Musik

Der schottische Komponist und Produzent Erland Cooper veröffentlichte unlängst ein neues Album mit dem Titel „Carve the Runes Then Be Content With Silence“ (dt.: Schnitze die Runen und begnüge dich mit der Stille), das gleich mehrere Besonderheiten aufweist…

 

Vor drei Jahren, im Mai 2021, vergrub Cooper ein ¼-Zoll- Aufnahmemagnetband zusammen mit den dazugehörigen Notenblättern in der Nähe von Erlands Elternhaus auf den Orkney-Inseln, neben einem großen Stein. Dort blieb das Bündel bis 2024 unangetastet.

 

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Dass Kulturschätze und Kunstwerke vergraben werden, ist in der Geschichte nichts Ungewöhnliches. Archäologen können einen großen Teil ihrer Lebensarbeit damit verbringen, diese Dinge wieder freizulegen und der Menschheit zurückzugeben. Wir erfahren dadurch viel von vorangegangenen Generationen, deren Ritualen, Bräuchen und Kulturen.

 

Aber warum werden Werke vergraben? Weil sie Schätze sind – wie in unzähligen Romanen beschrieben –, zu groß, zu reich, zu gefährlich, um sie bei sich zu haben. Aus der Not heraus: wegen Überfällen, Eroberungen, Pogromen; als Grabbeilagen, um in einem jenseitigen Leben kultivierten und zivilisierten Status auszustrahlen; um Wertvolles überdauern zu lassen; weil sich Dinge politisch und ideologisch ändern und dennoch überdauern sollen; oder weil es sich um Kunstaktionen handelt.

 

Es gibt also Künstler, die das Vergraben methodisch betreiben. Wenn die deutschen Zwillingsschwestern und Künstlerinnen Barbara und Gabriele Schmidt-Heins einige ihrer Buchwerke[1] wochenlang vergruben, um Feuchtigkeit, Bakterien und Erde wirken zu lassen, dann u.a. aus dem Grund, den Faktor „Zeit“ zu thematisieren. Zeit in Form von Verwitterung – wie bei einem Vanitas-Stillleben der Barockzeit, steckt in den Büchern die Vergänglichkeit. In der Zersetzung, die Zeit und die Vergangenheit zu erkennen.
Die iranische Künstlerin Chohreh Feyzdjou ließ bei ihrer Aktion der Bildervergrabung[2] von 1994 im Skulpturenpark des Museums Kröller-Müller im niederländischen Otterloo einige ihrer Werke auf Leinwand verschwinden. Derlei Beispiele ließen sich weiter anführen, hier jedoch hat Erland Cooper einen anderen, weiteren Aspekt ins Spiel gebracht und der passt gut in diese Zeit.

 

Coopers Intension ist eine, die sowohl künstlerische- als auch philosophische- als auch umweltpolitische Zeichen setzt: Seine Tonaufnahmen sollten zu einem neuen Material werden. In den drei Jahren unter der Erde sollte sein Originalband und die Noten vom Boden genährt und bearbeitet werden und wie etwas pflanzliches zu etwas Neuem, Lebenden „heranzuwachsen“. Mit dem Akt des Vergrabens wurden parallel alle digitalen Kopien dauerhaft gelöscht und es bestand das Risiko, dass die Musik auf dem Band vollständig gelöscht und zerstört hätte werden können. Das Ergebnis wäre ein Verstummen gewesen. Bemerkenswerterweise blieb der Ton erhalten, wurde aber vom Erdboden verändert und um- bzw. mitkomponiert. Erland Cooper folgt damit einer modernen Haltung des Künstlers, indem er nicht mehr, wie der geniale Schöpfer auftritt, der Musik von der ersten bis zur letzten Note mit all seinen Gestaltungsmöglichkeiten verantwortet. Er delegiert vielmehr einen Teil der Verantwortung an die Natur, er lässt los. Er macht sichtbar als auch hörbar, dass er immer noch der Natur vertraut und zeigt, dass wir auf sie angewiesen sind, wir ohne sie gar nicht existieren können. Er macht das in keiner Weise in einer verklärten Art der Romantik des 19. Jahrhunderts, er macht das auch nicht aus einer Rousseau’schen Idee „zurück zur Natur“ heraus oder mit einem didaktischen Zeigefinger, sondern aus widerstandfähiger und langlebiger Inspiration heraus. Erland Cooper selbst erläutert: „Ich schreibe Musik, die von der Natur inspiriert ist. Insbesondere die Vögel am Himmel und der Boden und die Landschaft der Orkneyinseln. Die Idee hinter diesem Projekt ist also, dass ich meinen Prozess eigentlich nur mit der Natur teile. Es ist eine Meditation über Zeit, Geduld, Wert und Kunst selbst. Zu offenbaren, dass wir jetzt Musik haben, in allen Formen von Klang und Farbe, bedeutet, dass wir jetzt den wilden Beitrag der Natur zur Komposition feiern können, als eine Art gemeinsamer Akt der Widerstandsfähigkeit oder des Überlebens der Künste und der Natur gleichermaßen.“

