Film
Snowpiercer

Atemberaubend, erbarmungslos, poetisch, aber nicht ohne Ironie.
Bong Joon-Ho sprengt alle Genres mit seiner düstren bildgewaltigen Allegorie auf die heutige Gesellschaft. Überzeugend: Chris Evans und Song Kang-Ho als Rebellen wider Willen.
 
Durch das unendliche Weiß eines ewigen Winters rollt ein Zug über den vereisten Planeten ohne jemals anzuhalten. Er ist die letzte Zuflucht der Menschheit. Vor siebzehn Jahren hatten die Regierungen von 79 Staaten beschlossen zur Abwendung der globalen Erwärmung eine chemische Substanz in die Erdatmosphäre zu leiten um die Temperaturen zu senken. Das Experiment misslingt, es kommt zu einer neuen Eiszeit, alles Leben wird ausgelöscht.
 
Retten vor der tödlichen Kälte konnte sich nur, wer Zuflucht gefunden hat auf ‚Snowpiercer’, dem Hochgeschwindigkeitszug des exzentrischen Industrie Tycoons und Multimilliardärs Wilford (Ed Harris, „A History of Violence”). Als Wächter der Lok und des gigantischen weltweiten Schienennetzes herrscht er wie ein faschistischer Diktator über seine rechtlosen Untertanen. Die wenigen privilegierten Reichen residieren in den vorderen Waggons, schwelgen in Luxus und Überfluss, während die meisten Passagiere zusammengepfercht auf engstem Raum am Ende des Zuges in grauenvollem Elend hausen. Mit brutaler Waffengewalt werden sie in den dreckigen, fensterlosen hinteren Waggons gefangen gehalten. Jeden Versuch sich gegen das gnadenlose Regime dieser Zweiklassengesellschaft aufzulehnen, haben die bestialischen Milizen bisher sofort niedergeschlagen. Doch der Widerstand der Unterdrückten wächst. Als Wilfords Soldaten wieder einmal Müttern ihre Kinder entreißen um sie in den vorderen Teil des Zuges zu entführen, kommt es zu Tumulten. Curtis (Chris Evans, „Captain America”), ein schweigsamer eher widerwilliger Rebell mit dunkler Vergangenheit, gibt dem Drängen seiner Freunde nach. Zusammen mit dem jungen ungeduldigen Edgar (Jamie Bell, „King Kong”), ein begeisterter Revolutionär, das genaue Gegenteil von ihm selbst, beschließt er, mit einem kleinen Trupp Gleichgesinnter nach vorn bis zur Lok vorzustoßen. Sie befreien den drogensüchtigen Sicherheitsexperten Namgoong Minsu (Song Hang-ko, „The Host”) aus dem Gefängnistrakt. Er ist der Einzige, der ihnen helfen kann, die Türen zwischen den einzelnen Waggons zu öffnen. Minsu willigt ein, verlangt für seine Dienste nicht nur, wie erwartet, Kronole, ein aus Industrieabfällen hergestelltes Halluzinogen, sondern auch, dass seine 17-jährige Tochter Yon (Ko Asung, spielte bereits in „The Host” Songs Tochter) ihn begleitet. Yon, im Zug geboren, verfügt über außerordentliche seherische Fähigkeiten und wird bald unentbehrlich für Curtis und seine Leute.
 
