Das Cernuschi-Museum, in der französischen Hauptstadt Paris, zeigt ab diesen Herbst die erste große Retrospektive Frankreichs dreier Pioniere der modernen vietnamesischen Kunst: Lê Phô (1907–2001), Mai Trung Thứ (1906–1980) und Vũ Cao Đàm (1908–2000).
Vor dem Hintergrund der starken politischen und kulturellen Veränderungen und wechselvollen Beziehungen von Frankreich und Vietnam während des gesamten 20. Jahrhunderts ist diese Ausstellung ein Paradebeispiel für eine postkoloniale und transkulturelle Annäherung mehrerer sehr unterschiedlicher Kulturen. Die ausgestellten Werke bewegen sich daher zwischen Adaptionen, Kombinationen und Weiterentwicklungen von künstlerischen Elementen Techniken und Stilen, die sich wie selbstverständlich aus vietnamesischen, chinesischen, buddhistischen, europäischen und westlichen Traditionen speisen.
Diese Ausstellung, die ab 11. Oktober 2024 zu sehen ist, fällt – quasi als Hommage – mit dem 100-jährigen Bestehen der Kunsthochschule Hanoi in Vietnam zusammen, die ursprünglich am 18. Februar 1925 unter französischer Kolonialherrschaft von dem französischen Maler Victor Tardieu (1870–1937) und dem vietnamesischen Künstler Nguyễn Vạn Thọ (1890–1973) gegründet wurde.
Kunstwerke, die Anfang der 1930er Jahre an der Universität der Schönen Künste in Vietnam ausgestellt wurden. Diese anonyme Fotografie, die erstmals auf der Pariser Kolonialausstellung 1931 gezeigt wurde, wird heute in den Archives nationales d'outre-mer in Frankreich aufbewahrt und trägt den Codenamen GG-8770-A. U.a. mit einem Bild des Werks „L'Age heureux“ von Lê Phổ, signiert 1930, hier in Hanoi gezeigt, bevor es zur Pariser Kolonialausstellung 1931 transportiert wurde. Fotograf unbekannt. Gemeinfrei
Zum ersten Mal wird eine umfängliche Ausstellung, die die Vermischung von vietnamesischen Traditionen und westlicher Kunst präsentiert. Der intensive Austausch zwischen Schülern und Lehrern ab den 1920er Jahren führte zur Entstehung eines neuen, spezifisch indochinesischen Stils. Verbindend und verbindlich ist die Figürlichkeit der Werke, es fehlt an vollständiger Abstraktion und so bleibt die Dekodierung in der Anschauung und dem Erkennen der Motive und Erzählungen.
Es wäre schwierig, sich lediglich mit europäischen kunsthistorischen Auffassungen den Werken zu nähern wie auch mit rein chinesisch-vietnamesischen, fernöstlich-konfuzianischen Erklärungsmodellen. Man sieht es den Bildern der drei Künstlern an, dass sie sowohl als auch sind. Sie sind durchdrungen und im besten Sinn transkulturell.
Die Schau umfasst 150 Werke von Lê Phô, Mai Thứ und Vũ Cao Đàm – aus 25 verschiedenen Sammlungen. Sie zeichnet die Wege von ihrer Ausbildung an der Kunsthochschule in Hanoi, ihre lange Karriere in Frankreich ab 1937 bis zum Ende des 20. Jahrhunderts nach. Konzept und Ausstellung wurden in enger Zusammenarbeit mit den Familien der Künstler erarbeitet, die ihre privaten Archive geöffnet haben.
Die Kuratoren haben versucht, den wechselvollen Weg dieser drei Künstlerfreunde mit historischen Dokumenten, Fotografien, Zeichnungen aus den Ausbildungsjahren, vorbereitende Skizzen und Hauptwerken u.a. auf lackiertem Papier, Seidenmalerei, Skulpturen aus Gips oder Bronze nachzuzeichnen, die ihr Heimatland ebenso liebten wie Frankreich. Die Kombination von verschiedenen Techniken und Materialien aus westlichen und asiatischen Traditionen ist typisch für ihre Werke, die in den letzten dreißig Jahren auf dem Kunstmarkt, in Galerien und in Auktionshäusern – da werden auch Millionenbeträge in US$ erreicht, wie unlängst auf einer Auktion 2023 in Hongkong – immer mehr an Beliebtheit gewonnen haben.
Die erste Ausstellung über diese, für die Entwicklung der vietnamesischen Kunst des 20. Jahrhunderts emblematischen Künstler, vereint Werke aus verschiedenen Beständen: öffentliche oder private Leihgeber, Familien der Künstler, enge Freunde (für die ältesten Werke) oder einfache Liebhaber und Sammler. Zu den öffentlichen Leihgebern gehört die Cité internationale universitaire de Paris, Maison des étudiants de l'Asie du Sud-Est, die zum ersten Mal ein großes Ölgemälde von Lê Phô aus dem Jahr 1929 ausleiht, den ersten Auftrag, den der Maler erhielt, als er noch Student war. Weitere Leihgeber sind das Mobilier national und das Justizministerium.
