Am 9. und 10. November 1938 brannten jüdische Geschäfte und Synagogen. Sie brannten in Österreich. Sie brannten im Deutschen Reich. Sie brannten in Schleswig-Holstein. Sie brannten in Lübeck.
Tausende von Juden wurden verhaftet, misshandelt, getötet, ermordet oder in die ersten eingerichteten Konzentrationslager Dachau, Sachsenhausen und Buchenwald verschleppt. Es war das offizielle Signal zum größten Rassenpogrom aller Zeiten in der deutschen Geschichte, das knapp drei Jahre später in den Holocaust münden sollte. Die Sonderausstellung im Willy-Brandt-Haus Lübeck erinnert an dieses Datum, das als Reichspogromnacht in die Geschichte eingegangen ist. Wer waren die Opfer? Wer waren die Täter?
Anlässlich des Gedenktages für die Opfer des Nationalsozialismus zeigt das Willy-Brandt-Haus die Sonderausstellung „Es brennt! Antijüdischer Terror im November 1938“. Die auf Weisung der nationalsozialistischen Parteiführung organisierte Vernichtungswelle jüdischen Lebens wurde im Volksmund etwas salopp als „Reichskristallnacht“ bezeichnet. Aber in Geschichte und Wissenschaft hat sich seit einigen Jahren der weitaus treffendere Begriff „Novemberpogrom“ durchgesetzt.
Bekannte und unbekannte Aufnahmen von Berufs- und Amateurfotografen dokumentieren die Zerstörung von 24 der insgesamt über 1.200 Synagogen, zu denen auch die Lübecker Synagoge gehörte. Einige der Fotos dienten als Beweismittel in Justizverfahren der Nachkriegszeit. Sie zeigen das Ausmaß der Gewalt und öffentlichen Demütigung der Juden im „Dritten Reich“. Die Fotografien belegen aber auch die architektonische Schönheit und Vielfalt jüdischer Sakralbauten in Mitteleuropa, ihre Zerstörung sowie die Ruinen und den Wiederaufbau nach dem Krieg. Sie dokumentieren sakrale Bauten in der Bundesrepublik und der ehemaligen DDR, in Österreich, Tschechien und Frankreich sowie in den früheren ehemals deutschen Gebieten. Kommentare und Aufsätze in schräg gestellten großen Kuben ergänzen das Vorgehen der Täter und das Verhalten der Bevölkerung. Die Bilder machen auch deutlich, dass die Grenzen zwischen Tätern und Opfern, zwischen Zuschauern und Agierenden, fließend waren.
Offener Judenhass war in Deutschland schon lange vor der Reichspogrom- oder „Reichkristallnacht“ in der Zivilbevölkerung verbreitet. Bereits kurz nach der Machtübernahme Hitlers und der NSDAP am 30. Januar 1933 gab es Boykottaufrufe: Deutsche sollten nicht mehr zu „jüdischen Ärzten und Anwälten“ gehen und nicht in Geschäften kaufen, deren Besitzer Juden waren. Langsam, jedoch Schritt für Schritt vollzog sich die vom Staat verordnete Diskriminierung durch alle Lebensbereiche. Jüdische Bürger wurden aus dem Kulturleben ausgeschlossen, aus der Wirtschaft, als Beamte und aus anderen Berufszweigen. Die Arisierung jüdischen Eigentums begann und wurde forciert vorangetrieben. Juden mussten Geschäfte, Kunstschätze und andere Wertgegenstände weit unter Wert an nichtjüdische Deutsche verkaufen. Die Nationalsozialisten definierten auch die Kunst. Erlaubt und besonders gewollt waren sogenannte „Blut-und Boden-Motive“. Moderne Kunst überwiegend jüdischer Künstler wurde dagegen diffamiert und als „entartet“ angesehen. Auf dem Reichsparteitag 1935 verkündete Adolf Hitler die Nürnberger Gesetze, die den rassistischen Antisemitismus als Staatsdoktrin fest verankerte. Mit antisemitischer Propaganda wurden im Dritten Reich bereits die Jüngsten indoktriniert. Das hatte zur Folge, dass ab 1938 arische und jüdische Kinder nicht mehr gemeinsam unterrichtet werden durften.
