Das besonders Schöne an den Nordischen Filmtagen Lübeck (NFL) ist: hier gibt es nicht nur wunderbare neue Filme zu entdecken, die größtenteils erstmals im Kino gezeigt werden. Dort werden auch alte Filme gezeigt, Kleinode der nordischen Filmgeschichte.
So auch bei den 66. Nordischen Filmtagen vom 6. bis 10. November 2024.
Geradezu großartig und höchst beeindruckend ist der norwegische Stummfilm „Segen der Erde“ (Originaltitel: Markens grøde) aus dem Jahr 1921 (Regie: Gunnar Sommerfeldt) mit seinen wunderschönen Schwarz-Weiß-Bildern von Mensch und Natur nach der Vorlage von Knut Hamsun, der für diesen Roman mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde. Dieser Film war bei den NFL 2024 in der restaurierten Fassung von 1993 erstmals mit Originalmusik und großem Orchester zu sehen, eingespielt 2009.
Großartig ist nicht nur der Film in seiner zauberhaften Bildsprache, großartig ist auch die Originalmusik des berühmten Geigers, Dirigenten und Komponisten Leif Halvorsen. Diese Musik ist leitmotivisch angelegt, charakterisiert die Protagonisten und deren jeweilige Gefühlslage in thematischen Bögen. Die Originalfilmmusik von 1921 wurde 2009 eingespielt vom Norwegischen Radiosinfonieorchester unter Leitung von Frank Strobel. In früheren Zeiten wurde der Film musikalisch nur von wenigen Musikern begleitet, obwohl der Komponist sein Werk für großes Orchester angelegt hatte. Diese Missachtung seiner Vorgabe führte letztendlich dazu, dass Halvorsen nie wieder Filmmusik schrieb, wie vorab bei der Filmvorführung in Lübeck in der Anmoderation zu hören war. Diese wunderbare Filmmusik unterlegt und begleitet die Ereignisse in „Segen der Erde“ immer in der richtigen Stimmung, sie wäre sicher auch eigenständig, auf sich alleingestellt sehr gut anzuhören; hier ist sie ein klangreiches Konzerterlebnis in einem großartigen Film. In den Texten, die in den Stummfilm eingefügt sind, wird zudem aus Hamsuns Roman zitiert. Ein filmisches Ereignis, das nach meiner Kenntnis in dieser Konstellation bisher noch nie in Deutschland zu erleben war.
Erstmals in der Retrospektive gezeigt wurde (eine Ausnahme, denn hier werden normalerweise nur ältere Filme vorgeführt) diesmal der in 2024 fertiggestellte Dokumentarfilm „Die Bekenntnisse des Hochstaplers Thomas Mann“ (Regie: André Schäfer). Zu erleben ist in dieser gelungenen Filmcollage eine intime Reise in die unterschiedlichen Realitäten des weltberühmten Schriftstellers, örtlich angesiedelt „zwischen Holstentor und Hollywood“, wie es in der Ankündigung heißt. Schauspieler Sebastian Schneider verkörpert sowohl Felix Krull als auch Thomas Mann sehr überzeugend. Prächtige Kostüme bereichern diesen prachtvollen prallen Film über das Leben des Autors und die Entstehungsgeschichte des Romans.
Bekenntnisse des Hochstaplers Thomas Mann. © Mindjazz Pictures
Die diesjährige Hommage war der finnischen Schauspielerin Kati Outinen gewidmet, die mit dem Ehrenpreis der NFL 2024 ausgezeichnet wurde. Die fünf Filme für ihre Hommage suchte Kati Outinen selbst aus. Sie wählte dafür ausschließlich Filme, die sie mit dem großen finnischen Filmregisseur Aki Kaurismäki gedreht hat, der zu meinen nordischen Lieblingsregisseuren gehört. Natürlich habe ich einige dieser Filme bei den diesjährigen NFL gesehen, genauer gesagt, drei davon: „Das Mädchen aus der Streichholzfabrik“ (1990), „Wolken ziehen vorüber“ (1996) und „Der Mann ohne Eigenschaften“ (2002). Drei filmische Kleinode, die wie alle Filme Kaurismäkis minimalistisch gestaltet sind und die seine Fans genau deshalb so lieben. Meist beherrschen dunkle Pastelltöne die Szenerie. Manchmal stehen die eher unscheinbaren und doch so bestimmenden Pastellfarben im Kontrast zu punktuell gesetzten knalligen Farben. Sie sind Hingucker besonderer Art, denen man sich nicht entziehen kann. Die Szenerie von Kaurismäki-Filmen wirkt trotz aller Kargheit immer opulent. Die Gesten der Schauspieler und Schauspielerinnen sind stets sparsam, zeigen uns dennoch (oder gerade deswegen) alles. Die Stimmen sind meist leise, doch wir hören und verstehen sie in jedem Fall. Die Mimik der Akteure ist fast ausdruckslos und wir erkennen trotzdem all die dargestellten Gefühle, die meist trauriger, selten fröhlicher Art sind. All dies ist – im Einzelnen und zusammengenommen – das, was Kaurismäki-Filme für seine Fans so liebenswert macht.