Das Musée du quai Branly – Jacques Chirac leiht eine Reihe von Skulpturen von Vu Cao Dam aus. Verschiedene Gemälde und Objekte der drei Künstler stammen aus den Sammlungen des Centre national des arts plastiques;
Ausbildung und kolonialer Kontext von 1925 bis 1931
Ab dem Ende des 19. Jahrhunderts errichtete Frankreich gewaltsam ein Protektorat in Indochina. Die Kolonialverwaltung schaffte nach und nach Bildungseinrichtungen wie die Université Indochinoise (1906) oder die École des beaux-arts de l'Indochine (EBAI), die Kunsthochschule in Hanoi (1925), deren Gründung von vietnamesischen Intellektuellen und Künstlern der damaligen Zeit unterstützt wurde. Die Bewegung wurde von Nguyễn Vạn Thọ, genannt Nam Son, initiiert.
Dieser junge, autodidaktische Künstler beklagte das Fehlen einer höheren Einrichtung, die für die künstlerische Ausbildung zuständig war. Er überzeugte den französischen Maler Victor Tardieu von der Notwendigkeit, vietnamesische Künstler in westlichen Techniken auszubilden. Die Studenten lernten dort die Techniken und Stile der europäischen Kunst sowie Konzepte von Künstlern des 19. und frühen 20. Jahrhunderts im westlichen Sinne kennen, während das kulturelle Erbe Ostasiens in den Mittelpunkt des Projekts gestellt wurde mit dem Ziel, eine Erneuerung der vietnamesischen Kunst herbeizuführen, da die chinesischen Traditionen übermächtig erschienen. Dieser kulturelle Austausch trug zur Entstehung einer modernen vietnamesischen Kunst bei.
Von den Schönen Künsten in Hanoi in das Paris der 1930er Jahre
Victor Tardieu, der Gründungsleiter der Kunsthochschule in Hanoi, war nicht nur Lehrer, sondern insbesondere auch ein Förderer seiner vietnamesischen Studenten. Er weiß, dass sie nur dann nationale und internationale Anerkennung finden, wenn ihre Werke vor einem breiten Publikum – auch in Europa – ausgestellt werden.
Große Ausstellungen: die offizielle Unterstützung (1931–1939)
Die Kolonial- und Weltausstellungen, die in den 1930er Jahren in Frankreich und ganz Europa veranstaltet wurden, boten sowohl Anerkennung für die neue indochinesische Schule, die von der Presse lobende Kritiken erhielt, als auch die Möglichkeit für die jungen Künstler, ihre Werke zu verkaufen. Diese offizielle Unterstützung des französischen Staates, die im Rahmen der kolonialen Propaganda die Exzellenz seiner Bildungspolitik unter Beweis stellen soll, erschöpft sich jedoch angesichts der zunehmenden nationalsozialistischen Bedrohung in Europa.
In der Ausstellung ist ein Audiopunkt eingerichtet, an dem die Besucher, sich historische Tondokumente anzuhören, die ein besseres Verständnis der Beziehungen zwischen Victor Tardieu und seinen Schülern ermöglichen. In einem ersten Ausschnitt hört man die Stimme von Jean Tardieu (Victors Sohn), der in der Publikation Lettre de Hanoï (1928) an einen kontemplativen und poetischen Spaziergang denkt, den er mit seinem Freund, dem Maler Lê Phô, durch die Landschaft von Tonkino unternommen hat. Ein anderes Tonbeispiel schrieb Mai-Thu, der damals Zeichenlehrer in Hué war, einen Brief an seinen Lehrer Victor Tardieu, indem er ihm von sich und seinem Tun berichtete. Schließlich hören die Besucher den Kondolenzbrief von Nguyễn Vạn Thọ (Nam Son) vorgetragen, den dieser nach Victor Tardieu Tod im Juni 1937 an dessen Sohn Jean schreibt.
Von den Verlockungen des künstlerischen Paris zu den Wirren des Krieges
Lê Phô, Mai Thứ und Vũ Cao Đàm zeichneten sich unter den Pionierkünstlern durch ihren Entschluss aus, ihre Karriere in Frankreich zu suchen und zu verfolgen.
Bereits während ihres Studiums an der Kunsthochschule in Hanoi teilten sie den Wunsch, die Kulturmetropole Paris mit seinen Künstlervierteln, Galerien und Museen kennenzulernen. Lê Phô reiste 1931 als erster nach Paris, um die Gestaltung der indochinesischen Abteilung der Kolonialausstellung zu überwachen, und kehrte 1937 für die Weltausstellung erneut nach Paris zurück. Vũ Cao Đàm kam im Dezember 1931 mit einem Stipendium in die französische Hauptstadt. Mai Thứ schließt sich ihnen im Sommer 1937 an.
