Die soeben eröffnete Ausstellung im Bachhaus Eisenach verbindet zwei Jubiläen: Das erste ist das 500jährige Jubiläum des Kirchengesangbuchs, der „vielleicht schönsten Erfindung der Reformation“, wie es in der Ausstellung heißt.
Sie ist etwas mutiger als die evangelische Kirche selbst („500 Jahre Evangelisches Gesangbuch“ steht auf der von ihr initiierten Sonderbriefmarke), denn sie benennt 1524 als „Geburtsjahr des Gesangbuchs“ schlechthin: „Nirgendwo hatte es bislang Gesangbücher zum Mitsingen der Gemeinde im Gottesdienst gegeben.“
Die schönste Erfindung der Reformation
Festgemacht wird das Jubiläum am Erscheinungsjahr des Nürnberger „Achtliederbuchs“ und des „Erfurter Enchiridions“, die in der Ausstellung gezeigt werden. Im gleichen und im Folgejahr folgten weitere Gesangbuch-Drucke in Breslau, Zwickau, Königsberg, Rostock, Nürnberg, Straßburg und Wittenberg. Kurator Dr. Jörg Hansen erläutert: „Die genaue Datierung einer Idee ist immer schwierig. Bereits im 15. Jahrhundert gab es handschriftliche Liedersammlungen. 1501 erschien in Prag eine solche Sammlung auf tschechisch im Druck. Über die Verbreitung und den Gebrauch ist wenig bekannt. Umgekehrt war eigentlich erst das Wittenberger Gesangbuch von 1529, mit seiner kirchenkalendarischen Ordnung und Einbettung der Lieder in die Liturgie, der Prototyp aller heutigen Gemeindegesangbücher. Die Flut und die enorme Wirkung der Drucke von 1524/25 sprechen aber für das traditionelle Jubiläumsjahr.“
Das zweite ist das 300-jährige Jubiläum von Bachs Choralkantaten-Zyklus von 1724/25. Die erste dieser 52 Kantaten wurde am 11. Juni 1724 in der Leipziger Nikolaikirche aufgeführt. Die dahinter liegende Idee, Gemeindelieder in prachtvolle Kantaten zu verwandeln und über ein Kirchenjahr aufzuführen, galt lange als „beispiellos“: Es sei „schwer vorstellbar“, dass sie „von jemand anderem als Bach selbst initiiert wurde“, heißt es etwa in der Bach-Biografie von Christoph Wolff. Eine Verbindung zum damals 200-jährigen Gesangbuch-Jubiläum wurde nicht gezogen. Diese Bewertung erscheint nach neueren Forschungen des amerikanischen Musikwissenschaftler Robin Leaver und der niederländischen Theologin Lydia Vroegindeweij korrekturbedürftig. Denn im beginnenden 18. Jahrhundert erlebte die Hymnologie (Lehre vom Kirchenlied), die Aufzeichnung und Erforschung des gesungenen und textlichen Liedguts der Kirche, eine neue Blütezeit. In diesem Zuge machten Hymnologen wie Johann Christoph Olearius (1668–1747) in Arnstadt und Johann Martin Schamelius (1668–1742) in Naumburg auf das nahende Gesangbuch-Jubiläum aufmerksam und druckten auch das „Achtliederbuch“ von 1524 wieder ab.
Bachhaus Eisenach Bildniswand. Foto: Andre Nestler
Darüber hinaus hatte es in Leipzig schon einen Jahrgang von Choralkantaten gegeben: 1688/89 hatte der Pastor der Leipziger Thomaskirche Johann Benedikt Carpzov (1607–1657) ein Kirchenjahr lang jeden Sonntag über je ein „gut lutherisch Lied“ gepredigt, die Gemeinde hatte das Lied dann anschließend gesungen. Wegen der großen Beliebtheit hatte Carpzov das Projekt im anschließenden Kirchenjahr 1689/90 wiederholt: Jetzt komponierte Bachs Vorvorgänger Thomaskantor Johann Schelle über jedes Lied eine kurze Choralkantate, die vor der Predigt aufgeführt wurde. Noch 1706 war dieses Projekt in so guter Erinnerung, dass Bachs späterer Hausverleger Immanuel Tietze (1662–1728) „auf vielfältiges Begehren“ die Liedpredigten in zwei dicken Quartbänden herausbrachte. Es erscheint also plausibel, dass man sich daran in Leipzig angesichts des nahenden Gesangbuch-Jubiläums 1724 erinnerte und Bachs Choralkantaten-Zyklus der Beitrag Leipzigs zum damals 200-jährigen Jubiläum des Gesangbuchs war. Er wäre ohnehin nicht ohne Mitwirkung des Superintendenten und der Pastoren der Thomaskirche zu verwirklichen gewesen.