 

Erland Cooper COVERNach drei Jahren unterirdisch folgte die Weltpremiere am 8. Juni 2024 – überirdisch – im Barbican-Centre in London[3], bei der das „ausgegrabene“ Mastertape zum ersten Mal abgespielt wurde. Ein großes Streichensemble führte Erland Coopers Neuvertonung des Bandes auf und erweckte das Mysterium zum ersten Mal zum Leben. Eingeleitet mit Texten, vorgetragen von John Wilson, der bei der BBC4 This Cultural Life moderiert, leitete die britische Violinsolistin Freya Goldmark (Ligeti Quartett) das nun fertiggestellte Konzert in Zusammenarbeit mit der Erde.

Über das Ereignis sagt John Wilson: „Die Entfaltung seines Violinkonzerts mitzuerleben war wirklich magisch. Die zahlreichen Standing Ovations für ein Ensemble, das mit Leidenschaft und Anmut von der Solistin Freya Goldmark geleitet wurde, waren mehr als verdient. Das Publikum, das allein durch seine Anwesenheit kollektiv Vertrauen in sich selbst gewonnen hatte, wurde von der Bühne zurückbeklatscht. Es war ein Abend, an dem hervorragende Musikalität, die Wunder der Kreativität und die Belastbarkeit analoger Tonbänder gefeiert wurden.“

 

Mit dem Titel „With Silence (Mvt. 3) (Pt. 2 'wow and flutter of unearthed magnetic tape')” und ursprünglich aufgenommen vom Soloviolinisten Daniel Pioro und der Streichergruppe Studio Collective liefert Erland Cooper eine sanfte, ergreifende Melodie, die von der einzelnen Violine in einem zarten Zusammenspiel zwischen Cello und Solist getragen wird. Die Textur des Bandes im Boden hat der Darbietung eine erdige Wärme und zusätzliche Verletzlichkeit verliehen. Jede Note darf verweilen und nachhallen, wodurch eine starke Intensität entsteht, gefolgt von leiseren, introspektiven Wellen, die uns zurück zur Schönheit der Natur oder der Landschaft der Inseln bringen, die dieses Werk geprägt haben.

 

Die Single folgt auf „With Silence (Mvt. 3) (Pt. 1 'con la memoria')”, ein Gedenkstück, das als Pause und Moment der Besinnung vor der Veröffentlichung dieser ersten Single dient. Diese zweiminütige Stille dient als Einführung in die erste Musiknote eines Bandes, das möglicherweise den ungewöhnlichsten Veröffentlichungsplan der Geschichte hat. Es wurde teils als Erinnerung und teils als Feier eines Meilensteins im Jahr 2021 geschrieben. So hätte die gesamte Platte klingen können und symbolisiert sowohl für das Plattenlabel als auch für das Publikum einen riesigen Vertrauensvorschuss in das Unbekannte von Kunst und Musik.

 

In einem beispiellosen Schritt stimmte das Plattenlabel des Komponisten, Mercury KX/Decca, der Veröffentlichung des Albums zu, das nicht abgemischt, sondern unter die Erde gebracht werden sollte. Die Times schrieb: „In einem Akt, der entweder bewundernswert oder verrückt ist, hat Decca Records Cooper für ein Album unter Vertrag genommen, auf dessen Veröffentlichung es drei Jahre warten muss.“ Ein Datum für die öffentliche Enthüllung im Barbican wurde ebenfalls bekannt gegeben, als das Band, bisher ungehört, in der Erde lag – ein Novum in der Plattenindustrie. Decca-Co-Präsident Tom Lewis erklärte: „Ich glaube, die Musikindustrie schreit lauter denn je nach echten Originalen, und ich glaube, Erland ist wirklich ein echtes Original. Das Risiko bestand darin, für eine Aufnahme zu bezahlen, die digital gelöscht wurde, die auf Band war und von dem, was auch immer im Boden ist, aufgefressen wurde.“

