Theater - Tanz

Lautstarke Bravos und Standing Ovation zur Eröffnung der Ära Demis Volpi in der Staatsoper Hamburg.

Keine Frage, der vierteilige Ballettabend „The Times Are Racing“ mit Werken von Pina Bausch, Hans van Manen, Demis Volpi und Justin Peck war ein rundum gelungener Einstand für den neuen Intendanten des Hamburg Balletts.

 

„Liebes Hamburger Publikum, hier sehen Sie vier unterschiedliche Tanzsprachen, die Sie in den vergangenen 50 Jahren in der Staatsoper nicht zu Gesicht bekamen“. Das hat Demis Volpi natürlich nicht gesagt, als er sich unter demonstrativ langem, herzlichem Applaus zu Beginn der Premiere dem Publikum vorstellte. Aber ein klein wenig hat es der 39jährige Nachfolger von John Neumeier wohl so gemeint.

 

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„Anfangs dachte ich: Lass uns doch einen Abend machen, an dem wir zeigen, was in den vergangenen 50 Jahren außerhalb Hamburgs passiert ist“, sagte Demis Volpi vor wenigen Tagen in einem Interview mit tanznetz.de. Die Idee musste er schnell wieder verwerfen und natürlich weiß der in Buenos Aires, Toronto und Stuttgart ausgebildete Deutsch-Argentinier auch, dass Neumeier während der jährlich stattfindenden Ballett-Tage immer wieder international renommierte Compagnien und Star-Choreografen einlud, um ihre unverwechselbaren Tanzsprachen in Hamburg vorzustellen. Man denke nur an die umwerfenden Mats Ek-Choreografien von „Swan Lake“ „Giselle“ und „Dornröschen“ in den 1990er Jahren. Und Hans van Manen, dem legendären Mitbegründer und prägenden Choreografen des exzellenten „Het Nationale Ballet“, hatte Neumeier 2019 sogar die 45. Hamburger Ballett-Tage gewidmet – und zwar ausschließlich! In unserer schnelllebigen Zeit wird so etwas schnell vergessen. Doch es stimmt schon. Gefühlt zumindest gab es im vergangenen halben Jahrhundert in der Hansestadt nur Neumeier, Neumeier und noch mal Neumeier. Hamburgs Ballett-Szene war voll und ganz auf ihn eingeschworen, sein Ballett-Zentrum, sein Bundesjugendballett, seine Sammlung, seine Stiftung - der Kult um den charismatischen Intendanten und Hamburger Ehrenbürger wuchs Jahr um Jahr.

 

So, und nun ein Neuanfang mit vier Werken und vier unterschiedlichen Tanzsprachen, die das um 17 Mitglieder gewachsene, sensationell tolle Ensemble des Hamburg Balletts in kaum mehr als fünf Wochen einstudieren musste. Um es gleich vorwegzunehmen: Wirklich neu dürfte für das Hamburger Publikum dabei nur das titelgebende Stück „The Times Are Racing“, des New Yorker Regisseurs, Choreografen und Filmemacher Justin Peck gewesen sein.

 

Aber der Reihe nach: Den Auftakt des kurzweiligen Abends macht ein „Museumsstückchen“ von Pina Bausch, der bedeutendsten Choreografin ihrer Zeit. Volpi wählte das frühe Stück, weil es zu der Zeit entstand, als John Neumeier nach Hamburg kam. 1973 holte August Everding den Amerikaner an die Staatsoper, 1974 wurde das nun von der Pina Bausch Foundation rekonstruierte „Adagio“ (aus „Adagio – Fünf Lieder von Gustav Mahler) am Tanztheater Wuppertal uraufgeführt: Kein Handlungsballett und doch theatralisch, durchzogen von einer unbestimmten, tiefgründigen Melancholie. Einsamkeit, Verzweiflung, Zärtlichkeit, Wut, Resignation, all das kann man aus den wechselnden Beziehungen lesen, die sechs Hauptfiguren eingehen. Ein über weite Strecken regloser Mann auf einem Stuhl, ein zusammengekrümmter Mann zu seinen Füßen, zwei Frauen, die eine im Schoß der anderen, die sich langsam voneinander lösen und umeinanderdrehen. Immer mehr Tänzer*innen kommen hinzu, im Laufe des kurzen Stücken werden es 22, die Männer in Straßenanzügen, die Frauen in Alltagskleidern, allesamt Barfuß, ungeschminkt und ohne Tutus.

