Kultur, Geschichte & Management

Adolf Hitler bescheinigte sich selbst künstlerisches Talent, aber zu seinem Kummer stand er damit weitgehend allein, und so können wir verstehen, dass der Kampf gegen begabtere Künstler einen zentralen Teil seines Programms bildete. Ein besonders infames Kapitel war die Ermordung der Patienten, die die „Bildnerei der Geisteskranken“ geschaffen hatten.

 

Die von den Nationalsozialisten gleich zu Beginn ihrer Herrschaft vorgenommene Bücherverbrennung – „Ich übergebe den Flammen…“ – ist bis heute hinreichend bekannt, und auch die entsprechende Veranstaltung aus dem Bereich der bildenden Kunst ist keineswegs vergessen.

 

Immer wieder wird die „Schandausstellung“ über die „Entartete Kunst“ erwähnt. In ihr wurden ab 1936 massenhaft Kunstwerke anerkannter Künstler der Moderne absichtlich schief gehängt oder in ein schlechtes Licht gestellt, um zu demonstrieren, in welcher Weise bürgerliche Museen Geld verschwendet hatten. Und zu den Avantgardisten kamen noch allseits akzeptierte jüdische Künstler, von denen Max Liebermann wohl der bedeutendste war. Seine Bilder waren keine „blutgebundene Kunst“, und so waren sie eben für die Nationalsozialisten wertlos.

 

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Die meisten der in der Ausstellung präsentierten Werke waren von einer Kommission, die von dem Reichskunstkammerpräsidenten Adolf Ziegler (auch ironisch „Reichsschamhaarmaler“ genannt) geleitet wurde, in den verschiedensten Museen beschlagnahmt worden. Einige dieser Bilder wurden zu Spottpreisen im In- und Ausland verkauft, andere gleich vernichtet, und manche durften die Besucher in der Ausstellung anschauen. Angeblich sollen viele Bewunderer moderner Kunst eben deshalb die Ausstellung besucht haben: weil sie auf diese Weise Meisterwerke zu sehen bekamen, die ihnen sonst verborgen geblieben wären. Auch die "Große Deutsche Kunstausstellung" auf der jene Werke gezeigt wurden, die der nationalsozialischen Auffassung entsprachen, wurde von Adolf Ziegler zusammengestellt.

 

English erwähnt es nur nebenbei, aber diese Maßnahmen, in denen Ziegler und seine Helfershelfer die Geldverschwendung der Museen anprangerten, bedeutete selbst eine gewaltige Geldvernichtung. Denn angesichts der Massen von verkäuflichen Bildern hätte der Markt für die gestohlenen Bilder schlechter nicht sein können. Manch Interessent zögerte schon damals, gestohlene Bilder zu erwerben, auch wenn kaum jemand voraussehen konnte, dass noch im Jahr 2024 die Provenienz Thema sein würde. Jedenfalls wurden die meisten Bilder deutlich unter Wert verkauft. Dagegen hat der Erwerb expressionistischer Werke – zum Beispiel im Lübecker Behnhaus durch den weitsichtigen Carl Georg Heise, für den 1933 natürlich Schluss war – in den zwanziger Jahren für einen erheblichen Wohlstand in späteren Jahren gesorgt. Noch heute profitiert das Haus von der Klugheit seines ersten Direktors.

 

Es ging den Ausstellungsmachern (wollen wir sie „Kuratoren“ nennen?) um die Verleugnung der Kunst, und so wurden den Arbeiten großer Künstler Bilder von Geisteskranken gegenübergestellt. Ob Expressionisten, ob Abstrakte, Naturalisten oder Kubisten – sie alle sollten als schizophren oder idiotisch diffamiert werden. In diesem Zusammenhang griffen Ziegler und seine Kumpane auf eine in einer Heidelberger Psychiatrie entstandene Sammlung zurück, nach ihrem Leiter meist „Sammlung Prinzhorn“ benannt. Prinzhorn selbst hatte zehn Jahre zuvor unter dem Titel „Bildnerei der Geisteskranken“ ein schönes Buch zu diesem Thema vorgelegt, mit dem er sich schon einige Jahre lang beschäftigt hatte. Das Schicksal dieser Sammlung wie ihrer Künstler, sofern deren Identität überhaupt bekannt ist, und noch dazu das unstete Leben von Hans Prinzhorn ist das Thema eines vorbehaltlos zu empfehlenden Buches des englischen Journalisten Charlie English.

