2023 erschien das Debüt von Jane Campbell, der Erzählband „Kleine Kratzer“, der die Leserschaft mit 13 Geschichten über Frauen jenseits der 70 begeisterte. Jetzt hat die 82jährige englische Autorin Jane Campbell mit „Bei aller Liebe“ ihren ersten Roman vorgelegt.
Wieder geht es um die kleinen Dinge des Alltags und die großen Tragödien des Lebens. Auch dieses Buch dürfte ein Bestseller werden. Das Zeug dazu hat es.
Beide Bücher der Autorin sind im Kjona Verlag erschienen, beide Bücher hat Bettina Abarbanell übersetzt. Sie ist die perfekte deutsche Stimme von Jane Campbell, die 1942 in Hoylake nahe Liverpool geboren wurde und viele Jahre als Psychoanalytikerin in Oxford gearbeitet hat. Hier lebt die Schriftstellerin auch heute noch die Hälfte des Jahres. Die andere Hälfte verbringt sie auf den Bermudas.
Erzählt wird in dem Debütroman „Bei aller Liebe“ (Originaltitel: "Interpretations Of Love") aus der Perspektive dreier ProtagonistInnen, deren Leben schicksalhaft miteinander verbunden sind. Eingangs befinden wir uns am Tag vor dem Hochzeitsempfang von Agnes Tochter Elfie, wie uns die Titel der ersten drei Kapitel sagen. Zu Wort kommen erstens Professor Malcom Miller, emeritierter Oxford-Professor, Experte für das Alte Testament, bärbeißiger alter Junggeselle mit schwachem Herzen und zudem Onkel von Agnes. Zweitens Dr. Joseph Conrad Bradshaw, Arzt und Psychoanalytiker und drittens die Philosophieprofessorin Agnes Stacey, Tochter von Malcom Millers Schwester Sophie, die vor langer Zeit mit ihrem Ehemann Kurt bei einem Autounfall ums Leben kam. Die drei inzwischen betagten Hauptfiguren Agnes, Malcom und Joseph sind durch einen vor langer Zeit geschriebenen und niemals angekommenen Brief schicksalhaft miteinander verbunden. Nur einer von ihnen wusste bisher davon. Das könne sich schon bald ändern – mit unvorhersehbaren Folgen für alle Beteiligten.
Vor fünfzig Jahren wurde der besagte Brief Malcom von seiner im Sterben liegenden Schwester Sophie anvertraut. Empfänger des 1946 kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs geschriebenen Briefes sollte Dr. Joseph Conrad Bradshaw sein, so hatte es Sophie handschriftlich auf dem Umschlag festgelegt. Jener junge Sanitäter, den Sophie nach einem One-Night-Stand mitten im Bombenhagel aus den Augen verloren hatte und zu dem sie nach all der Zeit nun wieder Kontakt aufnehmen wollte. Einst war dieser Dr. Joseph Bradshaw der Psychoanalytiker von Agnes. Ebenso wie seine Patientin verlor Joseph die Mutter früh, und ebenso wie Agnes ist er nie darüber hinweggekommen. Joseph empfindet unerklärliche liebevolle Gefühle für seine Patientin Agnes. Ist er möglicherweise sogar deren Vater?