 

Adagio C Kiran West

Adagio. Foto ©: Kiran West

 

Heute ist das im Tanztheater (auch im Ballett) selbstverständlich, vor 50 Jahren war es eine Provokation ohnegleichen. Reihenweise verließen die Zuschauer die Vorstellungen, Tänzer*innen und Choreografin wurden sogar mit Tomaten beworfen. Im Rückblick auf dieses Stück fällt vor allem auf, wie viel an Bewegungsmaterial John Neumeier von Pina Bausch übernommen hat, vor allem das schier endlose Gerenne. Pina Bausch hat zum ersten Mal eine Tänzerin schier endlos im Kreis laufen lassen. Die Frau rennt und rennt, bis sie schließlich verschwindet. Die Trostlosigkeit, die darin zum Ausdruck kommt, das Gefühl eines Hamsters im Laufrad, der doch nicht von der Stelle kommt, ist von einer Intensität, der man sich nicht entziehen kann.

 

Nach der Pause dann ein Kontrastprogramm vom Feinsten: Hans van Manens „Variations for Two Couples“ (uraufgeführt 2012) zur Musik von Benjamin Britten, Einojuhani Rautavaara, Stevan Kovacs Tickmayer und Astor Piazolla, ist zeitgenössischer Spitzentanz in stupender Vollendung. Vor einem tiefblauen, leeren Raum, akzentuiert durch einen schmalen, gebogenen Lichtstreifen, glänzten die wunderbaren Solisten-Paare, Madoka Sugai/Alexandr Trusch und Ida Praetorius/Mathias Oberlin mit sublimer Technik und ätherisch schönen Bewegungsabläufen, elegant und hochkonzentriert, die nicht von dieser Welt zu sein scheinen. In den Pas de deux schweben die Tänzerinnen regelrecht über die Bühne, dann wiederum entfalten sie eine abstrakte Ästhetik von unerhört skulpturalem Charakter und Bewegungen, die wie gemeißelt erscheinen.

 Variations for 2 Couples C Kiran West

Variations For Two Couples. Foto ©: Kiran West

 

Hans van Manens Tanzsprache scheint mit zunehmendem Alter immer reduzierter und puristischer zu werden. Sein Alterswerk ist einfach grandios und man mag kaum glauben, dass der Mann, der da am Ende des Stückes selbst auf die Bühne tritt und die Ovationen entgegennimmt, tatsächlich schon 92 Jahre alt ist. Diese besondere Premiere in Hamburg ließ er sich nicht nehmen – wobei es ihm sichtlich unangenehm war, so über die Maßen vom Hamburger Publikum bejubelt zu werden.

 

Das dritte Stück stammt von Demis Volpi selbst, geschaffen 2023 für das Düsseldorfer Ballett am Rhein, dessen Ballettdirektor er bis zum Sommer dieses Jahres war. Es ist die längste Choreografie und auch die schwächste in diesem Ballettreigen, aber das ist angesichts der hochkarätigen Konkurrenz, die er sich an diesem Abend ins Haus geholt hat, auch wenig verwunderlich. „The Thing With Feathers“ verweist auf das Gedicht Hope is the thing with feathers von Emily Dickinson und Hoffnung zieht sich wie ein atmosphärischer roter Faden durch dieses Ballett Hamburgs neuer Ballettchef hat es zu den düsteren, aufwühlenden „Metamorphosen für 23 Solostreicher“ choreographiert, dem letzten großen Orchesterwerk, das Richard Strauss 1945 als Abgesang einer zerstörten Welt komponierte. Doch so sehr die Musik auch von Trauer und Hoffnungslosigkeit erzählt – Volpis Ballett setzt dagegen, vermittelt Lebenslust, Leichtigkeit, die pure Freude an der Bewegung. Zwei Aspekte bleiben besonders haften: Die enorme Empathie, die in den Beziehungen der Tänzer und Tänzerinnen untereinander ständig spürbar ist und Volpis Umgang mit dem Raum: Die Bühne ist nur in der vorderen Hälfte beleuchtet, sodass die Tänzer und Tänzerinnen wie aus dem Nichts aus dem Dunkel hervorkommen und wieder verschwinden. Anfangs wie eine Welle, die vor und wieder zurückflutet, dann tauchen sie ein in die Musik, lassen sich treiben – und brechen unvermittelt wieder aus, zum Beispiel mit einer kleinen Lindy-Hop-Einlage. Die überaus kluge und einfühlsame musikalische Leitung dieses Stückes (wie auch der beiden ersten Ballette) lag übrigens in den Händen von Vitali Alekssenook, dem Chefdirigenten der Deutschen Oper am Rhein, der das Philharmonische Staatsorchester glänzend führte und damit sein gelungenes Opern-Debüt in Hamburg gab.