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Als der südkoreanische Regisseur Bong Joon-ho („The Host”, „Mother”) den Comic „Snowpiercer” in einem Seouler Buchladen zum ersten Mal aufschlug, soll er alle drei Bände sofort im Stehen hintereinander durchgelesen haben. Er war fasziniert von dem postapokalyptischen Szenario, dem Überlebenskampf der Menschen, wie die verschiedenen Waggons die hierarchische Gesellschaft widerspiegeln. Bong zeigte die Grafic Novel seinem Freund und Kollegen Park Chan-wook („Oldboy”), der ebenso begeistert reagierte. In 2005 sicherte sich Parks Produktionsfirma Moho Films die Rechte. Am 16. April 2012 begannen die Dreharbeiten in den Prager Barrandow Studios. Es ist der fünfte Spielfilm Bongs, aber der erste, den er (fast) ausschließlich in Englisch drehte. Das Drehbuch schrieb er zusammen mit Kelly Masterson („Before the Devil Knows You’re Dead”). Die Adaption des 1983 erschienenen französischen Comic „Le Transperceneige” von Jacque Lob, Jean-Marc Rochette und Benjamin Legrand konzentriert sich auf den ersten Band „Der Entflohene”. Die Produktionskosten beliefen sich auf circa 40 Millionen Dollar, für diesen aufwendigen wie anspruchsvollen dystopischen Action-Thriller ein vergleichsweise niedriges Budget, doch für Südkorea der bisher teuerste Film aller Zeiten.

Innerhalb des amerikanischen Studiosystems wäre für den Betrag ein Projekt solcher Größenordung nicht realisierbar gewesen. In Südkorea spielte der Film bereits an die 60 Millionen Dollar ein. Schwierigkeiten und Schlagzeilen aber machte Hollywood-Mogul Harvey Weinstein: er besitzt die Verleihrechte für die USA wie auch andere englischsprachige Länder und vertrat die Meinung, man könne „einem Publikum in Idaho“ nicht die Originalfassung von 126 Minuten zumuten, 20 Minuten sollten gekürzt werden. Nicht ohne Grund wird der amerikanische Produzent „Harvey Scissorhands”, („Harvey mit den Scherenhänden”) genannt. Sein Statement löste überall Empörung aus. Inzwischen hat Weinstein scheinbar eingelenkt, es bleibt bei 126 Minuten. Doch das klassenkämpferische Endzeitdrama wird jetzt nicht mehr in den großen Multiplex gezeigt, sondern nur in Arthaus Kinos, damit nimmt der Produzent dem Film jede Chance zum Blockbuster aufzusteigen. Das klingt ein wenig nach Rache.
 
Während in dem Science Fiction Epos „Elysium” die Weltordnung vertikal ist genau wie die Lehnspyramide im Feudalismus, besteht hier ein horizontales Klassensystem. Die ersten dreißig Minuten des Films sind geprägt von der düstren klaustrophobischen Verzweiflung des hinteren Wagens. Die zerlumpten fast grotesken Gestalten erinnern unwillkürlich an die Romane von Charles Dickens und die Elendsquartiere des 19. Jahrhunderts. Für Curtis und seine Begleiter lauern hinter jeder Tür zum nächsten Waggon neue Gefahren, aber sie erwartet auch eine unbekannte Welt, oder besser eine seit langem verloren geglaubte: Ob ultramoderne Sushi-Bar, Zahnarztpraxis auf dem neusten Stand der Technik, der viel frequentierte elegante Sexclub, das perfekt funktionierende unabhängige Ökosystem mit opulentem Treibhaus oder ein monumentales Aquarium, der Elite fehlt es an nichts und der Produktions-Designer Ondrej Nekvasil („The Illusionist”) hat ein Wunderwerk vollbracht.

Während am Ende des Zuges das Proletariat einen glibberigen ekelerregenden sogenannten Proteinriegel als einzige Mahlzeit erhält, gibt es für die Privilegierten alles im Überfluss. Je weiter der Protagonist sich in Richtung Lokomotive vorkämpft, desto surrealer wird die Umgebung. Besonders gespenstisch das Schulzimmer, in einer kunterbunten Kinderidylle werden die Jüngsten fachgerecht indoktriniert von einer erschreckend fröhlichen schwangeren Lehrerin. Hier lernen sie Wilford verehren und Hymnen über die spirituelle Bedeutung der Lok, jener sich selbst versorgenden Maschine, die, zur Gottheit erhoben, über das Schicksal der Menschheit entscheidet. Jeder Waggon hat seine eigene Geschichte, Funktion, Atmosphäre, Farben, er verändert die Akteure und den Fortlauf der Historie. Wie Rädchen in einer riesigen Maschine ist alles miteinander verzahnt. Regisseur Bong Joon-ho wechselt zwischen den Stilen: realistisches Sozialdrama, ironische Gesellschaftssatire, Actionthriller, philosophische Reflexion, Endzeitepos und einer Theatralik absurder als bei Godot. Dazwischen kurz ein Blick hinaus in die weiße (computeranimierte) Einöde, sie hat nichts von majestätischer Schönheit nur die erschreckender Trostlosigkeit eines Massengrabes. Durch die Klimakatastrophe verlor die Farbe Weiß für immer ihre Unschuld.
 
