Eine Fotografieausstellung im Altonaer Museum in Hamburg widmet sich einer Zeit, die unsere jüngere Vergangenheit in Deutschland fokussiert.
Es ist weniger als ein halbes Jahrhundert her, Deutschland war Schwarz-Rot-Gold mit Adler oder Hammer und Zirkel, geteilt, sehr mit sich selbst beschäftig: mit dem Terrorismus der Roten Armee Fraktion (RAF), der Frage nach Atomkraft und Endlagerung, nach Atomwaffen auf deutschem Boden, der Stationierung von Pershing II-Raketen, dem politischen Umbruch einer Regierung Helmut Schmidt zu Helmut Kohl. Die DDR steckte in einer wirtschaftlichen und politischen Krise, die Jugendbewegungen oszillierten zwischen Punk, Friedensengagement und Solidarität mit der Gewerkschaft Solidarność in Polen. Ansonsten stagnierte es im ostdeutschen Sozialismus an vielen Fronten. Nicht nur ein 72-stündiger Schneesturm legte 1978 das Land lahm.
Die Ausstellung, die zuvor schon in anderer Form im LVR-Landesmuseum in Bonn zu sehen war, beschäftigt sich jedoch nicht allein mit dem politischen Alltag und den Highlights, sondern auch mit der Neuen Deutschen Welle, dem aufkommenden Fitness-Wohlbefinden wie „Aerobic“ oder „Kulturistik“ oder der Mode, die breite Schultern macht, der Punk-Szene Ostberlins, den großen Gothic-Treffen in Leipzig und den Chaostagen in Hannover.
Zusätzlich sind mehrere Stationen, die die Mode, Musik, Clips und die Literatur jener Jahre punktuell fokussiert. Bemerkenswert ist besonders der literarische Ort, der Sema Erdan (1971–1982) und ihrem lyrischen Werk gewidmet ist. Ihr Leiden – nicht nur unter der gesellschaftlichen Ablehnung und Diskriminierung in der Türkei, wo sie geboren wurde und Deutschland, wo sie sich in Hamburg ein glückliches Leben erhoffte – spiegelt sich in ihren Gedichten. „Mein Name ist Ausländer“ (1981) steht explizit für die tagtägliche Ausgrenzung.
Sema Erdan: Mein Name ist Ausländer. Mitnehmblatt aus der Ausstellung.
Sind die Jahre zwischen 1975 und 1985 wirklich ein so fernes Land, wie uns der Ausstellungstitel suggeriert? Das gros der Themen beschäftigt uns noch heute – sind also noch nah –, nur sehr weniges hat sich tatsächlich erledigt und schwingt noch unterschwellig weiter. Bei dem Rundgang durch die gedimmten Ausstellungsräume wird klar, wie politisch diese Zeit war und wie sehr das gesellschaftliche Engagement in den Folgejahrzehnten zurückging. Natürlich ist es eine Frage des Alters, die durch die Betrachterlinse beobachtet und bewertet, war man Zeitzeuge oder gar Augenzeuge von fotografisch Festgehaltenem, oder zu jung, um die Zeit bewusst miterlebt zu haben. Das ist genau einer der spannenden Punkte, denn die beteiligten Macher der Ausstellung sind aus unterschiedlichen Generationen und damit vereint sich der erlebte- mit den rückschauenden- und dem historischen Blick.
Die überwiegende Mehrheit der Fotografien stammen aus Archiven: der Stiftung F.C. Gundlach in Hamburg, dem LVR-Landesmuseum in Bonn, der Deutschen Fotothek in Dresden und davon unabhängigen Konvoluten, die von Fabian Ludovico, Fachbereichsleiter Ausstellungen im Altonaer Museum für diese Schau in Hamburg ergänzt wurden.
Die Fotografien wurden aufgenommen von Christian von Alvensleben, Wilfried Bauer, Mahmoud Dabdoub, Gerd Danigel, Asmus Henkel, Angela Neuke, Barbara Klemm, Hans-Martin Küster, Martin Langer und Ingolf Thiel.
„Höchst individuell blicken die Fotografinnen und Fotografen auf die damaligen Entwicklungen in Deutschland: als freie Akteure, als Reportage-Fotografen im Auftrag von Zeitungen und Magazinen oder als Fotokünstler“, heißt es im Ausstellungstext.
Viele der Fotografien sind in schwarz-weiß aufgenommen und wirken so historischer als die Farbaufnahmen. Aus der Vielzahl der unterschiedlichen Positionen der zehn Fotografinnen und Fotografen stechen einige hervor.
Barbara Klemms Foto von 1983, welches sie für die FAZ schoss, das Heinrich Böll mit Demonstranten zeigt, die gegen die Stationierung von Mittelstreckenraketen in Mutlangen, einer sechstausend Seelen-Gemeinde in Baden-Württemberg, in Sitzblockade zeigt. Böll mit grimmiger Miene, Zigarette zwischen den Fingern seiner linken Hand, sitzt auf einem Klappstuhl am linken Bildrand und scheint seinen Unmut zu formulieren. Wie auf einem barocken Sittengemälde des 17. Jahrhunderts, perfekt ausgeleuchtet, doch mit Unschärfen im Vorder- und Hintergrund zeigt sich die Jüngerschaft (darunter seine Ehefrau Annemarie, Gerd Bastian, Petra Kelly und Oskar Lafontaine) mit sich selbst und miteinander beschäftigt. Ikonografisch eine Fundgrube.