Kati Outinen, Susanne Klische. © Nordische Filmtage Lübeck / Christine Rudolf
Die zurückgenommene Darstellungskunst von Kati Outinen entspricht dieser Vollkommenheit. So wie Kati Outinen begegnen wir in Kaurismäkis Filmen oftmals denselben Schauspielern, die wir bereits aus anderen Filmen des finnischen Filmemachers kennen. Alles alte Bekannte also. Meist sind es Typen, die am Rande der Gesellschaft leben. Typen, die wir sofort ins Herz schließen in und mit all ihrer Armseligkeit, all ihrer Getriebenheit. Das gilt sogar dann, wenn sie wie „Das Mädchen aus der Streichholzfabrik“ mörderisch aktiv werden. Denn wir Zuschauer kennen ja die Motive dieser traurigen jungen Frau, deren Seele verkümmert ist, weil die Menschen sie, statt sie zu lieben, schändlich misshandelt haben… Und – man möge uns verzeihen: wir verstehen sogar die Gründe, die diese seelisch tödlich verletzte Frau dazu bringen, mehrere Morde auszuführen! Wenn ein Film, ein Filmemacher, eine Schauspielerin mit unseren Gefühlen so umgehen kann, dann muss es sich um großes Kino handeln und genau das ist hier der Fall!
Großes Kino macht auch der schwedische Regisseur Roy Andersson, der vor seiner erfolgreichen Filmkarriere in der Werbebranche gearbeitet hat und in dieser Zeit wunderbare, witzige Werbefilme gedreht hat, die auf YouTube zu bewundern sind. Diesmal war im Programm der NFL zwar kein Film von Roy Andersson vertreten, wohl aber ein Dokumentarfilm über „The Andersson Brothers“. Eine berührende, wahre Geschichte über das Verhältnis von Roy, Leif, Ronny und Kjell Andersson, gefilmt von Leifs Tochter, der Regisseurin Johanna Bernhardson: Zehn Jahre haben sich die Andersson-Brüder nicht gesehen, das letzte Mal geschah es auf der Beerdigung von Ronny, dem Alkoholiker und Obdachlosen. Ein offenbar genetisch bedingtes Alkoholproblem haben/hatten alle vier Brüder, erfahren die Zuschauer. Wir blicken hinein in das Leben der einzelnen Brüder, wir hören ihnen zu und – ja – wir sehen ihnen sogar beim Sterben zu, wenn auch zum Glück nur indirekt. Am Ende des Films begegnen sich drei der vier Brüder nach all den Jahren persönlich wieder – auch diesmal ist es eine Beerdigung, die sie zusammenführt: die Trauerfeier von Leif. Hier sagt Kjell, der im Rollstuhl sitzt, einen bemerkenswerten Satz: „The most important thing in life is relationship“.
Ein ganz wichtiger Film, dessen Vorführung allen Menschen in dieser unserer Welt zu wünschen wäre (ja, ich weiß, das klingt polemisch), ist der Spielfilm „Afterwar“ (Dänemark / Kosovo / Schweden / Finnland. Drehbuch und Regie: Birgitte Stærmose). Ein Spielfilm, der alternativ auch im Dokumentarfilmprogramm der NFL hätte laufen können: „Afterwar“ ist ein dokumentarischer Film über vier junge Menschen, die den Kosovokrieg überlebt haben und deren Leben heute noch bestimmt wird von diesen traumatischen Erfahrungen. Wir lernen Jewel, Joy, Hope und Besnik als Jugendliche kennen. Wir erleben sie 15 Jahre später und wir blicken mit ihnen gemeinsam in ihre hoffnungslose Zukunft. Manchmal blicken sie uns dabei direkt an, von Auge zu Auge in Großaufnahme. Wir erleben die vier Jugendlichen in ihrem trostlosen sozialen Umfeld, einen von ihnen auch als Familienvater. Ein liebevoller Vater, der sein Baby im Arm hält und wiegt und verspricht, es nie allein, niemals im Stich zu lassen.
