173 Filme präsentierten die 64. Nordischen Filmtage Lübeck (NFL) vom 2.-6. November 2022 – 40 Filme mehr als im vergangenen Jahr!
Zu sehen waren Filme aus Skandinavien, dem Baltikum, Finnland, Island und Schleswig-Holstein, von denen einige garantiert den Weg ins Kino gehen werden.
Die Bandbreite reichte vom Kurzfilm über Kinder- und Jugendfilme, Dokumentarfilme, 360°-Arbeiten und Serien bis hin zu Spielfilmen. Spannend wurde es am Samstagabend, als im Lübecker Theater bei der Filmpreisnacht elf Preise im Gesamtwert von 63.000 Euro überreicht wurden. Durch den Abend führte gekonnt und launig Moderatorin Loretta Stern. Die erste der Trophäen – ein historischer Backstein aus Lübeck – hatte der isländische Regisseur Friðrik Þór Friðriksson bereits im Rahmen der Verleihung des (undotierten) Ehrenpreises bei der Eröffnung im CineStar entgegengenommen.
Die Preisträger:innen der 64. Nordischen Filmtage Lübeck. Foto: O. Malzahn
Boy from Heaven (OT: Walad Min Al Janna, Schweden / Frankreich / Finnland / Marokko / Dänemark, Regie: Tarik Saleh) gewann sowohl den mit 12.500 Euro dotierten NDR-Spielfilmpreis als auch den Kirchlichen Filmpreis Interfilm, dotiert mit 5.000 Euro. Der besagte Boy heißt Adam. Er ist Sohn eines Fischers und fleißiger Koranschüler. Der Imam seines Dorfes vermittelt ihm ein Stipendium der renommierten al-Azhar-Universität in Kairo. Als der höchste Geistliche vor den Augen seiner Studenten stirbt, gerät der unerfahrene junge Mann in erbitterte Auseinandersetzungen zwischen religiösen Gruppen und Regierung. Sie alle versuchen, ihren Kandidaten für die Nachfolge durchzubringen. Immer neue Komplotte werden geschmiedet, um dieses Ziel zu erreichen und die islamische Universität wird zum Tatort tödlicher Intrigen. Adam gerät in Konflikt mit seinen Glaubensgrundsätzen, seinen moralischen Überzeugungen und in Lebensgefahr. Das Genre des Politthrillers wird hier überzeugend aufgebrochen. Die politisch aufgeladene Stimmung in Kairo, das gnadenlose Vorgehen der Fundamentalisten und des Staates werden sichtbar gemacht.
Boy from Heaven / Walad Min Al Janna / Boy from Heaven. 2022, 125 min, Director: Tarik Saleh. SE, FR, FI, MA, DK. Men in White
Eine doppelte Ehrung erhielt auch die Produktion Girls Girls Girls (OT: Tytöt tytöt tytöt, Finnland, Regie: Alli Haapasalo). Der Film erhielt den Kinder- und Jugendfilmpreis der Gemeinnützigen Sparkassenstiftung sowie den Preis der Jugendjury. Die Freitagabende führen sie regelmäßig zusammen: Die Freundinnen Mimmi und Rönkkö, die in einem Smoothie-Shop arbeiten, und Emma, die ehrgeizige Eiskunstläuferin. Die drei sind auf dem Weg, erwachsen zu werden, aber sind noch nicht angekommen. Mimmi lässt ihren Gefühlen freien Lauf. Für Rönkkö ist Sex ein Mysterium. Für Emma ist Hochleistungssport Lebensinhalt. Der Film zeigt die drei an einer Reihe aufeinanderfolgender Freitage und zeichnet so ein episodisches Porträt von Emma, Mimmi und Rönkkö auf der Suche nach ihren Wünschen.
Erstmalig vergeben wurde der Preis für den Besten Nordischen und Baltischen Kurzfilm. Diesen erhielt der kleine, feine, anrührende Dokumentarfilm The School by the Sea (OT: Skolen ved havet, Norwegen, Regie: Solveig Melkeraaen). Thorvins kleine Dorfschule wird geschlossen. Jetzt muss Thorvin bald in eine neue Schule gehen, in der er die Kinder nicht kennt. Darüber macht er sich Gedanken, aber auch über jede Menge anderes: über Taupfützen, die sich nach Liebe anfühlen, Galaxien, die andere Galaxien verschlucken, und über seinen Bruder, der anders ist als die anderen und den er liebt.
