schönsten des Buches –, in denen der Autor über den „Sinn der Zahlen“ nachdenkt und zeigt, dass die Menschen der verschiedenen Kulturkreise, der Antike, der arabischen Reiche und endlich der europäischen Neuzeit, in verschiedenen Räumen lebten, dass also die so unterschiedliche Behandlung der Zahlen Ausdruck eines ganz anderen Weltverständnisses war. Mit der Entdeckung des absoluten, des mathematischen Raumes fand Europa zu einem Abstraktum, dem „ die Sinnlichkeit als Mittel des Ausdrucks immer weniger genügte“ und das „sich endlich leidenschaftlich von ihr abwandte.“ Die Konsequenz? „Das innere Auge erwachte.“ In Husserls Krisisabhandlung heißt es, das arithmetische Denken werde „nun zu einem freien systematischen, von aller anschaulichen Wirklichkeit völlig losgelösten apriorischen Denken über Zahlen überhaupt, Zahlverhältnisse, Zahlgesetze.“

 

Zum Abschluss seines materialreichen, lebhaft geschriebenen und gut lesbaren Buches stellt de Padova die Lehrbücher Cardanos und Stifels näher vor und konfrontiert den Leser mit Textaufgaben, deren Lösung wohl nur die wenigsten von allein finden werden. Und dabei ist es gar nicht das altertümliche Deutsch, das sie so schwierig macht… Beide Autoren, Cardano wie Stifel, müssen unfassbar intelligent gewesen sein – wie schwierig, in manchen Fällen sogar verzweifelt anspruchsvoll die Aufgaben waren, zeigt de Padova sehr schön. Er erläutert ihre Schwierigkeiten und zeichnet den oft langen Lösungsweg gemeinverständlich nach. Hier ist er ganz in seinem Element. Die große Deutung, wie seine etwas schlicht geratene Darstellung der Übernahme der Perspektive von den Arabern zeigt, ist dagegen weniger seine Stärke – hier kann er mit einem allerdings auch sehr bedeutenden und tief schürfenden Autor wie Belting keinesfalls mithalten. Oder hätte er Spengler gelesen haben sollen?

 

Am Ende seines Buches zitiert der Autor Hans Magnus Enzensberger, nach dem es einer Katastrophe gleichkomme, dass die Mathematik „aus der Sphäre der Kultur“ ausgeschlossen sei. Und wahrscheinlich hat er recht, wenn er sagt, dass die Mehrheit der Bevölkerung kaum über den Stand der griechischen Mathematik hinausgekommen sei. Aber ich fürchte, dass auch Oswald Spengler recht hat, wenn er im „Untergang des Abendlandes“ schreibt, dass die Mathematik „in ihrer ganzen Tiefe den wenigsten erreichbar sei“. Gerade die Rechenaufgaben, die de Padova im letzten Teil seines Buches vorstellt, machen mir deutlich, wie begabt diese ersten europäischen Mathematiker waren.


Thomas de Padova: Alles wird Zahl.

Carl Hanser Verlag 2021

Piper Verlag 2023

384 Seiten, eBook, Taschenbuch

ISBN 978-3446269323

Weitere Informationen (Verlag)

Leseprobe

 

Hans Belting: Florenz und Bagdad. Eine westöstliche Geschichte des Blicks.

Verlag: H.C. Beck

319 S., mit 109 Abbildungen, davon 45 in Farbe, Softcover
ISBN: 978-3-406-63273-0

Weitere Informationen (Verlag)

Leseprobe

 

ABB.: Robert Cooper: Girolamo Cardano. Kupferstich, um 1800. Gemeinfrei

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