Das aspekteFESTIVAL Salzburg zeichnet sich gleich durch mehrere Besonderheiten aus: Es kann mit der 46. Festivalausgabe 2022 auf eine lange Tradition zurückblicken (Gründung 1977, seit 2006 im biennalen Rhythmus), es ist ein wichtiger Hotspot für Uraufführungen – in diesen Jahr allein elf. Das Neue Musik-Angebot für Jugendliche gehört sowohl zur zentralen Vermittlungsarbeit wie zur konzertanten Aufführungspraxis des Festivals und schließlich gibt es grundsätzlich genreübergreifende Ansätze und Kommunikationen in andere künstlerische Felder.
Den Maßnahmen der Pandemie und der permanenten Planungsunsicherheit geschuldet, wurde das Festival 2020 zu einem reinen Online-Festival im Jahr 2021. Trotz der Kurzfristigkeit der Veränderungen und auf der Suche nach alternativem Rezeptionsverhalten konnten Ludwig Nussbichler und sein Team Kräfte vereinen, Formen (er-)finden und Konzerte präsentieren, die nicht auf dem Abfilmen von Bühnen oder Orchestergräben beruhte, die ins Netz gestellt wurden, sondern die sich ernsthaft mit der Problematik zu Fragen der Digitalität und einem zukünftigen Umgang mit analogen und digitalen Räumen beschäftigte.[1] Analog wie digital zu arbeiten, komponieren, aufzuführen etc. – und zwar nicht als gegenseitiges Ausschlusskriterium als vielmehr einem – und im neuen Bewusstsein – zu schaffender Möglichkeitsraum. Dieser Raum dient gleichermaßen Produzenten wie Konsumenten von Musik, benötigen jedoch langfristiges und gezieltes Agieren.
Am Ende haben wir schließlich alle gemerkt, dass das gemeinsame Erlebnis im analogen Raum mit den Musiker*innen sowie anderen Besucher*innen der Musik-unserer-Zeit-Konzerte nicht zu überbieten sind.
Insofern sind die Freude und der Hunger groß, wenn ab Mittwoch, den 16. März 2022 und mit dem Eröffnungskonzert im Kammermusiksaal Solitär der Universität Mozarteum Salzburg das aspekteFESTIVAL eingeläutet wird. Weitere neun Konzerte stehen auf dem Programm, das schließlich am Sonntag, den 20. März am selben Ort endet.
Weite, zeitlich und gesellschaftlich zu spannende Bögen
Das aktuelle Musikgeschehen im Bereich der neuen Musik gesellschaftlich abzubilden und vorzustellen ist beim aspekteFESTIVAL seit Jahren eng verknüpft mit „Composern in Residence“. Rebecca Saunders ist eine extrem konzentriert arbeitende, handsignierte Unikat-Künstlerin – aus London stammend, in Berlin lebend – deren bisherige sowie neue Werke auf dem Festival in Salzburg wohnen werden. Die „Möblierung“ sind Ensembles Ihrer Wahl. Gäste kommen und gehen wieder (Bartók, Webern, Glojnarić, Grisey, Mochizuki, Buene, Döttlinger u.a.), bilden einen Dialog, eine Kontroverse, ein Miteinander und begeben sich in den Konzerten auch gemeinsam auf die Suche nach Ausdruckskraft.
Rebecca Saunders. Foto: Astrid Ackermann
Saunders, die bereits 2003 in Salzburg an zwei Abenden zu Gast war, sorgte schon damals für Aufmerksamkeit, ob ihrer kompositorischen Überlegungen. Sie passt einige ihre Kompositionen an Räume an, collagiert, verändert, spielt mit deren physischer und akustischer Präsenz — die Räume werden konkret und gleichzeitig geistig abstrakt, bestimmte klangliche Volumina entfalten sich und werden selbst Ort. Sieben Kompositionen werden beim aspekteFESTIVAL vorgestellt von unterschiedlichen Ensembles wie u.a. dem Trio Accanto, Quatuor Diotima und dem NAMES.
