Vieles an diesem Abend in der Lübecker Musik- und Kongresshalle (MuK) ist anders als bei einem „normalen“ Klassik-Konzert. Das zeigt sich gleich zu Beginn: Nach der launigen Einführung durch Christian Kuhnt, Intendant des Schleswig-Holstein Musikfestivals, in der er Lübeck, Tschaikowsky und uns Zuhörer mit einer märchenhaften Anekdote zusammenführt, treten nicht wie erwartet schwarzgekleidete Musiker und Musikerinnen entschlossenen Schrittes auf die Bühne, sondern summende, vokalisierende, musizierende, die sich wie Schlafwandler, wie Traumtänzer bewegen. Scheinbar willkürlich bleiben sie stehen, setzen sich nicht – außer die Cellisten und Cellistinnen, die beiden Harfenistinnen und die Pianistin.
Sie stimmen ihre Instrumente nicht. Stattdessen tauchen sie das Publikum in eine Klanglandschaft, changierend zwischen kompositorischer Idee und freier Interpretation. Das alles bereitet uns auf wunderbare Weise auf den märchenhaften Abend vor, bevor dann doch überraschend die Ouvertüre zum „Nussknacker“ einsetzt.
Märchenhafte Symphonie von und mit Kristjan Järvi
Diese wird zum Teil perkussiv aufgefrischt, in präzisem Ton und Tempo rhythmisch durchgeformt vorgetragen. Und so wird uns eine gute Stunde (ohne Pause) vom gesamten jugendlichen „Baltic Sea Philharminic“-Orchester auswendig (!) „Nutcracker – A Dramatic Symphony“ vorgestellt. Überleitungen in Form „meditativer Kadenzen“ verwenden berühmte Zitate aus Tschaikowskys „Nussknacker“ in der Fassung von Kristjan Järvi, kombiniert, neu gemischt und arrangiert mit Auszügen aus Werken von Grieg (Klavierkonzert a-Moll op. 16), Arvo Pärt (Swansong), Edward Elgar („Nimrod“ aus den Enigma-Variationen op. 36), Johnny Klimek und Tom Tykwer (Precision) und Marius Malanetchi (Winter Sky).
Dabei entwickeln sich symphonische Satzstrukturen mit wechselndem langsam-schnell-Muster – motivische Arbeit durch Verknüpfung und Imitation lassen durchaus symphonischen Charakter entstehen. Das alles wird von Kristjan Järvi, Gründer und Dirigent des Baltic Sea Philharmonic-Orchesters, kommunikativ geleitet, indem er von Beginn an höchst motivierend sympathisch das Publikum einbezieht. Das gelingt ihm durch Augenkontakt, allgemein-dirigentische Körpersprache und direkte rhythmische Animation – dynamisch durchaus differenzierend! Sein beeindruckender höchst individueller Dirigierstil zeigt höchsten körperlichen Einsatz, bedient sich des Kniefalls, des Sprungs, beidseitig kreisender Armbewegungen, flirrender Fingerspitzen und Synkopen akzentuierender gegenläufiger Armeinsätze. Das alles auf höchstem Energielevel und immer in freundlichem Orchesterkontakt. Und weil sämtliche choreographische Andeutungen im Orchester selbst vollzogen werden, klingt das Orchester nie begleitend, sondern selbstbewusst gestaltend eigenständig kraftvoll!
Das Publikum applaudiert am Ende stehend begeistert. Zwischendurch durften auch wir mal mit den Fingern schnipsen, der Dirigent höchstpersönlich forderte uns zu dieser Orchesterbegleitung auf. Auch das ist in einem Klassik-Konzert – wie so vieles an diesem Abend – eher ungewöhnlich und begeisterte offensichtlich und hörbar. Der Applaus, das Publikum scheint bestätigen zu wollen: Hier ist eine erfrischend neue Konzertform gefunden worden, die musikalisch-intelligent komplexe Partiturvorgaben mit Teilimprovisationen verknüpft, volkstümliche Wurzeln mit zeitgenössischer Klangsprache verbindet und kommunikativ das Publikum einbezieht. In der Zugabe nimmt Kristjan Järvi alte Gregorianik-Praktiken auf und erreicht so mit dem „Instrumental-Chor“ und dem Publikum durch differenzierte Handzeichen, quasi Neumen, eine adventliche Stimmung erzeugende Improvisation.
Es schließt sich bei aller symphonischen Anlage ein musikalischer Reigen, der beim Konzertbesucher den Eindruck hinterlässt, dass wir heute Abend einen harmonisch-friedlichen Konzertgruß der Ostsee-Anrainerstaaten Dänemark, Deutschland, Estland, Finnland, Lettland, Litauen, Norwegen, Polen, Russland und Schweden erlebt haben. Staaten, die einander in unruhigen Zeiten musikalisch die Hand gehalten haben. Ein klangvoller baltischer Frieden!
Baltic Sea Philharmonic: „Nutcracker Reimagined“
Die Aufführung fand am 2. Dezember 2024 in der Musik-und Kongresshalle Lübeck statt, Willy-Brandt-Allee 10, 23554 Lübeck
Gabrielė Bekerytė, Klavier | Baltic Sea Philharmonic | Kristjan Järvi, Dirigent
Kristjan Järvi: „Nutcracker Reimagined“
Piotr I. Tschaikowsky: Nussknacker / Dramatische Sinfonie arrangiert von Kristjan Järvi sowie Werke von Edward Elgar, Edvard Grieg u.a.
Dauer: 60 Minuten
Weitere Informationen (BSP, engl.)
Foto: Kristjan Järvi. Sunbeam Productions Siiri Kumari
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