Entsprechend sind in der Eisenacher Ausstellung die beiden Themenstränge eng verwoben. Bereits im ersten Raum, in denen frühe Lieddrucke gezeigt werden, sind die beiden Hauptexponate „Achtliederbuch“ und „Erfurter Enchiridion“ bei den Liedern „Aus tiefer Not schrei ich zu dir“ und „Nun komm, der Heiden Heiland“ aufgeschlagen, die in Bachs Fassung als Choralkantaten von 1724 (BWV 38 und 62) auf einer darunter liegenden Hörstation angehört werden können. Die darüber hängenden Ausstellungstafeln erläutern hymnologisch die Entstehung, die Quellen und die theologische Bedeutung der Lieder sowie die Grundmerkmale von Bachs Kantatenfassung. Ähnlich wird in dem zweiten Ausstellungsraum verfahren, aufgeschlagen bei den jeweilig erläuterten Liedern sind hier Gesangbücher der Bach-Zeit, die Bach an seinen jeweiligen Lebens- und Wirkungsorten zur Verfügung standen: sein Eisenachisches Kindergesangbuch von 1673, das Lüneburgische Gesangbuch von 1695, das Arnstädtische Gesangbuch von 1701 und die in Leipzig verbindlichen „Dreßdnischen Gesangbücher“ von 1707 und 1730. Nur an einer Stelle musste dieses Prinzip durchbrochen werden: Joachim Neanders Lied „Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren“, welches Bach 1725 in eine groß angelegte Choralkantate (BWV 137) über alle Strophen des Lieds verwandelte, stand noch in keinem der Gesangbücher, die Bach jeweils zur Verfügung standen – in Leipzig sogar erst ab 1745. Das Lied war zu neu, nämlich erst 1679 erschienen, weshalb hier ein Frühdruck von 1709 gezeigt wird. Vermutet wird, dass Bach es in seiner Weimarer Zeit 1703 und erneut 1708 bis 1717 kennengelernt hatte, wo es dann schon 1722 ins Gesangbuch aufgenommen wurde.
Dies räumt zugleich mit einem weiteren Missverständnis auf, dass nämlich Bach eine „allgemeine Vorliebe für das herkömmliche Repertoire“ reformatorischer Lieder bis „um die Mitte des 17. Jahrhunderts“ besessen habe. In Bachs Choralkantaten-Zyklus lässt sich eine solche Vorliebe nicht nachweisen: 16 von ihnen beruhen auf Liedern der Luther-Zeit (acht stammen von Luther selbst), 22 können dem „herkömmlichen Repertoire“ zugeordnet werden, und 14 Lieder waren neu und standen weder in Eisenach noch in Leipzig im Gesangbuch. Es ist also eine eher ausgewogene Auswahl von alten und neuen Liedern, die sich in Bachs Zyklus findet. Diese Auswahl dürfte ganz im Sinne des Dresdner Oberhofpredigers Bernhard Walter Marperger (1682–1746) gewesen sein. Dieser rief in seiner in allen verbindlichen Leipziger Gesangbüchern abgedruckten Vorrede in Erinnerung, dass Luther selbst zum Dichten andächtiger und geistlicher Gesänge aufgerufen habe: „Ob nun aber diesem zufolge unsere Evangelische Kirche, wegen der alten Christlichen Gesänge, die neuen nicht verwirft; so will sie doch auch, bey denen neuen, die alten gar nicht vergessen haben, noch überdrüßig werden. […] Da denn die Kirche [...] einem klugen Haus-Vater ähnelt, der, aus seinem guten Schatz, Neues und Altes hervorzutragen weiß.“ Ähnlich finden wir auch in Bachs Matthäus-Passion ganz alte Lieder („Christe du Lamm Gottes“, Johann Decius, vor 1529) zusammen mit hergebrachten („Herzliebster Jesu, was hast du verbrochen“, Johann Heermann, 1630) und neuen, nicht in den allgemeinen Gesangbücher stehenden („O Haupt voll Blut und Wunden“, Paul Gerhardt, 1656). Bachs Mitwirkung an dem 1736 von Georg Christian Schemelli (um 1676–1762) in Zeitz herausgegebenen „Musicalischen Gesang Buch“, das 954 Lieder enthält, viele davon neu und aus pietistischer Tradition, beweist endgültig: Bach hatte keine Berührungsängste gegenüber neuen Liedern.
