Seit dem 19. August und noch bis 2. September läuft das Japan-Filmfest Hamburg – rein digital. Aus über 70 Filmen unterschiedlichster Genres, können sich Japanliebhaber wie bei Streamingdiensten es sich zuhause gemütlich machen und in eine Filmwelt eintauchen, die es selten in die deutschen Kinos schafft.
Neben Anime findet man Arthouse-, Rakugo (Unterhaltung/Komödien), Naginata (Action- und Horror-) sowie Kurzfilme. Wer allerdings glaubt, sich nun in ein exotisches Themenland zu begeben irrt, denn viele der Inhalte und Fragestellungen der Filme sind globaler Natur: Umwelt, soziales Leben, nachhaltige Gesellschaft, Coming-to-Age, Gewaltphantasien, Individualismus und die Suche nach sich selbst. Der Unterschied liegt in der Herangehensweise an diese vielfältigen Themen, japanische Eigenarten und Traditionen. So findet der Festival-Streamer das Eigene im Fremden und das Fremde im Eigenen.
Anime: Children of the Sea (海獣の子供, gesprochen: Kaijū no kodomo)
Dieser exzellent gearbeitete Anime-Film über ein junges Mädchen namens Ruka knüpft an Filme mit einem nachhaltigen Umweltbewusstsein wie „Nausicaä“ und „Prinzessin Mononoke“ an. Es geht um das Unbekannte und Mystische der Meere, in der unsere Entstehungsgeschichte enthalten ist.
Die Protagonistin fühlt sich in der Schule als Außenseiterin. Endlich sind Sommerferien! Anfangs noch zwiegespalten wie sie die Zeit verbringen könnte, denn ihr Vater arbeitet viel und scheinbar ständig am örtlichen Aquarium, die Mutter ist auf der Suche nach sich selbst, zwischen psychischem und alkoholischem Delirium.
Das Aquarium ist seit Rukas Kindheit ein Ort, den sie liebt, mit dem sie gute, überraschende und langanhaltende Erinnerungen verbindet.
Dort lernt sie die beiden einzigartigen Jungen Umi und Sora kennen, die von einem mysteriösen Geheimnis umgeben sind. Fasziniert von den eleganten Bewegungen der neuen Freunde im Wasser, ihrer Verbundenheit zum Meer und ihrem Umgang mit den dort beheimateten Meereslebewesen, stürzt sich Ruka in ein Abenteuer, wie sie es sich niemals zu erträumen gewagt hätte.
Zeitgleich treten auf der ganzen Welt beunruhigende und nicht zu erklärende kosmische und maritime Ereignisse auf, die von diversen Regierungen und Wissenschaftlern aufmerksam verfolgt werden und irgendwie mit Umi und Sora in einem Zusammenhang zu stehen scheinen.
Farbenprächtig, mit spannenden Perspektivwechseln und ausgezeichneten zeichnerischen und künstlerischen Mitteln umgesetzt, sind allein dies Gründe, den Film zu sehen!
Sind dreiviertel des Films etwas für die ganze Familie, so mündet er in eine philosophisch, faszinierende kosmische Welt, stellt Fragen nach dem Sein, unserer Herkunft nach Anfang und Entwicklung unseres Bewusstseins. Erst nach dem Abspann kommt, geradezu versteckt, eine Sequenz wie ein Filmbonus daher, der Ruka als junge Frau zeigt und mit dem Satz endet: „Die wichtigsten Versprechen werden nicht durch Worte gegeben!“
Arthouse: Father and Son (ボケとツッコミ, gesprochen: Boke to tsukkomi)
Zusammenhalt und Familienbande spielt auch in dem Film „Vater und Sohn“ eine maßgebliche Rolle. Regisseur Yūichiro Fujishiro gelingt ein außerordentliches Meisterstück: einfühlsam, respektvoll und an einigen Stellen humorvoll. Nie gerät der Film in Voyeurismus, die Kontrapunkte zwischen Erinnern, Wahrnehmen, Erkennen zum Vergessen, Loslassen und zur Orientierungslosigkeit sind fein ausgearbeitet und großartig schauspielerisch umgesetzt.
Inhaltlich oszilliert „Father and Son“ zwischen dem Ländlichen und Urbanen: Der arbeitslose Bauernsohn Kazuki lebt noch bei seinen Eltern und träumt von einer Karriere als Stand-up-Comedian. Doch sein Vater Yōji reagiert mit Unverständnis, macht sich lustig über ihn und verlangt, dass er endlich erwachsen werden soll. Doch dann erleidet Yōji plötzlich einen Schlaganfall, der ihn von einem Tag auf den anderen zu einem Pflegefall macht. Sohn Kazuki steht vor einer schweren Entscheidung. Soll er, um seinen demenzkranken Vater pflegen zu können, seinen Berufstraum endgültig begraben? Da kommt Kazuki eine verrückte Idee. Was wäre, wenn sie gemeinsam – Vater und Sohn – als Comedy-Duo auftreten würden?