 

Es beginnt mit der Lebensgeschichte Franz Karl Bühlers (1864–1940), eines ungewöhnlich begabten und für eine kleine Weile sehr erfolgreichen Kunstschmiedes, der früh an Schizophrenie erkrankte und die letzten 42 Jahre seines Lebens in geschlossenen Anstalten verbrachte, bis er zusammen mit tausenden Leidensgenossen vergast wurde. Es waren besonders seine Bilder – auf seinen „Würgeengel“ kommt English immer wieder zurück –, die viele Künstler ansprachen. Mit Bühlers schrecklichem Tod und dem seiner Leidensgenossen beschäftigt sich das vierte und letzte Kapitel des Buches, das die technischen und organisatorischen Schwierigkeiten des Massenmordes sachlich und im Detail schildert; sogar die Busse, in denen die Opfer transportiert wurden, werden vorgestellt, oder wir erfahren den Namen der Firma, welche die erst in Grafeneck, später auch in Polen benutzen Krematorien aufstellte: J.A. Topf & Söhne.

 

Franz Karl Bühler

Porträt Franz Karl Bühler. Gemeinfrei. Franz Karl Bühler: „Das selbst“, 1919, Inv. Nr. 3018 recto © Sammlung Prinzhorn, Universitätsklinikum Heidelberg. Gemeinfrei

 

Franz Karl Bühler muss als Kunstschmied Erstaunliches geleistet haben. Er spezialisierte sich auf schmiedeeiserne Gitter für wilhelminische Toranlagen, und als Höhepunkt dieses Schaffens präsentierte er auf der Weltausstellung 1893 ein „etwa zwölf Meter breites dreiflügeliges Tor im Stil des Neobarock. Auf jedem der Teile wuchs von unten her ein wahrer Dschungel von Blüten und Blattwerk empor, ein geheimnisvoller schmiedeeiserner Garten.“ Für diese Arbeit erhielt er eine hohe Auszeichnung, aber leider habe ich nirgendwo eine Abbildung gefunden, so dass wir uns mit der obigen Beschreibung aus der Feder von English begnügen müssen. Unter heutigen Verhältnissen hätte er wohl auch als Kranker weiterarbeiten können – vielleicht als Insasse einer Anstalt, vielleicht unter einer lockeren Aufsicht – und der Welt noch einige schöne Arbeiten geschenkt; so aber war er zu einem Leben in der Tristesse verdammt. Immerhin durfte er malen.

 

Hans Prinzhorn, quasi nebenbei ein ausgebildeter Bariton, war sowohl promovierter Kunsthistoriker als auch Psychiater. Irgendwann stieß er in einem Schrank auf Bilder von Patienten, die er mit wachsender Begeisterung durchblätterte. Später versah er die Urheber zum Schutz ihrer Angehörigen mit einem Pseudonym – die meisten Künstler sind uns deshalb dem Namen nach unbekannt –, fasste die Blätter in einer Ausstellung zusammen und stellte sie schließlich sogar in einem Buch vor. Von Anfang an besuchten ihn bekannte Künstler, die dem Material mit mehr als bloßem Interesse begegneten. Besonders Alfred Kubin zeigte sich hingerissen. English spricht davon, er sei bei der Besichtigung der Sammlung fast „in Ekstase“ geraten, und wenig später (1922) veröffentlichte Kubin seinen Aufsatz „Die Kunst der Irren“, für den er auf Arbeiten der Sammlung zurückgreifen konnte. Andere Künstler, die sich von der „Bildnerei der Geisteskranken“ inspiriert fühlten, waren solche Giganten wie Max Ernst, Salvador Dalí oder Oskar Kokoschka.