Den mit 5.000 Euro dotierten Baltischen Filmpreis für einen nordischen Film erhielt Godland (OT: Vanskabte Land, Dänemark / Island / Frankreich, Regie: Hlynur Pálmason). Eine aufwendige Filmproduktion, die mit drei Toten, monumentaler Musik und einem riesigen Abspann (aller Mitwirkenden) endet. Acht alte Fotos bilden Hintergrund und Ursprung dieser langen filmischen Erzählung, die mitunter doch recht aufgesetzt, weil zu künstlich-kunstvoll in Szene gesetzt wirkt. Die Geschichte geht so: Ende des 19. Jahrhunderts wird ein junger dänischer Pfarrer nach Island geschickt. In einer abgelegenen Siedlung auf der rauen Insel soll Lucas eine Kirche errichten. Er könnte mit dem Schiff dorthin gelangen, doch er wählt den mühevollen, nicht ungefährlichen Weg übers Land, um Land und Leute kennenzulernen. Er heuert eine Handvoll Einheimischer als Begleiter an. Sein Hauptgepäck sind ein großes Holzkreuz und seine Fotoausrüstung. Doch wo immer der Pfarrer seine Kamera aufbaut, zeigt sich, er kann sich kein reales Bild von Land und Bewohnern machen, Menschen und Natur entziehen sich ihm. Die Unkenntnis der isländischen Sprache führt zu weiteren Komplikationen. Mehr und mehr kommt er von seiner Mission und vom Handeln im Glauben ab. Am Ziel angekommen, scheint Lucas sein moralisches Gleichgewicht völlig zu verlieren. Inmitten einer von Mythen und Märchen besetzten Landschaft wirkt das Holzkreuz nur noch absurd. Das gilt auch für manche Szenen. Einige sind wirklich schön, wie im Trailer zu sehen ist, andere sind wirklich albern, wie im Film zu sehen ist.
Godland / Vanskabte Land / Volaða land / Godland. 2022, 143 min, Director: Hlynur Pálmason. DK, IS, FR, SE. Priest Lucas on the Beach. Snowglobe
Den mit 5.000 Euro dotierten Dokumentarfilmpreis des DGB Bezirk Nord gewann Ruthless Times – Songs of Care (OT: Armotonta menoa – Hoivatyön lauluja, Finnland, Regie: Susanna Helke). Ein Film, der zu Herzen geht, zumal er auf ungewöhnliche Weise Themen behandelt, die dem Menschen im allgemeinen Angst einjagen: Alter, Sterben und Tod. Auch die andere Seite, die problematische Arbeitswelt der Pflegekräfte, wird uns vor Augen geführt. Es wird viel gesungen in diesem Film. Denn der Mensch - in diesem Fall die erschöpften Pflegerinnnen und die teils todmüden Altenheimbewohner - kann sich nur noch im gemeinsamen Gesang behaupten. „Wir sind todmüde“, singen die Pflegekräfte im Chor. Die Alten fallen ein, stoisch, unbewegt: „Ein Tod in Würde ist zu teuer.“ Die Last ist groß, die Arbeit für die Pflegerinnen kaum zu schaffen. Die schöne neue Welt der Digitalisierung hält daher Einzug in die Welt der Heimbewohner. Leben, Arbeit, Sterben und Tod scheinen so beherrschbarer zu werden: „Du musst nur den richtigen Knopf drücken“, heißt es, als ein alter Mann nach längerem guten Zureden neugierig genug geworden ist, um Kontakt zum Roboter Sara aufzunehmen. Wir erhalten mit diesem Film Einblicke in eine Welt, in der die Menschlichkeit mehr und mehr in der Unschärfe verschwindet und in der Pflegerinnen am System verzweifeln und dennoch unermüdlich weitermachen.
Den Preis des Freundeskreises für das Beste Spielfilmdebüt, dotiert mit 7.500 Euro, nahm Katrine Brocks auf der Bühne des Theater Lübeck für ihren Film The Great Silence (OT: Den store stilhed, Dänemark) entgegen. Eine konsequent erzählte, glaubhafte Geschichte um eine junge Frau, die sich im Kloster auf ihr Gelübde vorbereitet. Das Leben dort scheint Alma Rückhalt zu geben. Sie kümmert sich rührend um eine todkranke Nonne und nimmt aufmerksam die Anrufe auf dem Seelsorgetelefon des Ordens entgegen. Doch manchmal verdunkeln sich ihre hellen Gesichtszüge. Auf ihren Schultern scheint eine Last zu liegen. Wir sehen, Alma fügt sich selbst Verletzungen zu. Und plötzlich steht ihr älterer Bruder, ein trockener Alkoholiker, vor der Klostertür. Mit ihm tritt eine verdrängte Familiengeschichte ein. Welches Geheimnis verbindet Bruder und Schwester? Gekonnt spielt Katrine Brocks in ihrem Regiedebüt mit Elementen des Psychothrillers. Mysteriöse Klänge, seltsame Geräusche und Lichteffekte laden Szenen spannungsvoll auf und eine unausgesprochene Schuld tritt endlich ins Tageslicht.