Von Angela Neuke sind nebeneinander Beisetzungsfotos von Hans Martin Schleyer und den drei RAF-Terroristen Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe aufgereiht. Als die Republik an ihre moralischen Grenzen kam, zeigt sich nur noch der Schmerz der Lebenden. Und bis heute bleibt die ethische Frage des Opferns und der Verantwortung einer Regierung für alle seine Bürger bestehen.
Die Fotografin hat aber auch eine humorvolle und quergebürstete Seite, wenn sie kopflose Abgeordnete mit ihren Aktenköfferchen ablichtet und Nebenschauplätze des Weltwirtschaftsgipfels in Bonn 1985 in den Fokus rückt, um Stimmung zu charakterisieren.
Gerd Danigel, zeigt die entfärbte Trostlosigkeit und den morbiden Charme von runtergekommenen Gebäuden am Prenzlauer Berg oder der Plattenneubaugebiete Marzahns in Ostberlin. Seine Gruppenfotos haben die Klarheit von Acryl und doch erzählen die Gesichter der Portraitierten viele Geschichten.
Gerd Danigel, Paar auf einer Bank, Am Fernsehturm, Berlin, 1984, Deutsche Fotothek Dresden
Der aus dem Libanon stämmige Mahmoud Dabdoub, kam 1981 in die DDR. Die Fotografie half ihm bei der Bewältigung seines Kulturschocks. Er lichtete jene Lebenswirklichkeit ab, die uns normal erscheint, aber für einen arabisch-stämmigen gewöhnungsbedürftig war. Wieso küssen sich Jugendliche in der Öffentlichkeit in Leipzig? Was macht die liegende Studentin auf dem Klavier? Achten oder missachten sich Gothics und Volksarmisten auf dem Karl-Marx-Platz? Er hält die surreale Einsamkeit einer Losverkäuferin in ihrem aufgestellten Verschlag fest und die Frauenunterwäsche, die zum Trocknen im öffentlichen Raum hängt.
Mahmoud Dabdoub, Karl-Marx-Platz, Leipzig, 1985, Deutsche Fotothek Dresden
Christian und Helga von Alvensleben fotografieren in Farbe. Sie stellen 1976 ihr Model, die Berliner Undergrounddesignerin Claudia Skoda, in weißer Unterhose und der Lederjacke von Dieter Spieß in den Brunnen am Ernst-Reuter-Platz in Berlin. Die Fotografen zeigen außerdem ein Foto der Hagener Band „Extrabreit“ (1978–1998) nach durchzechter Nacht –, aber immer noch schnieke gekleidet, zum Frühstück mit Tortenpräsentation im Café Kranzler im Berliner Westen, 1983.
Christian von Alvensleben, Claudia Skoda im Brunnen mit Lederjacke von Dieter Spieß, 1976, Stiftung F.C. Gundlach Hamburg
Das ferne, analoge Land Deutschland um 1980 ist eine Entdeckungs- und Erinnerungsreise wert. Die Ausstellung zeigt, wie sich Moden verändern, wie Musikstile abgelöst wurden und vielleicht hier und da wieder auftauchen, wie Kanzler kommen und gehen, wie wir uns fühlten und welche damals offenen Fragen beantwortet werden konnten.
Sie zeigt aber auch deutlich, wie stark wir mit unserer jüngeren Vergangenheit verknüpft sind, wie lernresistent wir Menschen sind, wie lange es dauert, um Entwicklungen zu ändern oder zu stoppen. Wir sind auch heute noch konfrontiert mit den Problemen der Energiegewinnung, des Kapitalismus, des Umweltschutzes, des Friedenschaffens und -bewahrens, dem Zusammenwachsen, der Ausländerfeindlichkeit und Ausgrenzung. Das ferne Land überdauert in uns.
Deutschland um 1980. Fotografien aus einem fernen Land
Zu sehen bis 3. März 2025 im Altonaer Museum, Museumstraße 23, in 22765 Hamburg
Öffnungszeiten: Mo., Mi. bis Fr. 10–17 Uhr; Sa. und So. 10–18 Uhr; Di. geschlossen
Weitere Informationen und Rahmenprogramm (Museum)
Katalogbuch:
Deutschland um 1980
Fotografien aus einem fernen Land
Hirmer Verlag
Hg. Jens Bove, Sebastian Lux, Thorsten Valk
Beiträge von L. Altringer, Jens Bove, A. Komenda, Sebastian Lux, Thorsten Valk
256 Seiten, 210 Abbildungen in Farbe
25 x 28,5 cm, gebunden
ISBN: 978-3-7774-3957-0
Weitere Informationen (Verlag)
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