In den Novembertagen des Jahres 1938 war jedoch der Antisemitismus brutale Realität geworden. Ein Exzess der Gewalt breitete sich im Land aus. Der Anlass für die Judenhetze war die Ermordung des Legationssekretärs Ernst vom Rath an der deutschen Botschaft in Paris am 7. November durch den erst siebzehnjährigen polnischen Juden Herschel Grynszpan. Der Protest sollte als spontaner Akt des „Volkszorns“ hingestellt werden. Das war allerdings nicht so, wie die historische Forschung inzwischen nachweisen konnte: Die Elite der Nationalsozialisten brauchte eine Legitimation für ihren lang geplanten Propagandaterror gegen die jüdische Bevölkerung. In einem Fernschreiben von Reinhard Heydrich, Obergruppenführer der SS, heißt es am 10.11.1938 an alle Staatspolizeistellen: „Es dürfen nur solche Maßnahmen getroffen werden, die keine Gefährdung deutschen Lebens oder Eigentums mit sich bringen (z.B. Synagogenbrände nur, wenn keine Brandgefahr für die Umgebung ist).“ Und: „Geschäfte und Wohnungen von Juden dürfen nur zerstört, nicht geplündert werden. Die Polizei ist angewiesen, die Durchführung dieser Anordnung zu überwachen und Plünderer festzunehmen.“
Eine Welle der Gewalt rollte durch das Reich und machte auch vor der nördlichsten Region Deutschlands nicht halt. Etwa 2.000 Juden lebten damals in dem agrarisch strukturierten Land zwischen Nord- und Ostsee, die nur etwa 0,13 Prozent der Bevölkerung ausmachten. Trotz der territorialen Expansion des Reiches, wie der sogenannten „Heimholung“ des Saarlandes (1. März 1935), dem „Anschluss Österreichs“ am 13. März 1938 sowie der „Eingliederung“ des Sudetenlandes im September 1938.
Im November 1938 entlud sich die Wut gegen die jüdischen Mitbürger: Angehörige der Sturmabteilung (SA) und der Schutzstaffel (SS) sowie der Gestapo zerstörten im gesamten deutschen Reich – nicht nur in der Lübecker Innenstadt – fast alle jüdischen Geschäfte, zertrümmerten die Schaufenster. Sie verwüsteten die Wohnungen und misshandelten ihre Bewohner. Lediglich die benachbarten Häuser und die unklaren Eigentumsverhältnisse des Gotteshauses hielten den Pöbel davon ab, die Lübecker Synagoge in Brand zu stecken, die zwar zerstört, aber nicht angezündet wurde. In Elmshorn und Kiel dagegen brannten die Synagogen. Ein Anwohner in Elmshorn, der die Feuerwehr alarmieren wollte, bekam zu hören: „Hol din Schnut, suns kriegst wat mit dem Gummiknüppel.“
Nach Recherchen des Instituts für schleswig-holsteinische Zeit- und Regionalgeschichte (IZRG) wurden in dieser Nacht in Kiel rund sechzig jüdische Männer verhaftet, in Lübeck waren es etwa 70 Festnahmen. Die meisten kamen ins Konzentrationslager Sachsenhausen bei Berlin. Und die Nachbarschaft? Sie schaute zu. Größtenteils gleichgültig und desinteressiert schaute sie zu wie Juden verprügelt, totgeschlagen, gefangen genommen und verschleppt wurden. Mit dieser „Reichskristallnacht“ begann eine weitere Phase der leidvollen Judendiskriminierung.
Ab 1938 erfolgte eine Ausreisewelle jüdischer Bewohner. Allein im Jahr 1939 flohen etwa 75.000 Juden aus dem Deutschen Reich in die europäischen Nachbarstaaten oder nach Israel und in die USA. 1939 entfesselte Adolf Hitler den Zweiten Weltkrieg. Ein nie dagewesenen Völkermord begann: die Shoa, die Deportation und Ermordung von sechs Millionen Juden.
„Es brennt! Antijüdischer Terror im November 1938“
ist bis zum 28. Oktober 2018 im Willy Brandt-Haus, Königstraße 21, 23552 Lübeck zu besichtigen.Die Ausstellung wurde von der Stiftung Topographie des Terrors, der Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum und der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas konzipiert.
Die Öffnungszeiten sind täglich von 11 bis 18 Uhr.
Weitere Informationen
Abbildungsnachweis: Alle Fotos: O. Malzahn/ Willy-Brandt-Haus Lübeck
Header und Galerie: Blicke in die Ausstellung
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