Es entwickelt sich ein Pro und Contra und diese Mehrdeutigkeit zeigt die menschlichen Psychen auf. Der Humor bleibt auch gerne zwischendurch an den Kanten des Gewissens hängen. Kurze Momente der Klarheit des Vater suggerieren Normalität, die im nächsten Moment mit der Frage an den Sohn enden: „Wer bist Du?“.
Kurzfilm, Arthouse: The Barrel of Tochigi (栃木の樽, gesprochen: Tochigi no taru)
Diese kurze Dokumentation über einen japanischen Küfer aus der Stadt Tochigi (Zentraljapan) beschäftigt sich mit der Biographie und dem Handwerk seines Protagonisten Mikio Hagiwara. Fässer, Holzkübel und kleine Wannen, ästhetisch der japanischen Lehre des Katachi folgend, sind die Ergebnisse dessen Arbeitens. Katachi bedeutet wörtlich „Form“ und das ihr innewohnende Konzept, hat komplexe Bedeutungen, die nur im japanischen Verständnis des Begriffs zu finden sind. In Japan werden die Wissenschaft und das Handwerk der Form von Generation zu Generation von einer energetischen Gemeinschaft weitergeben.
Zwei unterschiedliche Materialen finden Verwendung in der Fassmacherei, Zedernholz und Bambus. Bis ins kleinste Detail wird händisch produziert, allein die Werkzeuge sind sehenswert, aber auch der liebevolle, meisterliche Umgang mit den Materialien. Arbeit und Ruhe, Konzentration – auch bei noch so banalen Tätigkeiten – ziehen sich fast meditativ durch den Kurzfilm. Selbst taktiles Empfinden suggeriert der Film, die Kamera fährt im Close-Up über die leicht rauen Oberflächen, des Holzes und den Glanz des Bambus.
Anime: Ride your Wave (きみと、波にのれたら, gesprochen: Kimi to, nami ni noretara)
Regisseur Masaaki Yasusa liefert ein sehenswertes und stilistisch hochwertiges Anime ab, das in seinen weichen Bildern und den Designs der farbigen Orte und Charaktere sowie der gesamten Geschichte ungewöhnlich für ihn ist. Denn diesmal verzichtet er auf durchgeknallte Typen – wie noch in seinen vorherigen Filmen. So glaubt man kaum, dass dieses Anime von ihm stammen kann.
Es beginnt geradezu süßlich als Liebesgeschichte zweier recht unterschiedlicher Charaktere, die sich im Laufe der Zeit und mit Filmdauer zu einem komplexen Konstrukt einer tiefsinnig verwobenen Beziehung steigert – nicht ohne Wendepunkt und viel Phantasie und Einbildungskraft und einen unerwarteten Ende.
Die leicht chaotische College-Studentin Hinako ist überglücklich, als sie zum Studieren in ihre alte Heimat an die Küste zurückkehrt und sich für ihr geliebtes Wellenreiten endlich wieder ins Meer stürzen kann. Während sie im Wasser spielend auf jeder Welle surft, fällt es ihr im Alltag schwer, ihr Leben ganz allein zu meistern.
Als in ihrem Apartmenthaus ein Feuer ausbricht, lernt sie den Feuerwehrmann Minato kennen, der mit beiden Beinen fest im Leben steht und sie sofort in ihren Bann zieht. Und auch Minato ist fasziniert von Hinako.
Minato kann fast alle Aufgaben an Land erledigen, ist aber ein Anfänger beim Surfen. Während sie surfen und viel Zeit miteinander verbringen, fühlt sich Hinako mehr und mehr zu Minato hingezogen, der sich darauf konzentriert anderen Menschen zu helfen.
Was Hinako aber nicht weiß: Beide sind durch ein Ereignis in der Vergangenheit schon lange miteinander verbunden.
Das große Glück wird jedoch jäh zerstört, als Minato beim Surfen verunglückt. Hinako ist völlig am Ende – bis sie bemerkt, dass ihre große Liebe ihr im Wasser erscheint, sobald sie ihr gemeinsames Lied singt. Er verspricht, sie so lange zu unterstützen, bis sie es schafft, endlich wieder auf ihrer eigenen Welle zu reiten...
Ein reines Online-Festival sollte erst gar nicht mit einem analogen – in Kinos stattfindenden – verglichen werden. Die Begegnungen fehlen, die Regisseure, Schauspieler fehlen, die Festival-Atmosphäre fehlt. Dennoch, was den Informationscharakter angeht, die Möglichkeiten sich geballt und konzentriert auf die japanische Filmproduktion der letzten Jahre einzulassen, das hat das Japan-Filmfest Hamburg vermittelt. Das japanische Kino lebt durch seine Vielfältigkeit. Alles ist zwar anders und reduzierter in diesen Zeiten, doch wie sagt ein japanisches Sprichwort: „Ob man weint oder lacht, ein Leben bleibt ein Leben."
21. Japan-Filmfest Hamburg
Das Online-Festival ist zu erleben bis zum 2. September 2020
- Online-Tickets
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KulturPort.De ist Medienpartner des Japan-Filmfest Hamburg 2020
Fotonachweis: Japan-Filmfest Hamburg
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