Hauptexponat dieses Teils der Ausstellung ist schließlich eine „autographe Continuo Stimme“ aus dem eigenen Besitz des Museums: Sie gehört zum Stimmenmaterial für die Aufführung der Kantate „Herr Gott, dich loben alle wir“ (BWV 130) zum Michaelistag am 29. September 1724, das von Bachs Schreiber Christian Gottlob Meißner angefertigt und von Bach eigenhändig mit Überschriften versehen und korrigiert wurde.
Die Bebilderung der Ausstellung enthält einige reformationskritische Untertöne. Nicht so sehr auf dem neu entdeckten Historiengemälde des jüdischen Malers Carl Schorn (1818–1900) von ca. 1838, welches Papst Paul III. zeigt, den Begründer der Jesuiten und der Inquisition als Waffen der Gegenreformation. Vor einem Glas Rotwein an einem mit frischem Obst in goldenem und silbernem Hausrat gedeckten Tisch sitzend, in roter Samttracht und umgeben von antiken Statuen, betrachtet er mit seinen Beratern das von Lucas Cranach gemalte Bildnis Martin Luthers, der darauf auf die Bibel verweist.
Carl Schorn (1800–1850): Papst Paul III. das Bildnis Martin Luthers betrachtend, Öl auf Leinwand, Berlin, vor 1838/39 (Foto nach Restaurierung). Foto: Dirk Scherer / Bachhaus Eisenach
Mehr aber durch die Lithografien des zeitgenössischen Malers Johannes Heisig, welche die einzelnen Stationen der Ausstellung voneinander trennen: Sie zeigen eine Auswahl der mittelalterlichen Schnitzplastik im Eisenacher „Thüringer Museums“: über 250 Kruzifixe, Heiligenfiguren und Altäre. Heute sind zu dieser Sammlung viele Leihgaben der mit der Konservierung überforderten Kirchgemeinden hinzugekommen. Bei ihrem ursprünglichen Teil soll es sich aber Kirchenschmuck handeln, der im „Bildersturm“ der Reformation aus den Kirchen entfernt worden waren, noch auf Dachböden lagerte und dann um 1810 von Goethe in Weimarer Auftrag gesammelt und angekauft wurde. Seit 1899 gehört er zum Grundstock des Museums. Heisig, der 2004 Stadtgast in Eisenach war und in der im Zug der Reformation 1523 profanisierten Predigerkirche sein Atelier hatte, in der die Plastiken damals lagerte, hat sie in ausdrucksstarken Federstrichen abgebildet. Dieses Mappenwerk benannte er nach einer Arie aus einer Bach-Kantate: „O du von Gott erhöhte Kreatur, begreife nicht, nein, nein, bewundre nur“. Sie gehört zu der Choralkantate BWV 121 über Martin Luthers Lied „Christum wir sollen loben schon“, das erstmals 1524 im Erfurter Enchiridion gedruckt worden war. Die Kantate hatte Bach im Rahmen seines Zyklus am 2. Weihnachtstag 1724 uraufgeführt. Zufälle gibt es, die gibt es nicht.
Die Ausstellungstafeln über den Gesangbüchern selbst sind mit aktuellen Fotos der Kirchen bebildert, in denen das jeweilige Gesangbuch in Gebrauch war oder die sonst mit dem hierin aufgeschlagenen Lied in Verbindung stehen. Denn natürlich gehört zum Gemeindelied stets auch eine Kirche und eine Gemeinde, die es in ihr singt. Hintersinnig bringt Hansen in den Untertiteln der Fotos auch die Erbauungsdaten und die Jahre, in denen die jeweiligen Kirchen und Dome protestantisch wurden, denn: „Dass die benachbarte Stephanskirche in meinem Heimatort eigentlich katholisch sei und 'uns weggenommen' wurde, war ungefähr das erste, was ich als katholischer Messdiener im Alter von 9 Jahren erfuhr“, erinnert sich Hansen. Etwas versöhnlicher sind die Beschriftungen über den Kirchenbildern in Gestalt von „Liedanzeigern“, auf denen nicht nur die EG-Nummer („Evangelisches Gesangbuch“) des Lieds, sondern auch die GL-Nummer genannt wird, unter welcher das Lied im katholischen Gesangbuch „Gotteslob“ zu finden ist – sie gibt es immerhin für die Hälfte der acht Lieder, welche in der Ausstellung näher behandelt werden.
