CDs KlassikKompass

Die Pianistin Hanni Liang stellt auf ihrem neuen Album fünf Komponistinnen vor: Ethel Smyth (1858–1944), Eleanor Alberga (*1949), Chen Yi (*1953), Sally Beamish (*1956) und Errollyn Wallen (*1958).

 

Die mit „Voices“ (for solo piano) betitelte CD gibt Komponistinnen Stimme –, dem Unbekannten, dem Zeitgenössischen mit einem Bogen ins ausgehende 19. Jahrhundert und dem kulturell Verbindenden.

 

Hanni Liang (*1993) steht für das Aufbrechen alter Konzertformate, sie ist ein kreativer Kopf, wenn es darum geht, Denkräume und Aufführungskommunikation zu gestalten. Der Begriff „Konzertdesignerin“ wird oft als zweite Berufsbezeichnung genannt. Die Schülerin von Matthias Kirschnereit unterrichtet mittlerweile selbst an der Musikhochschule in München.

 

Entdeckungen

Schon im November 2023 widmet sie sich in Bremen[1] in einem moderierten Konzert der britischen Komponistin und Frauenrechtlerin[2] Ethel Smyth. Sie, die Johannes Brahms, Clara Schumann, Anton Rubinstein, Max Friedländer und Edvard Grieg noch persönlich in ihrer Leipziger Zeit kennenlernte, komponiert ganz in der europäischen Tradition der Spätromantik. Sie leidet unter der Verachtung der männlichen Kollegen; Johannes Brahms wird sogar beleidigend, als er erfährt, dass die Komposition, mit der er sich ernst- und gewissenhaft auf den Notenblättern beschäftigt, von einer Frau komponiert wurde. Es ist die Zeit, in der einige Männer Frauen generell die Fähigkeit absprechen, komponieren zu können.[3]

Im Dirigenten und Komponisten Bruno Walter (1876–1962) hatte sie jedoch auch einen Förderer, der sie hoch schätze.

Sie gehörte übrigens 1922 zu den Gründern der „Internationalen Gesellschaft für Neue Musik“, kurz IGNM bezeichnet.[4] Auch deswegen gebührt ihr Respekt und Anerkennung.

 

Salzburg 1922

v.l.n.r.: Gruppenfoto vom 11. August 1922; Karl Weigl, Karl Alwin, Wilhelm Gross, Arthur Bliss, Paul Hindemith, Rudolf Réti, Ethel Smyth, Paul Pisk, Willem Pijper, Egon Lustgarten, Egon Wellesz, Anton von Webern, Karl Howitz, Hugo Kauder. Foto: © British Library, Ernst Henschel Collection.

 

Komponistinnen mussten viel zu lange für Anerkennung kämpfen, gegen die Widerstände zu komponieren eintreten, gegen die Widerstände dies zu einem Hauptberuf zu machen und aufgeführt zu werden und bis heute fehlt sie leider im kontinuierlichen Standardrepertoire. Umso mehr obliegt Hanni Liang der Verdienst, sie aufzuführen und mit zeitgenössischen Musikerinnen zu kontextualisieren. Smyths Sonata Nr. 2 und Variationen in D-Dur sind im Wechsel von schwebender Ruhe bis kraft- und temperamentvoll, ausdrucksstark und in ihren ersten Jahren in Deutschland entstanden. Hanni Liang gibt mit „Voices“ jener Frau eine Stimme, die zu ihrer Zeit immer für eine solche kämpfen musste.

 

Hanni Liang Voices COVERZeitgenössische Komponistinnen

„Night Dances“, 2018 von Sally Beamish komponiert, basiert auf einer Erzählung des Autors Peter Thomson und wurde durch das Spiel von Keith Jarrett und John McLaughlin inspiriert. Auf einen sanften, sich wiederholenden Anfang folgt eine Reihe von Tänzen, die an Intensität zunehmen, bevor sie einen abrupten Höhepunkt erreichen, nach dem die Echos der Tänze allmählich zu einer Reprise der Anfangsmusik ausklingen. Dieses Stück hat nichts von einer klassischen Nocturne. Die schnellen Tonfolgen sind großartig kreiert und von Hanni Liang zu nächtlichem Leben erweckt. Ein nicht ganz einfach zu spielendes Stück.

 

Wie Sally Beamish ist die in China geborene und seit 1986 in den USA lebende Chen Yi nicht nur Komponistin, sondern auch Violinistin. Wunderbar, wie sie fernöstliche und westlich Klangfarben miteinander vereint.

Die geradezu funkelnden Variationen Chen Yis basieren auf dem chinesischen Volkslied „Awariguli“, dem Namen eines schönen Mädchens der ethnischen Minderheit der Uiguren, in der autonomen Region Xinjiang. Das Soloklavierwerk entstand während des ersten Studienjahres der Komponistin am Zentralen Konservatorium für Musik in Peking und wurde im Oktober 1979 von ihrer Schwester Chen Min uraufgeführt. Obwohl das Thema, die neun Variationen und die dramatische Koda eine eher traditionelle Struktur aufweisen, genießen sie eindeutig Chen Yis faszinierende Mischung aus mehreren Kulturen.

 

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Nur ein kurzes zweieinhalbminütiges Stück namens „Wouldn't Normally Say“ (2004) charakterisiert die aus British-Honduras stammende und in England lebende Komponistin Errollyn Wallen. Auch das ist ein Phänomen dieses Albums –, Hanni Liang spielt Werke, die zwar im europäisch-westlichen Kontext entstanden sind, aber auch von drei Komponistinnen stammen, die außereuropäische Zusammenhänge haben.

