Musik
Stefan Herheims „Nozze di Figaro“: Mozart ist mehr als schöne Bilder - Forster

Mozarts „Le nozze di Figaro“ an der Hamburgischen Staatsoper – optisch bietet das Hamburger Regiedebüt von Stefan Herheim ein hinreißendes Spektakel, musikalisch ist noch Luft nach oben.

Der Premierenabend begann mit wenigen, aber notwendigen Worten von Intendant Georges Delnon. Am zweiten Abend nach den mörderischen Anschlägen in Paris sprach er davon, dass man unsere Kultur verteidigen müsse. Und im Theater bedeute das vor allem spielen, spielen, spielen. Worte, die der auch hier im Raum liegenden Verunsicherung Ausdruck verliehen und dankbar mit Applaus quittiert wurden.
Mozarts Ouvertüre schaffte dann mühelos den Bogen zur heiteren Leichtigkeit. Sie ertönte zur bühnenportalgroßen Projektion von Mozarts Partitur-Autograph, auf dem sich dank des Animationswitzes von fettFilm die Notenschrift verselbständigte, aus den Linien sprang, Strich-Männlein und -Weiblein formte, die hintereinander herjagen. Noten morphen zu Spermlein – und schon ist ein zentrales Thema der Oper gesetzt: Die Jagd nach Liebe oder wenigstens nach Sex. Große Heiterkeit und Applaus, noch bevor sich der Vorhang gehoben hat.
Als der sich öffnet, gibt es erstaunte Ahs und Ohs: Auf der Bühne zeigt sich ein langgestreckter Raum, dessen Wände aus Kopien von Mozart-Autographen bestehen (Bühnenbild: Christof Hetzer). 1500 sind es, wird der Intendant später verraten, befestigt mit kleinen Magneten. Sie geben die Notenblätter irgendwann auf Knopfdruck frei, die segeln dann enorm dekorativ zu Boden – ein zauberhaftes Flugblatt-Ballett. Unter den Notenblätter erscheinen als Gerüst Notenlinien – eine Art Käfig, der Sängerinnen und Sänger in der Handlung zusammenhält. Hübscher kann man die Bezeichnung „Commedia per musica“ des genialen Teams Mozart/Da Ponte nicht ins Bild rücken – die Bilder entstehen unmittelbar aus der Musik. Ein Einfall, der sich nicht nach fünf Minuten abnutzt, sondern bis zum Ende trägt. Die Noten ziehen sich als optisches Leitmotiv durch den ganzen Abend: Die Sängerinnen und Sänger tragen wunderhübsche Kostüme aus Notenstoff (Kostüme: Gesine Völlm) – auch sie sind Teil des musikalischen Kosmos, den Mozart erschaffen hat.

Das Bett – Ort der Schlachten, Siege und Niederlagen
Einziges Möbelstück auf der Bühne: ein XXL-Bett als überdeutliche Mahnung an das zentrale Thema der Oper. Da hier jeder hinter jeder her ist, was bei elf Solisten einige Verwirrung garantiert, müssen irgendwann alle mal in dieses Bett hinein und wieder hinaus. Wie bei Herheims hyperaktivem Bayreuther „Parsifal“ ist das Bett ein magisches Möbel, aus dem Mitspieler hervorgezaubert werden oder in dem sie wieder verschwinden. Und auch der Ort, an dem Figaro im lustvollen Liebesakt mit Susanna dem Grafen vorführt, was dem verwehrt bleiben wird. Ein Ort der Schlachten, der Niederlagen und Siege.

Herheim ist noch für mehr deftige Bilder gut. Beherzte Griffe ins Gemächt demonstrieren Begierden und Machtverhältnisse, der Graf führt irgendwann seinen Traum vom Ende des renitenten Figaro vor: Er hält dessen abgeschlagenen Kopf hoch – groteske Umkehrung des Schicksals, das in der französischen Revolution König Ludwig XVI. ereilen wird. Figaro dagegen verpasst dem notorischen Schürzenjäger einen gewaltigen Kinnhaken, der in Zeitlupe ausgespielt wird. Geträumter Klassenkampf pur.