Kameramann Hong Kyung-pyo („Mother”) gibt den Szenen grade im hinteren Waggon jenes klaustrophobische Gefühl von Ausweglosigkeit, das bewusst an Konzentrationslager und Gulag erinnern soll. Genau wie einst der Zeichner Jean-Marc Rochette bleibt er nahe an dem Protagonisten dran, zieht den Zuschauer mit hinein in den engen Zug, entlässt ihn nie aus der Verantwortung, zwingt ihn zur Identifikation. Nähe wird zum Alptraum, die Ungewissheit unerträglich. Obwohl der Handlungsverlauf nicht linearer sein könne, nimmt die dramaturgische Spannung nie ab, die Tür zum nächsten Wagon zu öffnen, erinnert an die Level beim Videospiel. Maskierte mit Beilen, Tod, Verrat, Verführung und schwer zu ertragende Wahrheiten erwarten Curtis und seine Freunde. Regisseur Bong Joon-ho unterläuft geschickt die Erwartungen des Publikums, bricht jedes Genre auf, zerstört Stereotypen, macht Tilda Swinton, bei Jim Jarmusch gerade noch ein verführerischer Vampir zur abstoßend-hässlichen Karikatur einer Opportunistin im Dienste des Diktators. Mit dem Überbiss würde sie keiner wiedererkennen. „Snowpiercer”: eine vielschichtige Parabel über die, dem Untergang geweihte Zivilisation. Bong schildert eine erbarmungslose Gesellschaft, in der die Kluft zwischen Reich und Arm ständig wächst, und doch hat er die Hoffnung noch nicht aufgegeben. Er beweist sich wieder als Meister seines Metiers, voller Experimentierfreude, überbordend phantasievoll und unberechenbar wie seine Protagonisten. Nicht alle sind begeistert, es gibt auch durchaus kritische Stimmen. Bong Joon-Ho sprengt alle Genres aber nicht alle Klischees und propagiert die neuen Werte oft mit altem missionarischem Eifer, der gar nicht zu ihm passen will.
 
Als „beste Grafic Novel des 20. Jahrhunderts” bezeichnete die französische Tageszeitung Le Monde den 1982 erschienenen Comic „Schneekreuzer” von Jacques Lob und seinem Zeichner Jean-Marc Rochette. Der post-apokalyptische Comic mit dem französischen Originaltitel „Transperceneige” kam zunächst in Fortsetzungen bei dem belgischen Magazin À Suivre heraus und kurz danach bei Casterman in Buchform. Viele Jahre später, nach dem Tod von Jacques Lob, schuf Rochette zusammen mit dem Romancier Benjamin Legrand zwei Fortsetzungsbände, die 1999 und 2000 veröffentlicht wurden.
 