Afterwar. Mann damals und jetzt. © Marek Septimus Wieser, Troels N'Koya-Jensen
Der Krieg ist für die vier jungen Männer auch heute noch anwesend. Er ist in ihren Köpfen. Er ist in ihren Herzen. Doch gegen alle Hoffnungslosigkeit hilft auch hier nur eines: Hoffnung. „Always is a brighter day ahead“, sagt einer von ihnen und schaut uns dabei traurig und trotzig in die Augen. Wer diesen Film sieht, dürfte gegen jegliche Kriegsgelüste gewappnet sein, weil sämtliche Alarmglocken schrillen. Ein Film also, der – ob gewollt oder nicht – in Erinnerung bleiben wird. Die traurigen Augen sprechen in Großaufnahmen zu uns. Sie verfolgen uns. Berührend, bittend und anklagend zugleich. Ein unvergesslicher Film. Das liegt auch an der sensiblen Einstellung, an der behutsamen Kameraführung von Birgitte Stærmose, die das persönliche Elend dieser vier Kriegskinder für immer für uns alle festgehalten hat.
Zum Glück gibt es alle Jahre wieder auch heitere Filme bei den NFL. Filme mit einer Liebesgeschichte, mit einem Happy End. So einer ist der finnische Spielfilm „Long Good Thursday“ (Regie: Mika Kaurismäki). Zunächst wird uns der miesepetrige Protagonist Grump vorgestellt. Ein älterer Mann, dessen Frau vor einigen Jahren starb. Ein brummiger Mann, der mit seinen beiden Söhnen und der restlichen Welt am liebsten gar nichts mehr zu tun hätte. Grump ist immer dann ein glücklicher Mann, wenn er allein mit sich im Wald Bäume fällt und allein mit sich zu Hause das gefällte Holz hackt. Das funktioniert prima, bis – natürlich – eine ganz und gar anders gestrickte Frau in sein Leben tritt, die Künstlerin Salmi, die Grumps Leben – natürlich – komplett auf den Kopf stellt. Das alles ist charmant-humorvoll erzählt und blättert vor allem die schönen Seiten des Lebens auf, die – so die hübsche Aussage des Films - nicht allein, sondern nur mit anderen Menschen zu haben sind. Ein Film zum Luftholen also, zum Aufatmen und Auftanken, um den eigenen möglicherweise überanstrengten Kopf wieder freizubekommen.
Dafür eignet sich auch prima die sympathische Serie „Nord bei Nordwest“. Drei neue Folgen sind fertiggestellt: „Haare? Hartmann!“, „Fette Ente mit Pilzen“ und „Das Nolden-Haus“ werden Anfang 2025 im Ersten und in der ARD Mediathek zu sehen sein. 27 Folgen sind seit Beginn der Serie in 2014 bisher gedreht worden. Zwischenzeitlich nahmen die Toten und allerlei Knallerei auch schon mal überhand. Als Fan der Serie fühlte man sich dem „Tatort“ am Sonntagabend in solchen Fällen näher als gewünscht. In der neuen Folge „Das Nolden-Haus“ kehrt das Nord-bei-Nordwest-Team zu dem Format zurück, mit dem es 2014 angetreten ist und für das die Fans die Serie lieben: Mit viel Humor und wenig Toten wird Spannung erzeugt und gehalten.
Nord bei Nordwest – Das Nolden-Haus. Foto: © Gordon A. Timpen
Wie gewohnt, standen nach dieser Vorführung bei den Nordischen Filmtagen Lübeck einige der Macher vor und hinter den Kulissen fürs Gespräch mit dem Publikum zur Verfügung. So erfuhren die Zuschauer, dass Cem Ali Gültekin alias Mehmet Ösker, der in dieser Folge als Immobilienmakler auftritt, sich nichts Schöneres vorstellen kann, als noch für lange Zeit in dieser Rolle aktiv zu sein. Und sie erfuhren, dass es eine Regel gibt: Diese Regel besagt, Hauke Jacobs (Hinnerk Schönemann) wird sich noch lange nicht für eine seiner beiden Filmpartnerinnen Hannah Wagner (Jana Klinge) und Tierärztin Jule (Marleen Lohse) entscheiden. Tja, ist das nun eine gute oder eine schlechte Nachricht? Gespräche nach den Vorstellungen sind jedenfalls konstanter Teil des Filmfestivals, sie gehören einfach dazu. Auch bei den 67. Nordischen Filmtagen Lübeck 2025 wird das der Fall sein. Und das ist gut so!
66. Nordische Filmtage Lübeck
Weitere Informationen (NFL)
Kommentar verfassen
(Ich bin damit einverstanden, dass mein Beitrag veröffentlicht wird. Mein Name und Text werden mit Datum/Uhrzeit für jeden lesbar. Mehr Infos: Datenschutz)
Kommentare powered by CComment