Vor 100 Jahren gründeten Komponisten der Zweiten Wiener Schule im „Café Bazar“ in Salzburg eine bis heute wichtige Vereinigung: die „Internationale Gesellschaft für Neue Musik“, im Deutschen kurz IGNM[2] bezeichnet. Sie wurde zur Förderung der Neuen Musik am 11. August 1922 auf Anregung von Rudolf Réti und Egon Wellesz eingerichtet, in Anwesenheit der Komponisten Béla Bartók, Paul Hindemith, Arthur Honegger, Zoltán Kodály, Darius Milhaud und Anton Webern sowie in Abwesenheit von Alban Berg, Maurice Ravel, Ottorino Respighi, Arnold Schönberg und Igor Stravinsky. Sitz des 1923 entstandenen Dachverbandes „International Society for Contemporary Music“[3] (ISCM) wurde zunächst London, seit 2018 Wien – 66 weitere Verbände in über 50 Ländern gibt es – die österreichische Sektion agiert ebenfalls von Wien aus. Das Jubiläum wird 2022 mit unterschiedlichen Veranstaltungen begangen: Konzerten, einer Tagung (20.-22. April) an der Universität Mozarteum Salzburg und einer Ausstellungseröffnung am Premierentag des aspekteFESTIVALS (16. März) im Großen Foyer am Mirabellplatz 1. „Achtung International! Salzburg & 100 Jahre Internationale Gesellschaft für Neue Musik“ lautet der Titel der Schau, die nicht nur die Gründungszeit nach dem Ersten Weltkrieg oder die Rolle Salzburgs, sondern das globale Wirken dieses musikalischen transkulturellen Friedensprojekts veranschaulicht. In der Ausstellung, die von Dr. Matthew Werley, (Generalsekretär der Internationalen Richard Strauss-Gesellschaft und Senior Lecturer der Musikwissenschaft, Universität Mozarteum Salzburg) kuratiert und verantwortet wird, werden Fotos, Dokumente, Partituren und Briefe zu sehen sein, die quasi die zeitgenössische Musik und das folgende gesamte 20. Jahrhundert der IGNM dokumentieren.
Ein anderes zeitgenössisches Thema, das uns alle seit einigen Jahrzehnten im Grundsatz beschäftigt, weil es um gesellschaftliches, soziales und kulturelles Miteinander, um Respekt und Wertschätzung, aber auch um Augenhöhe geht, ist der Bereich „Gender“. Offensichtlich ist es mittlerweile im deutschen Sprachgebrauch, – und der Suche nach adäquater Veränderung von Text und Sprache, die weder konstruiert noch absurd erscheint, sondern sich als natürlicher und sinnhafter Prozess ergeben darf. In diesem Prozess befinden wir uns gerade und loten die Handhabung aus. So ist es kaum verwunderlich, dass der Blick auch in einzelne Kapillaren des Gesamtsystems hineingeht und sowohl eine Podiumsdiskussion als auch eine Buchpräsentation „Gender in der Neuen Musik“ stattfindet. In der 2021 erschienen, 370 Seiten starken Publikation[4], „wird nach Vorurteilen in Bezug auf die Geschlechter gefragt, die fest in der Tradition verankert und teilweise bis heute mit Blick auf ästhetische, institutionelle und soziale Voraussetzungen Neuer Musik wirksam sind. Im Fokus steht der Zeitraum von den 1950er Jahren bis in die Gegenwart.“ Herausgeberinnen sind Dr. Vera Grund (Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Musikwissenschaftlichen Seminar Detmold/Paderborn) und Prof. Nina Noeske (Professorin für Historische Musikwissenschaft mit einem Schwerpunkt Gender Studies an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg). Die wissenschaftliche Untersuchung ist das Ergebnis einer Statistik, die im Rahmen der Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik 2016 veröffentlicht wurde, sowie des Symposiums „‘Sex‘ und ‘Gender‘ im Neue-Musik-Diskurs von der Gegenwart bis in die 1950er Jahre“[5], das im Juli 2018 an der Hochschule für Musik und Theater in Hamburg stattfand. Die Jahrhunderte einer männlichen kanonisierten Musikgeschichtsschreibung stehen zur Disposition. Was wäre wenn und wie kann/müsste es sein und wahrgenommen werden, zeigt sich bereits in Bewusstseinsveränderungen innerhalb des letzten Jahrzehnts.