Alle Fäden der Ausstellung laufen an einer unscheinbaren Station zusammen, die dem Ort Arnstadt gewidmet ist: Denn hier hatte Bach nach gängiger Datierung seine erste Choralkantate komponiert, in Thüringen und nicht in Leipzig, und nicht erst 1724/25, sondern schon 1707, als schlussendlich erfolgreiches Bewerbungsstück für seine neue Stelle in Mühlhausen. Diese Osterkantate „Christ lag in Todesbanden“ (BWV 4) beruht auf Luthers gleichnamigem Lied, das aber fast gänzlich vorreformatorisch ist: Der Text ist eine Verdeutschung des Prozessionslieds „Victimae paschali laudes („Weihet Lobgesänge dem Osteropfer“) des Wipo von Burgund (ca. 990–1050), und die Melodie ist jene zur „Leise“ der Augustiner „Christ ist erstanden / von der Marter alle / des sollen wir alle froh sein / Christ will unser Trost sein. Kyrieleis“, die Luther spätestens zwischen 1505 und 1508 als Mönch im Erfurter Augustinerkloster gesungen haben wird. Bach wiederum war, als er seine Kantate zu diesem Lied schrieb, Organist an der „Neuen Kirche“ (heute: Johann-Sebastian-Bach-Kirche) in Arnstadt, ein tatsächlich neues, protestantisches Bauwerk, dessen Orgel er 1703 spektakulär geprüft hatte, woraufhin er sofort eingestellt wurde. Dass Bachs erste Choralkantate hier, in Arnstadt, entstand, erscheint nicht zufällig. Denn Prediger an der Neuen Kirche war Johann Christoph Olearius, der Sohn des dortigen Superintendenten. Er hatte nicht nur 1701 und erneut 1705 das Arnstädtische Gesangbuch herausgegeben, aus dem die Gemeinde sang, während Bach die Orgel spielte, sondern auch mehrere hymnologische Werke, darunter den „Evangelischen Lieder-Schatz“ von 1707, mit einer Erklärung der Geschichte und der Bedeutung aller im Gesangbuch gedruckten Lieder. Darin enthalten sind auch „Liedpredigten“, die Bach in der Neuen Kirche nicht nur angehört, sondern auch mit dem jeweiligen Lied an der Orgel begleitet haben wird. So mag der ganze Leipziger Zyklus, in den Bach auch diese Kantate zu Ostern 1725 integrierte, auf eine 20 Jahre zurückliegende Begegnung in Arnstadt zurückgehen, zwischen einem Hymnologen in seinen Mittdreißigern und einem etwa 21-jährigen Organisten am Beginn seiner Karriere.
Luther liebte die Musik: Gottes Wort müsse gepredigt und gesungen werden, schrieb er, denn das Wort sei Verstand, die Noten Gefühl, beide müssten sich verbinden, um das Herz zu bewegen. Er ließ Musik in jeder Form im Gottesdienst zu: als Gemeindegesang, Chor, mit Instrumentalisten oder von der Orgel. Alles, was ihn an Götzendienst, an Opfer erinnerte, hatte er aus seiner Kirche verbannt: den Weihrauch der Messdiener, die prachtvollen Gewänder der Priester und Bischöfe, die liebevoll geschnitzten Heiligenbildnisse, deren Thüringer Reste in Eisenach aufbewahrt werden. Doch die sinnliche Verführung durch Auge und Nase ersetzte er durch die des Ohres: War das denn kein Widerspruch? Dass Luther den richtigen Riecher hatte, beweist die schnelle Adoption seiner Gesangbuch-Idee vom ersten katholische Gesangbuch von 1537 bis zum heutigen Gotteslob. Und ohne Luther kein Bach: Ohne Luthers Musikbegeisterung hätte Bach die reiche kirchenmusikalische Landschaft Mitteldeutschlands mit ihren zahllosen Stellen für Kantoren, Organisten und Kapellmeister nicht vorgefunden. So können alle, Protestanten und Katholiken gemeinsam, die Ohren spitzen und sich in diesem Jahr in Eisenach an zwei großen Jubiläen erfreuen.
Acht Lieder: 500 Jahre Gesangbuch – 300 Jahre Bachs Choralkantaten
Zu sehen bis 3. November 2024 im Bachhaus Eisenach, Frauenplan 21, 99817 Eisenach.
Geöffnet: täglich geöffnet 10-18 Uhr.
Weitere Informationen (Bachhaus)
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