The Great Silence / Den store stilhed / The Great Silence. 2022, 95 min, Director: Katrine Brocks. DK. Mia Mai Dengsø Graabæk
Die Publikumsjury der Lübecker Nachrichten entschied sich für die Komödie Everybody Hates Johan (OT: Alle hater Johan, Norwegen, Regie: Hallvar Witzø). Der Preis ist mit 5.000 Euro ausgestattet. Vorweg gesagt: Es ist ein bombiger Film, ein bombastisches Kinoereignis, das auch feine, leise Töne zu bieten hat. Johan ist anders als andere: Er drückt seine Gefühle nicht mit schönen Worten, Gesten oder Blumen aus. Er greift stattdessen lieber zur Dynamitstange. Was gibt es Schöneres, als gemeinsam in Deckung zu gehen und, Händchen haltend, die Explosion aus sicherer Entfernung zu betrachten? Nur was, wenn der Sprengstoff früher hochgeht oder die Stange in die falsche Richtung geworfen wird? Erzählt wird die Lebensgeschichte eines Einzelgängers, der nichts lieber möchte, als dazugehören und über einen schier unerschöpflichen Vorrat an gefährlichen Gütern verfügt. Seine Eltern, kommunistische Widerstandskämpfer im Zweiten Weltkrieg, sprengten sich versehentlich selbst in die Luft. Die ländliche Umgebung, Onkel und Tante, bei denen er aufwächst, und erste Liebe(n) geben Johan Rückhalt. Doch leider wird er von seinem sonstigen Umfeld nur angefeindet. Während alle auf Distanz gehen, sobald er auftaucht, kommen wir ihm immer näher. Ein berührender, tragisch-komischer, typisch nordischer Film – genau so wie wir die nordischen Filme lieben.
Regisseurin Pola Rader freute sich über den mit 5.000 Euro dotierten CineStar Preis, der ihr in Lübeck für ihren Film und starben an dem gleichen Tag (OT: and died together one day, Russland / Finnland) überreicht wurde. „Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute und starben an dem gleichen Tag.“ Mit diesen Worten enden russische Märchen und Liebesgeschichten. In durchkomponierten Bildern untersucht der Film die romantisierte Darstellung von Paarbeziehungen, ihre ästhetische Idealisierung und den Mythos Liebe in unserer Kultur.
Der Preis der Kinderjury, dotiert mit 5.000 Euro, ging an den Spielfilm My Robot Brother (OT: Robotbror. Dänemark, Regie: Frederik Nørgaard). Wir befinden uns in einer nicht allzu fernen Zukunft. Hier lebt Alberte mit ihren Eltern und Robbi, einem G13-Roboter in Teddygestalt. Robbi gehört schon seit vielen Jahren zur Familie und hat Alberte als Kind oft Gutenachtgeschichten vorgelesen. Leider will er das immer noch und bringt sie damit in Verlegenheit. Außerdem ist Robbis Autokorrektur kaputt und er funktioniert nur noch verzögert. Robbi ist daher für Alberte nur noch peinlich. Deshalb wünscht sie sich einen neuen Roboter. An ihrem 12. Geburtstag bekommt Albertine von ihren Eltern tatsächlich einen SapioG20 geschenkt – obwohl der noch gar nicht auf dem Markt ist! G20 funktioniert halborganisch, Robbi nur digital. Der alte Roboter versucht daher vergeblich, mit dem neuen in Verbindung zu treten. Und schon sind wir mittendrin in einer fragwürdigen denkbaren menschlichen Zukunft, die unterhaltsam vor unseren Augen aufgefächert wird.
My Robot Brother / Robotbror / My Robot Brother. 2022, 84 min, Director: Frederik Nørgaard. DK. Andreas Bastiansen
Ein Film soll an dieser Stelle unbedingt noch erwähnt werden, der absolut preiswürdig ist – vielleicht klappt es auf einem anderen Festival: Sister, What Grows Where Land is sick? (Norwegen, Regie: Franciska Eliassen). Es ist die Geschichte zweier Schwestern, eine Coming-of-Age-Geschichte. Es ist aber auch die Geschichte unserer Welt, unserer Sünden, unserer Sehnsüchte. Die jüngere Schwester liest die Tagebücher ihrer älteren Schwester, um diese besser verstehen zu können. Denn die große Schwester driftet immer mehr ab, sie zerbricht allmählich an den Unwägbarkeiten des Lebens, an den Unzulänglichkeiten der Menschen, an all den Fragen, die unbeantwortet bleiben. Ein Film voller Weisheit, voller Problematik, ohne Lösungen. Ein tragisch schöner Film, geprägt durch einfühlsame Bildern, Szenen, Farben, Musik. Es ist auch ein Tribut an eine Geschwisterliebe und die Aufarbeitung der eigenen Familiengeschichte. Denn: Regisseurin Franciska Eliassen setzt sich in ihrem Spielfilmdebüt auch mit dem Schicksal der eigenen Schwester auseinander. Gedreht wurde dieser Film in sagenhaften siebeneinhalb Tagen mit Hilfe unglaublich weniger Mitarbeiter:innen. Absolut sehenswert!
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