Die Podiumsdiskussion am Nachmittag des 20. März wird bei freiem Eintritt im Kleinen Studio der Universität Mozarteum stattfinden. Eingeladen ist eine der beiden Herausgeberinnen der eben erwähnten Publikation, Nina Noeske, sowie Alexandra Karastoyanova-Hermentin (Komponistin, von der es eine Uraufführung auf dem Festival gibt) und Ludwig Nussbichler (Komponist und künstlerischer Leiter aspekteFESTIVAL). Die Veranstaltung moderiert Simone Heilgendorff (Musikwissenschaftlerin an der UdK Berlin und Bratschistin im Kairos Quartett/Berlin).
Werke von Komponistinnen wie Rebecca Saunders, Misato Mochizuki, Alexandra Karastoyanova-Hermentin, Irene Galindo Quero, Sara Glojnarić, Brigitta Muntendorf und Barblina Meierhans werden nicht nur zur Podiumsdiskussion, sondern vor allem im gesamten Festival zentrale Rollen spielen. Neun männliche Kollegen runden den Komponist*innenreigen ab.
Die Förderung von jugendlichen Nachwuchskomponist*innen ist den künstlerischen Leiter vom aspekteFESTIVAL, Ludwig Nussbichler, eine Herzensangelegenheit. Im Finale von „Jugend komponiert“ am 19. März im Kleinen Studio der Universität Mozarteum stellen diesjährig drei junge Komponisten ihre Werke vor. Aus der Instrumenten-Vorgabe Trompete (oder Flügelhorn), Akkordeon und Fagott entpuppten sich, von einer Jury ausgewählt, David Mayer, Mark Tullao und Niklas Chroust, alle zwischen 10 und 18 Jahre alt.
Titel müssen nicht viel aussagen, aber dieser: „Was der Fahrscheinentwerter zu berichten weiß“ von David Mayer klingt nicht nur kurios und narrativ, sondern macht sehr neugierig. Sein Stück wurde entsprechend von den Tönen der Fahrscheinentwerter-Automaten der Wiener U-Bahnen inspiriert.
Fahrscheinentwerter, Wien. Foto: Lissie Rettenwander
Das Stück in Sonatensatzform „I don’t know“ des 15-jährigen Mark Tullao, der im finalen Wettbewerb 2021 bereits mit seinem Werk „Traum“ überzeugte, beruht sicher nicht auf Unwissenheit. Auch dem Kompositionszyklus „Sternbilder – Astra“ des 18-jährigen Niklas Chroust ging 2021 im Wettbewerb „Sommernächte“ voraus. Seine Vertonung widmet sich aller anerkannten Sternbilder der Internationalen Astronomischen Union (IAU).
Das aspekteFESTIVAL Salzburg gehört auch im Jahr 2022 zu den wichtigsten und aussagekräftigsten Festivals zum Komplex der Musik unserer Zeit in Europa. Die vielen gespannten aktuellen, historischen und personellen Bögen, angefangen beim Vielklang der Themen, den zeitgenössischen Komponist*innen, über die Ensembles und die Nachwuchsförderung bis hin zum Publikum, kulminiert das Festival als große polyphone Idee: „Hören wir ihnen zu!“[6]
Aspekte Festival Salzburg
16. bis 20. März 2022 an folgenden Orten:
Szene Salzburg, Universität Mozarteum: Solitär, Kleines Studio, Max Schlereth Saal
Kartenbestellung: Einzelkarten und print@home-tickets unter ticket.re-creation.at oder Tel.: +43 (0)662 890083
Fußnoten:
[1] Vgl.: Aus der Stille geboren, die Leere umarmend – Die aspekteSALZBURG als Online-Festival
[4] Leseprobe: „Gender in der Neuen Musik“
[6] Zitat von Ludwig Nussbichler
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