 

Nach einer Umfrage[5] aus dem Jahr 2022 zählt Wallen zu den zwanzig meistgespielten lebenden Komponisten der Welt[6]. In einem zeitgenössischen Kosmos der klassischen Musik, der immer noch einer romantischen Denkweise anhängt, sticht Wallens Buch[7] über die Tätigkeit des Komponierens und ihr Engagement für die Entmystifizierung des Komponierens hervor.

 

Schließlich endet das Album mit Eleanor Albergas Komposition „Cwicseolfor“[8] (2021). Der Begriff, so erläutert Hanni Liang bei ihrem Tonali-Konzert in Hamburg, ist die altenglische Schreibweise von Quecksilber. Dieses Wort findet sich in Bezug auf die Alchemie jener Zeit. Und Eleonor Alberga erinnert sich, „dass ich als Kind fasziniert war, Quecksilber in einem Gefäß zu beobachten, wie es an nichts haftete und sich rollend bewegte und schnell seine Richtung ändern konnte. Außerdem glänzte die Oberfläche dieses Stoffes auf fast unglaubliche Weise.“

 

Das Stück ahmt die Eigenschaften der Oberflächenspannung, des matten Glanzes, des lotusartigen Nicht-Anhaftens und der schnellen Tempo- und Richtungswechsel nach. Für die Pianistin ist es virtuos – mit ständig wechselnden Stimmungen, Tempi und Variationen des Themas.


Hanni Liang: Voices for solo piano

Hanni Liang: Piano

Label: Delphian

CD, Booklet (engl.)

EAN: 801918343261

Weitere Informationen (Hanni Liang)

 

Tracking List.

01 Ethel Smyth: Sonata No. 2 in C-Sharp Minor: I. Lento assai - Allegro assai - Allegro moderato

02 Ethel Smyth: Sonata No. 2 in C-Sharp Minor: II. Andante

03 Ethel Smyth: Sonata No. 2 in C-Sharp Minor: Finale: Presto con brio

04 Errollyn Wallen: I Wouldn't Normally Say

Variations in D-Flat Major on an Original Theme (of an Exceeding Dismal Nature)

05 Ethel Smyth: I. Thema (Ru_hig)

06 Ethel Smyth: II. Variation I (Allegro)

07 Ethel Smyth: III. Variation II (Quasi maestoso)

08 Ethel Smyth: IV. Variation III (Lento)

09 Ethel Smyth: V. Variation IV (Allegro: à la Phyllis)

10 Ethel Smyth: VI. Variation V (Andante con moto)

11 Ethel Smyth: VII. Variation VI (Adagio)

12 Ethel Smyth: VIII. Variation VII (Presto: wild und stu_rmisch)

13 Ethel Smyth: Variation VIII & Finale (Allegro con brio)

14 Sally Beamish: Night Dances

Variations on 'Awariguli'

15 Chen Yi: I. Theme (Andante)

16 Chen Yi: II. Variation I (Allegro)

17 Chen Yi: III. Variation II (Allegro)

18 Chen Yi: IV. Variation III (Con moto vivace)

19 Chen Yi: V. Variation IV (Sostenuto)

20 Chen Yi: VI. Variation V (Alla romance)

21 Chen Yi: VII. Variation VI (Moderato)

22 Chen Yi: VIII. Variation VII (Alla danza)

23 Chen Yi: IX. Variation VIII (Allegro moderato)

24 Chen Yi: X. Variation IX (Andante)

25 Chen Yi: XI. Coda X (Vivace)

26 Eleanor Alberga: Cwicseolfor

 

[1] Die Aufnahme zu diesem Album stammt aus dem Bremer Sendesaal.

[2] Sie war eine der Mitkämpferinnen der britischen Suffragetten, außerdem als Schriftstellerin tätig. Ihr bekanntestes Kompositionswerk ist „The March of the Women“, das zu einer Hymne der englischen Frauenbewegung wurde.

[3] Der Klaviervirtuose und Dirigent Hans Freiherr von Bülow (1830–1894) beispielsweise.

[4] Vgl.: https://www.kultur-port.de/blog/festivals-medien-tv/17738-achtung-international-salzburg-100-jahre-internationale-gesellschaft-fuer-neue-musik.html Am 11. August 1922 trafen sich im Salzburger „Café Bazar“ Komponisten und eine Komponistin (Ethel Smyth). Sie hatten etwas vor, das eigentlich weitaus mehr Tragweite und Beachtung verdiente, als es heute in der öffentlichen Wahrnehmung der Fall ist! Sie gründeten eine Vereinigung, die nach dem Grauen des Ersten Weltkriegs und der Überhitzung des europäischen nationalen Chauvinismus‘ eine länder- und völkerverbindende Qualität vorzuweisen hatte: das Friedensprojekt: „Internationale Gesellschaft für Neue Musik“.

[5] Bachtrack: classical music in 2022, Report. Bachtrack listete 27.124 Konzerte, Opern und Tanz

Performances. Vgl.: https://cdn.bachtrack.com/files/293747-Annual%20classical%20music%20statistics%202022.pdf

[6] Neun davon sind Komponistinnen. Wallen rangiert auf Platz 20.

[7] Errollyn Wallen: Becoming a Composer, Faber & Faber, London 2023

[8] Der altenglische Begriff setzt sich zusammen aus: Cwic (lebendig, lebend) und seolfor (Silber).

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