Die vielen kleinen und größeren Intrigen, heimlichen Verabredungen, Eifersüchteleien – sie alle entwickeln sich bei Herheim aus dem Geist der Musik – Mozarts grandioser, zutiefst menschlicher Musik, der kein Gefühl fremd ist, nicht der halbstarke Gefühlsüberschwang eines Cherubino noch der Jagdeifer des Grafen, nicht die erkaltete Liebe, die die Gräfin beklagt, noch die Susannas Liebe zu Figaro, die gleichwohl den einen und anderen Seitenblick zulässt.

Doch die Ausgestaltung der Musik durch das Philharmonische Staatsorchester blieb trotz der Bemühungen von Alte-Musik-Spezialist Ottavio Dantone zumindest in der Premiere hinter dem Witz des Bühnenbilds zurück. Dieser neue „Figaro“ hörte sich erstmal so an, als hätte schon Jahrzehnte Routine auf dem Buckel; etliche unnötige Wackler zwischen Bühne und Graben inklusive.

Verpasst: der Herzstillstandsaugenblick der Verzeihung
Statt fein ziselierter Unterstützung der Sänger gab es verpasste Momente: Allen vorweg den Herzstillstandsaugenblick kurz vor dem rauschenden Finale. Der Moment, in dem der Graf die Gräfin um Verzeihung bitten muss und diese ihm jenseits aller Verwicklungen und menschlichen Schwächen gewährt wird. Der große Moment, wo zwischen Rache und Vergebung entschieden wird und die Menschlichkeit gewinnt – er gewann keine Kontur.

Das Orchester mag sich trotz des Antriebs durch Ottavio Dantone nicht zu bemerkenswerten musikalischen Akzenten inspirieren lassen. Kein Herzklopfen, keine Zweifel, kein Zögern. Mitreißend geht anders – da muss man nicht einmal den unter Live-Bedingungen unfairen Vergleich mit hochkarätigen CD-Produktionen bemühen wie René Jacobs eleganter, schlanker Aufnahme von 2004 oder das Feuerwerk , das der junge Wilde Teodor Currentzis im vergangenen Jahr gezündet hat.

Schwierigste Aufgabe jeder „Figaro“-Inszenierung: elf Solisten zu finden, die auf Augenhöhe miteinander singen können. Auch da ist in Hamburg noch Luft nach oben. Zwar gibt es mit Wilhelm Schwinghammer einen spielfreudigen, robusten Figaro und mit Katerina Tretyakova eine Susanna mit ebenso großer spielerischer wie stimmlicher Power. Die allerdings gerne noch differenziertere Gefühle und Klangfarben zeigen dürfte. ist Mit Kartal Karagediks zupackendem Almaviva kann man sich so gut anfreunden wie mit Katja Piewecks Marcellina. Und Dorottya Láng singt einen beherzt schmachtenden Cherubino, bei dem einem warm ums Herz wird und bei dessen Canzonetta „Voi che sapete“ die Noten beseelt durch den Raum tanzen. Die Gräfin von Iulia Maria Dan (Rollendebüt) darf vom Timbre und von der Seelentiefe her noch wachsen.

Stefan Herheims Regie verlangt den elf Solisten eine Menge Bewegung und Übersicht ab –aber das fährt sich ein, dann wird auch mehr freie Energie für die Konzentration auf die Musik bleiben. Für Hamburger Verhältnisse gab es einen großen und kräftigen Premierenapplaus. Die Inszenierung hat das Zeug, zeitlos schön die nächsten 20 Jahre auf dem Spielplan zu bleiben.

PS. Loben darf man jetzt schon, dass die Staatsoper einen Hauch internationaler geworden ist: Die Übertitel gibt es seit dieser Spielzeit in Deutsch und Englisch.

W.A. Mozart: Le nozze di figaro
Hamburgische Staatsoper (Dammtorstraße)
Nächste Vorstellungen: 17., 20, 26. und 3.12. (19 Uhr), 22. und 29.11. (18 Uhr). Tickets unter (040) 3568 68 oder im Internet unter www.staatsoper-hamburg.de


Abbildungsnachweis:
Fotos: Karl Forster
Header: Franz Mayer, Kartal Karagedik, Wilhelm Schwinghammer, Katerina Tretyakova, Dorrotya Láng, Christina Gansch, Chor der Hamburgischen Staatsoper

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