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Nigel Kennedy spielte beim SHMF in der ausverkauften Musikhalle Luebeck Foto Charly Hyde

Diese Energie ist phänomenal: Nigel Kennedy spielte beim SHMF in der ausverkauften Lübecker Musikhalle alle schwindelig – die Zuschauer ebenso, wie das Schleswig-Holstein Festival Orchester.
Nach dreieinhalb Stunden Superkonzert schienen sich die Nachwuchsmusiker aus aller Welt zu fragen: Wird der denn niemals müde?

Mit zunehmendem Alter scheint der inzwischen 62-jährige Nigel Kennedy immer verspielter und kindlicher zu werden. Seine überbordende Freude beim Spiel jedenfalls ist unglaublich. Einfach einzigartig. So etwas sieht man sonst nirgends. Man fragt sich unwillkürlich, was die jungen Kollegen der SHMF-Orchesterakademie (alle ganz brav und hochkonzentriert in schwarz-weißem Outfit) wohl von diesem ausgeflippten Freak halten, der da in überweiten Hosen, neongelben Turnschuhen und flatterndem Jimi-Hendrix-Hemd über die Bühne kaspert, mitten im Spiel besonders gelungene Passagen mit einem inbrünstig-lautem „Yeah“ quittiert und bei jedem Applaus fröhliche Box-Punches in Richtung Publikum schickt? Wie sie das finden, wenn er spontan von der Bühne springt, spielend durch die Reihen läuft, um seinen völlig aus dem Häuschen geratenden Fans ganz nah zu sein. Strahlende Begeisterung standen nur einmal in den jungen Musikern-Gesichtern – als im zweiten Teil des Abends einer der ihren aus der letzten Reihe auf einmal neben Kennedy stand und mit ihm um die Wette spielte.
Der alte Punk-Virtuose und die internationale Nachwuchs-Elite - das ist schon eine ganz besondere Konstellation. Oder, um es mit Kennedys Worten zu sagen, ein „Special Spirit“. Der englische Kultgeiger machte daraus ein Event, das streckenweise wie eine Jamsession wirkte. Das lag aber auch an seinen fünf Weggefährten, allesamt exzellente Musiker, die in der Klassik ebenso zu Hause sind, wie im Jazz und Rock und mit denen Kennedy seit Jahren eine verschworene Gemeinschaft bildet. Allen voran Peter Adams am Cello, gefolgt von den beiden Gitarristen Rolf Bussalb und Doug Boyle (beide leider schlecht ausgesteuert), sowie Piotr Kulakowski am Bass. Nur Slawek Berny, Percussion, fiel etwas ab.

Jedenfalls groovte Nigel Kennedy gleich bei Bachs Konzert für zwei Violinen, Streichorchester und Basso continuo d-Moll BWV 1043 derart temporeich los, dass die jungen Streicher der Orchesterakademie gleichsam in eine Art Schockstarre verfielen. Obwohl der Stargeiger anfangs wie ein Einpeitscher den Rhythmus mit dem Fuß stampfte und versuchte, dem Ensemble im Vivace mehr Dynamik, mehr Power zu entlocken, dauerte es eine ganze Weile, bis die Kommunikation zwischen Solist und Orchester klappte und das Ensemble etwas mehr Lockerheit und Sicherheit gewann.
Umso besser klappte die Kommunikation mit dem erst 22jährigen Mostafa Saad aus Palästina, den Nigel Kennedy seit 2013 kennt und den er seitdem schon mehrfach einlud. Dieser hochbegabte junge Geiger, seit 2018 Konzertmeister und Leiter des Mediterranean Youth Orchestra, harmonierte perfekt im Zwiegespräch mit dem Maestro – und erwies sich als durchaus ebenbürtiger Partner. Zwei Virtuosen im innigen Bach-Dialog – ein mitreißendes musikantisches Kräftemessen, das die beiden sichtlich genossen.

Im Zentrum aber stand eine Eigenkomposition Nigel Kennedys: „The Magician of Lublin“ (Der Zauberer von Lublin), basierend auf dem gleichnamigen Roman von Isaac Bashevis Singer (1902-1991). Der polnisch-jiddische Schriftsteller und Nobelpreisträger erzählt darin die Geschichte eines Zauber- und Liebeskünstlers, der im 19. Jahrhundert von Ort zu Ort zieht, die Menschen mit seinen Tricks unterhält und dabei die Frauen betört.
Nigel Kennedy, der mit einer Polin verheiratet ist und viel Zeit in Polen verbringt, hat diese Geschichte zu einem zutiefst humanistischen Stück Weltmusik inspiriert, bei dem er ständig zwischen Geige und Klavier wechselt sich auch an den Tasten als exzellenter Musiker erweist. Jazz, Klezmer, Klassik, Filmmusik, orientalische Melodien, rockige E-Gitarren-Loops, Zitate aus „Avatevka“ und dem polnischen Nationaltanz Mazura – nichts, was nicht anklingt in dieser fantastisch lebensprallen eklektischen Komposition über Zeiten und Stile.

Keine Frage: „The Magician of Lublin“ zeichnet ein wunderbares musikalisches Bild mit einem unglaublich weiten Horizont. Es wäre gut gewesen, die Zuhörer damit in die Pause zu schicken. Die Komposition ist so unendlich facettenreich, dass ein Nachhall gut getan hätte. Doch als wollte er sich selbst nicht so wichtig nehmen, schickte der sympathische Engländer gleich einen Vorgeschmack auf den zweiten Teil des Abends hinterher. Das war ein wenig schade, obwohl Kennedy George Gershwins (1898-1937) größte Erfolge selbstredend hervorragend interpretierte, insbesondere die Hits „The Man I Love“ und den als „Monster of Swing“ angekündigten Song “ Lady Be Good“.
Nach dreieinhalb Stunden und überlangen Zugaben hatte der Ausnahmemusiker seine Zuhörer restlos satt gespielt. Überglücklich und erschöpft strömten sie den Ausgängen entgegen. Nur Kennedy selbst schien noch taufrisch und unternehmungslustig. Wahrscheinlich haben er und seine Kumpels in Lübeck noch einen draufgemacht. Zuzutrauen wär’s ihm.

Schleswig-Holstein Musik Festival

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Abbildungsnachweis:
Header: Nigel Kennedy. Foto: Carly Hyde

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