 

The Thing With Feathers C Kiran West

The Thing With Feathers. Foto ©: Kiran West

 

Den furiosen Abschluss dann gelang mit dem titelgebenden Stück des Abends, „The Times Are Racing“ von Justin Peck. Der 37 jährige New Yorker Tausendsassa, Choreograf, Filmemacher und Haus-Choreograf des New York City Ballet, kreierte zu den (eingespielten) pulsierenden Elektroklängen von Dan Deacon aus dem 2012 erschienenen Album „America“ 2017 ein knallbuntes „Turnschuh-Ballett“, frech, mitreißend und absolut brillant. Streetdance, Stepptanz, Modern Dance – Peck mixt alle Stile mit einer Selbstverständlichkeit, die einem den Atem raubt. Demis Volpi sagte zwar, dass er nicht in Alterskategorien denkt, doch wenn man die Jugend für Tanz begeistern will, dann sollte man dieses Stück - auch solo- fest im Spielplan verankern. Und man muss noch etwas sagen: Einfach großartig, wie das Hamburg Ballett sich an diesem facettenreichen Abend präsentiert. Eine Compagnie, die einfach alles kann, von Pina Bausch bis Punk – und die unter ihrem neuen Chef auch in Zukunft das Hamburger Publikum von den Sitzen reißen wird.

 

The Times Are Racing C Kiran West

The Times Are Racing. Foto ©: Kiran West


The Times Are Racing

Ballettabend mit Werken von Pina Bausch, Hans van Manen, Demis Volpi und Justin Peck

Zu sehen weitere sieben Mal bis 27.07.2025 in der Staatsoper Hamburg (Großes Haus), Dammtorstraße 28, in 20354 Hamburg

Es spielt das Philharmonische Staatsorchester Hamburg

Choreograf*innen: Pina Bausch / Künstlerische Leitung Rekonstruktion "Adagio": Josephine Ann Endicott | Hans van Manen | Demis Volpi | Justin Peck  

Weitere Termine (Staatsoper)

 

ADAGIO

Aus "Adagio – Fünf Lieder von Gustav Mahler"


Choreografie: Pina Bausch

Musik: Gustav Mahler – Adagio aus der 10. Sinfonie

Bühne, Kostüme: Karl Kneidl


Einstudierung: Jo Ann Endicott, Breanna O'Mara, Scott Jennings

Uraufführung: Tanztheater Wuppertal Pina Bausch, Opernhaus Wuppertal, 8. Dezember 1974

 

VARIATIONS FOR TWO COUPLES

Choreografie: Hans van Manen

Musik: Benjamin Britten – Streichquartett in F-Dur, Zweiter Satz

Einojuhani Rautavaara – Kopsin Jonas aus Pelimannit (The Fiddlers), Opus 1

Stevan Kovacs Tickmayer – Lasset uns den nicht zerteilen, nach Johann Sebastian Bach

Astor Piazzolla – Melodía en La menor (Canto de Octubre), Bearbeitung für Violine und Streichorchester, arrangiert von Bob Zimmerman

Bühne und Kostüme: Keso Dekker

Licht: Bert Dalhuysen

Einstudierung: Rachel Beaujean, Jozef Varga

Uraufführung: Dutch National Ballet, Dutch National Opera, Amsterdam, 15. Februar 2012

 

THE THING WITH FEATHERS

Choreografie: Demis Volpi

Musik: Richard Strauss – Metamorphosen für 23 Solostreicher

Bühnenbild: Demis Volpi

Kostüme: Thomas Lempertz

Licht: Volker Weinhart

Dramaturgie: Julia Schinke

Uraufführung: Ballett am Rhein, Opernhaus, Düsseldorf, 29. April 2023

 

THE TIMES ARE RACING

Choreografie: Justin Peck

Musik: Dan Deacon – USA I-IV aus dem Album "America"

Kostüme: Humberto Leon

Lichtdesign: Brandon Stirling Baker

Einstudierung: Craig Salstein

Uraufführung: New York City Ballet, David H. Koch Theater, New York, 26. Januar 2017

The Times Are Racing entstand im Auftrag des New York City Ballet

Unterstützt durch die Stiftung zur Förderung der Hamburgischen Staatsoper

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