Im Ansatz ähneln Film und Grafic Novel sich: Mit seinen 1001 Wagen rollt der Schneekreuzer unaufhaltsam über den vereisten Planeten. Ein perpetuum mobile, Rettung und Gefängnis zugleich. Wer nicht zu den Reichen, der Elite zählt, ist „am Arsch”. So nennen die Soldaten das Ende des Zuges, wo die Ärmsten zusammengepfercht in Dreck und Dunkelheit vegetieren, völlig der Gewalt und Willkür des Militärs ausgeliefert. Proloff, ein attraktiver rebellischer Antiheld wird gefangen genommen, als er versucht den Zug zu verlassen um von draußen ein paar Wagen weiter aufzurücken in die Mittelklasse. Panik bricht aus, man fürchtet der Ausbrecher wäre kontaminiert oder könnte Krankheiten übertragen. Aber die Nachricht von seinem Mut macht die Runde. Adeline Beleau taucht auf, eine junge politische Aktivistin, die für die Rechte der unterdrückten dritten Klasse kämpft. Sie fordert Proloffs Freilassung. Keiner der beiden hat je die Welt des Anderen betreten. Eine seltsame Liebesbeziehung beginnt und ein unerbittlicher Kampf ums Überleben. Nach anfänglichen Repressalien der Miliz, werden die zwei aufgefordert, nach vorne in den Zug zu kommen. Eine Falle? Niemand weiß wirklich, wer über Lok und Schienennetz regiert. Die Neugier besiegt die Zweifel, und so macht sich das Duo mit einer Militäreskorte auf den Weg.
 
Der Einfluss des Existenzialismus, von Sartre und Camus, wird deutlich spürbar. Der Comic ist manchmal noch um vieles beunruhigender und komplexer als Bong Joon-hos Action Thriller und von verblüffender Spannung, Intrigen, Verschwörungen, Verrat. Adelaide stirbt. Laut einem geheimen Plan sollen die hinteren Wagen abgehängt werden um sich so politisch unzuverlässiger Elemente zu entledigen. Religiöse Fanatiker („Heilige Loko, Deine Bewegung, die Quelle aller Energie, möge sich nie verlangsamen und uns morgen wie heute die Segnungen bereiten, derer wir so sehr bedürfen”), machthungrige Militärs, ein greiser Zugführer, brutale Schläger, ein perfekter Überwachungsstaat entsteht inmitten von Eis und Schnee. Die Durchquerung des Zuges avanciert zur Chronik eines totalitären Regimes und deren verzweifelter Rebellion. Doch hier scheint jede Revolte sinnlos, vielleicht weil die Welt sich selbst zum Untergang verurteilte, als sie ihre Menschlichkeit verlor und die Maschine zur Gottheit erhob. Im zweiten und dritten Band ändert sich Rochettes Technik: statt Zeichnungen Gouachen. Die Bilder sind mehr gemalt als gezeichnet, abstrakter, transparenter. Der Einfluss von Zhu Da zeigt sich, ein chinesischer Maler und Kalligraph aus dem 17. Jahrhundert, den Rochette sehr bewundert. Nichts erinnert mehr an die detailliert realistischen, schraffierten Darstellungen Anfang der Achtziger Jahre. Die Handlung verlagert sich außerhalb des Zuges. Der Stil der Comics wird futuristischer, die Landvermesser, die schwer vermummt in Schutzanzügen durch die eisige Schneewüste stapfen, gleichen Astronauten oder Wesen einer anderen Galaxie. Um zum anderen Ende der Erde zu gelangen verlässt der Schneekreuzer, der letzte aller Züge, im dritten Teil das Schienennetz und kriecht wie eine Raupe auf den gefrorenen Ozean hinaus, magisch angezogen von den Akkordeonklängen einer längst vergessenen Melodie. Es ist das Zeitalter der Illusionen. Das höchste Glück der Passagieren bedeutet eine virtuelle Reise in die Vergangenheit. Nicht nur durch die Kälte, sondern auch an der Lüge geht die Menschheit zugrunde.

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Originaltitel: Snowpiercer  
Regie/Drehbuch: Bong Joon-Ho   
Darsteller: Chris Evans, Jamie Bell, Song Kang-Ho, Ko Asung, John Hurt, Tilda Swinton, Clark Middleton, Oktavia Spencer  
Produktionsländer: Südkorea, Frankreich, Tschechoslowakei, USA, 2013    
Länge: 126 Min.   
Verleih: Ascot Elite und MFA+FilmDistribution   
Kinostart: 3. April 2014 
 
„Schneekreuzer" von  Jacques Lob, Jean-Marc Rochette, Benjamin Legrand  
272 Seiten, Verlagshaus Jacoby & Stuart, ISBN 978-3-942787-08-6

Fotos & Video: Copyright MFA+FilmDistribution

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