 

Die Zeit war derartigen Projekten günstig. Viele Autoren (darunter sehr bedeutende) waren an seelischen Extremsituationen interessiert. Der selbst psychisch kranke Aby Warburg formulierte schroff: „Die ganze Menschheit ist ewig und zu allen Zeiten schizophren.“ Viele Künstler, und nicht allein des Expressionismus und des Surrealismus, ließen sich von ethnologischen Reisebeschreibungen inspirieren, wenn sie nicht gleich selbst in die Südsee oder nach Afrika reisten, und dann faszinierte sie mehr und mehr die Kunst von Geisteskranken. Besonders fühlten sie sich von der unbefangenen Zusammenfügung des Nicht-Zusammengehörigen, dazu von der antiklassizistischen Verrückung der Perspektive und der Wertungen angesprochen. Prinzhorn selbst betonte 1927 in seinem Aufsatz „Die erdentrückbare Seele“, dass Vergiftungszustände und psychotische Erlebnisse zu wertvollen Erkenntnissen führen, dass man also „mit dem Pathos der Ekstase echte fremdartige Erfahrungen macht, die nun aber wie Offenbarungen nachwirken“. Zum Beispiel erscheinen „Gegenstände bald sehr klein und bald sehr groß“, oder es gibt synästhetische Erlebnisse, in denen „die im Wachleben getrennten Sinnesgebiete des Hörens, Sehens, Riechens usw. zu einer kaum noch auflösbaren Einheit“ zusammenfließen.

 

Aber es gab noch einen anderen Grund, warum sich so viele Künstler von diesen Bildnissen angezogen fühlten: der Ausdruck größten menschlichen Leids, wie er zum Beispiel das Selbstporträt Bühlers auszeichnet. Für gesunde Menschen sind ja psychotische Zustände kaum nachvollziehbar! Der Schrecken einer Schizophrenie zeichnet viele Bilder aus, besonders aber das von English immer wieder angesprochene malerische Hauptwerk Bühlers, der „Würgeengel“. Dieses Bild ist zwar im Buch abgebildet, aber leider nur klein und leider im Netz nicht auffindbar. Prinzhorn verglich dieses Bild mit den Werken Matthias Grünewalds und, was ich weniger verstehen kann, Dürers! In der Beschreibung Englishs zeigt es „einen Gottesboten mit Heiligenschein, Schwert und dem leeren Gesicht eines Folterknechts, den Fuß auf die Kehle eines Mannes gestellt, der sich ihm zu entwinden versucht. Am rechten Rand des Bildes, von hinten dargestellt, ragen die verrenkten Beine des Opfers in die Luft.“

 

Hitler, der entschiedene Gegner der Moderne, wird in diesem Buch aus einem einzigen Punkt heraus dargestellt: Er ist ein gescheiterter Künstler, der als junger Mensch von der Akademie abgelehnt wurde. Wirklich entspricht diese Darstellung Hitlers durch English dessen eigenem Selbstverständnis. Das gilt besonders für die Feststellung, dass „es sich bei der Umgestaltung des Volkes um ein künstlerisches Unterfangen handelte.“ Weil Hitler Antisemit war, sollte alles in die Kunst von „reinblütigen Übermenschen“ münden. „Blutmäßig entartet“ durfte sie keinesfalls sein.

 

English ist keineswegs unkritisch, sondern vergisst nicht das Problematische, das in der Hochschätzung des Wahnsinns liegt. Auch ist seine Darstellung des einerseits geradezu übermäßig begabten und mit seinem Buch über die „Bildnerei“ äußerst erfolgreichen, andererseits sprunghaften und letztlich gescheiterten Prinzhorn sehr differenziert. Es ist ein journalistisches, in einem angenehm lebhaften Stil geschriebenes Buch, das auf jeden reißerischen Ton verzichtet, sondern immer sachlich und informativ bleibt. Die einzelnen Quellen und Zitaten werden nicht einzeln in End- oder Fußnoten nachgewiesen, sondern am Ende finden sich Anmerkungen zu den vier Kapiteln, in denen uns der Autor über die benutzte Literatur in einem kommentierenden Text aufklärt. Viele der Informationen sind leicht auffindbar – wenn wir von den zitierten schriftlichen Quellen aus Archiven einmal absehen –, aber das wesentliche Verdienst dieses guten und wichtigen Buches liegt nicht in der Ausgrabung unbekannter Tatsachen, sondern in der Darstellung des Geschehens und seiner stets zurückhaltenden und plausiblen Deutung.


Charlie English: Wahn und Wunder. Hitlers Krieg gegen die Kunst

Aus dem Englischen von Helmut Ettinger.

Aufbau Verlag 2023

400 Seiten

ISBN: 978-3351039356

- Weitere Informationen (Verlag)

- Weitere Informationen (Prinzhorn Sammlung)

 

Das Buch von Hans Prinzhorn „Bildnerei der Geisteskranken“ ist in verschiedenen Nachdrucken und noch dazu antiquarisch zu erwerben.

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