Das klingt ein bisschen kitschig, ist es aber in „Bei aller Liebe“ dank der schriftstellerischen Fähigkeiten Jane Campbells nicht. Ja, zugegeben: zunächst ist das Setting, das uns empfängt, tatsächlich etwas verwirrend und der zentrale Handlungsstrang könnte der Plot eines Groschenromans sein. Zum Glück täuscht dieser Ersteindruck, zum Glück weiß die Psychoanalytikerin Jane Campbell ganz genau, wovon sie schreibt und wie sie das zu tun hat: ihr genau beobachtender, schnörkelloser Schreibstil bringt Leben, Liebe, Leid der handelnden Personen nah an uns heran. Hinzu kommen blendend formulierte psychologische und philosophische Wahrnehmungen und Erkenntnisse. Die Autorin entwirrt auf scheinbar leichte Art die kompliziertesten Verwicklungen, (er)klärt uns auf diese Weise selbst die verschlungensten Verwirrungen und Verhältnisse. Sie zeigt uns auch, wie trügerisch unsere Erinnerungen und wie falsch unsere Entscheidungen sein können…
Vielleicht aber gibt es jedoch zu viele Personen in diesem Buch, die uns präsentiert werden. Der Gedanke kommt auf, weil es in diesem Buch drei Protagonisten gibt. Alle drei erzählen uns ihre Geschichte aus ihrer Perspektive, alle drei wollen uns all ihre Lieben und all ihre Probleme ans Herz legen. Das ist manchmal des Guten zu viel, stört den Lesefluss. Nach einer Leseunterbrechung dauert es ein wenig, bis man nach dem Wiedereinstieg wieder weiß, wer an dieser Stelle, auf dieser Seite, in diesem Moment gerade in der Ich-Form erzählt. Ist es Agnes? Oder Joseph? Oder ist es Malcom? Richtig ist, sie alle haben uns etwas zu sagen. Die drei Hauptfiguren ebenso wie die vielen Nebenfiguren, die samt und sonders durchaus spannende, von Jane Campbell eindringlich geschilderte Ereignisse und Erlebnisse zu bewältigen haben.
Die einen strudeln gerade in einer leidenschaftlichen Affäre, andere wollen einander möglichst bald und auf möglichst leichte Art und Weise verlassen, wieder andere suchen zwecks Erleichterung und Heilung gegenwärtig eine Eheberatung auf. Sie alle zweifeln an den realen Gegebenheiten, ängstigen sich zugleich vor der ungewissen Zukunft. Sie scheuen sich, eigene Ansichten zu äußern, fürchten Aussprachen und deren Konsequenzen, ängstigen sich vor unwägbaren Aussichten.
Agnes beispielsweise entzieht sich belastenden Gedanken gerne mit einem alten Trick: Sie schnuppert an einer geöffneten Schachtel Zigaretten – wie damals als Kind am Strand von Merebridge an den Zigaretten, die ihre Eltern liegen gelassen hatten – und fühlt sich in solchen Momenten So frei, wie ein glückliches Kind frei ist, ohne eine andere Verantwortung als die, am Leben zu bleiben, und das scheint einfach zu sein. Sonst nichts. Doch wie wir wissen, funktioniert so etwas nicht auf Dauer. Das Leben holt uns immer wieder ein, die Realität lässt sich nicht endgültig verdrängen.
Viele philosophische Gedanken beinhaltet dieses Buch. Es lohnt sich, sie genau zu lesen und zu durchdenken. Beispiele lassen sich beim Lesen auf fast jeder Seite finden. Schon auf der zweiten Buchseite spricht Malcom Sätze wie diese, die – obwohl hier nur ausschnittsweise wiedergegeben, eindrucksvoll sind und entsprechend auf uns wirken: Von all den Erkenntnissen, die ich meinem langen und eher unbefriedigenden Leben abgewinnen konnte, ist die unverwüstlichste und beunruhigendste wohl die Promiskuität unserer Wahrnehmungen. Treulose Eleven sind unsere Augen, doch mehr noch als die Augen selbst sind es unsere Folgerungen aus dem, was wir mit ihnen wahrzunehmen glauben […] Einmal sagt Agnes zu Malcom: […] wir sind im Grunde keine so komplizierten Geschöpfe. Nur kleine Bündel, vollgepackt mit Instinkten und Hoffnungen. In diesem Roman gibt es eine Menge solcher Menschen. Die Schriftstellerin Jane Campbell hat diese Menschen mit all ihren Fähigkeiten und Unfähigkeiten, Hoffnungen, Fehlern und Sünden, für uns LeserInnen zu kleinen Bündeln geschnürt, die von uns beim Aufblättern und Lesen des Buches wieder entschnürt, wieder aufgeschnürt werden können. Das hat auch für uns selbst eine angenehm befreiende Wirkung.
Jane Campbell: „Bei aller Liebe“
Originaltitel: Interpretations of Love
Übersetzt aus dem Englischen von Bettina Abarbanell
Kjona Verlag. Roman
240 Seiten, Hardcover, fadengeheftet
ISBN 978-3910372313
Weitere Informationen (Verlag)
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