 

Außer den vergrabenen Noten hat Erland drei Kopien der Partitur drei Verwaltern anvertraut: dem Musiker Paul Weller („Nach all dem sollte es verdammt noch mal ein guter Mann sein …“), dem Roman-Autor Ian Rankin („Ich frage mich, ob der Typ wirklich Krimi-Autor hätte werden sollen – überall Hinweise zu platzieren und Spaß dabei zu haben.“) und der Radiomoderatorin Elizabeth Alker („Die Tatsache, dass er eine Platte aufgenommen und sie dann vergraben hat … das ist radikal!“). Das Werk ist eine brandneue Komposition für Solovioline und Streichensemble. In drei Sätzen (Satz 1: Carve the Runes / Satz 2: Then Be Content / Satz 3: With Silence) feiert es George Mackay Brown an seinem hundertsten Geburtstag – und wurde demnach 100 Jahre nach der Geburt des orkadischen Dichters geschrieben.

 

Als Erland das Band vergrub, hinterließ er eine kryptische Spur, die jeder, der möchte, suchen und finden kann. Er gab eine Karte heraus und veröffentlichte zu jeder Tagundnachtgleiche und Sonnenwende zusätzliche Hinweise. Das Band wurde im September 2022 gefunden und (buchstäblich) von den Orkney-Bewohnern Victoria und Dan Rhodes ausgegraben. Sie hatten einen ganzen Urlaub rund um die ungewöhnliche Suche geplant, die im Daily Telegraph als „ein Mysterium, das Musikfans quälte“ beschrieben wurde. Anschließend trocknete es in Plattenläden in Schottland und wurde hinter Schloss und Riegel öffentlich ausgestellt.

 

Ein Prozentsatz des Copyright-Anteils von „With Silence (Mvt. 3) (Pt. 2 „wow and flutter of unearthed magnetic tape“)“ geht an EarthPercent, Brian Enos Klima-Wohltätigkeitsorganisation der Musikindustrie, als schöne Möglichkeit, den Planeten als Interessenvertreter in musikalische Kreativität einzubinden und Geld für Klima-/Umweltorganisationen zu sammeln. Der Anteil der Erde an dem Song – und seine Einnahmen – gehen an EarthPercent, um ihn an Organisationen weiterzuverteilen, die sich mit der Klimakrise befassen.


Erland Cooper: „Carve the Runes Then Be Content With Silence“

Eine spezielle, recycelte LP in limitierter Auflage, signiert, nummeriert von 1-1000 inkl. einem Stück des Originalbands sowie einem Echtheitszertifikat, kann vorbestellt werden.

Label: Decca/Deutsche Grammophon

LP, CD (ausverkauft)

EAN: 0602465562415

Weitere Informationen (Label)

Weitere Informationen (Erland Cooper)

 

YouTube-Videos:

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- Erland Cooper – Carve The Runes (Filmed in Stonehenge, 3:35 Min.)

- Then Be Content - Mvt. 2 - Part 3 - 'Walking Through Heather and Peat’ / Audio (4:30 Min.)

 

[1] Vgl.: KERN, Hermann: Buchwerke, Barbara Schmidt-Heins, Gabriele Schmidt-Heins, München 1976; S. 165 u. 248 und https://haubrok.org/ausstellungen/paperwork-schmidt-heins/

[2] Der Vergrabungsprozess, an dem mehrere Personen beteiligt waren, wurde als Teil des Kunstwerks fotografisch dokumentiert und im Katalog zur Ausstellung „Heart of Darkness“ abgedruckt. Eine Gedenktafel mit der Aufschrift „Buried here are 39 canvases painted by Chohreh Feyzdjou“ ist bis heute Teil des Skulpturenparks. Weitere Informationen: Eckhardt, Julia (2023). 7. VERGRABUNGEN – UNERREICHBARE RÄUME. In: Julia Eckhardt/, Verbergen, Umschließen, Vergraben (173-212). transcript Verlag, Bielefeld 2023.

[3] Weitere Informationen (engl.): https://www.barbican.org.uk/whats-on/2024/event/erland-cooper-carve-the-runes-then-be-content-with-silence

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