Alle drei werden bleiben, zwar freiwillig und bewusst, aber durch den Zweiten Weltkrieg ab 1939, dem Versuch Vietnams unabhängig zu werden, dem Indochinakrieg, die Teilung des Landes 1954 und bis zum Ende des Vietnamkriegs im April 1975 wird jede Rückkehr zum Risiko.
Im Juli 1940 werden Lê Phô und Mai Thứ aus der französischen Armee entlassen. Ersterer geht nach Nizza und letzterer bleibt in der burgundischen Kleinstadt Mâcon, wohin er während der Kriegsjahre 1939/40 geschickt worden war.
Einige Bürger von Mâcon erkannten Mai Thứs Talent und gaben bei ihm Porträts auf Seidenstoff gemalt in Auftrag. Außerdem wurde er mit einem Fresko in einer Kapelle der Kirche Saint-Pierre in Mâcon betraut. Diese Aufträge sind in diesen schwierigen Jahren überlebensnotwendig. Ende 1943 kehrten Lê Phô und Mai Thứ nach Paris zurück, wo sie Vũ Cao Đàm wiedertrafen.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Etablierung in Paris
Im Sommer 1946 reiste Hò Chí Minh anlässlich der Konferenz von Fontainebleau nach Paris. Die vietnamesischen Unabhängigkeitsbewegungen hatten von der Schwächung Frankreichs während des Zweiten Weltkriegs profitiert und am 2. September 1945 wurde die Demokratische Republik Vietnam ausgerufen. Ihr Präsident, Hò Chí Minh, muss nun mit der französischen Regierung die Bedingungen der Unabhängigkeit aushandeln. Während seines Aufenthalts trifft sich Minh mit Vietnamesen, die in Frankreich leben, unter ihnen Lê Phô, Mai Thứ und Vũ Cao Đàm. Letzterer erhielt die Erlaubnis, ein Brustbild des Präsidenten anzufertigen, während Mai Thứ einen Film über Hò Chí Minhs Aufenthalt in Frankreich drehte. Diese Aufnahmen aus dem Sommer 1946 zeigen Hồ Chí Minh bei seinem Besuch an verschiedenen Orten, als er versucht, die öffentliche Meinung für die Sache der vietnamesischen Unabhängigkeit zu gewinnen, für dieser seit 1919 gekämpft hat.
In der Ausstellung sind dazu Auszüge aus diesem historischen Dokumentarfilm von Mai Thứ zu sehen, die den Kontext der Kriegsjahre und den Bruch zwischen Vietnam und Frankreich thematisieren.
Ab den 1950er Jahren malen Lê Phô, Mai Thứ und Vũ Cao Đàm nicht nur überwiegend Landschaften, sondern zunehmend situative und interaktive Momente, es entstehen Bilder von Familien, Frauen in Gärten, bei der Teezubereitung und weiterhin Einzelportraits. Hinzu kommen Stillleben.
Lê Phô: Figuren im Garten, Öl auf Leinwand, 75x209 cm, Privatsammlung USA
Sie illustrieren auch immer wieder das berühmte Gedicht, den Roman von Kiĕu, der als das Meisterwerk der vietnamesischen Literatur gilt. Viele Bilder inszenieren die Begegnung der beiden Schwestern Kiĕu und Vân mit Kim, einem adligen und gebildeten jungen Mann, der auf einem Pferd nach Hause reitet. Indem die drei Künstler die formale Modernität ihrer Malerei mit diesem klassischen Thema verbinden, bewahren sie ihre vietnamesische Identität. Ohne mit der Vergangenheit zu brechen, führen sie deren Kern fort: Auf die im Gedicht gepriesene konfuzianische Tugend und die Beharrlichkeit im Angesicht von Widrigkeiten antwortet die Ode an die Liebe und die Schönheit von Lê Phô, Mai Thứ und Vũ Cao Đàm.
Lê Phô, Mai Thu und Vu Cao Dam. Pioniere der modernen vietnamesischen Kunst in Frankreich
Zu sehen vom 11. Oktober 2024 bis 9. März 2025 im Museum Cerrnusch – Museum für asiatische Kunst der Stadt Paris in der 7, avenue Vélasquez, 75008 Paris/Frankreich
Öffnungszeiten: Dienstag bis Sonntag von 10:00 bis 18:00 Uhr, außer an bestimmten Feiertagen (Kassenschluss um 17:30 Uhr).
Erreichbar: U-Bahn: Linie 2, Station Villiers oder Monceau / Linie 3 Station Villiers Bus: 30, 84, 9
Generalleitung: Éric Lefebvre, Direktor des Musée Cernuschi Wissenschaftliches Leitung: Anne Fort, Konservatorin, verantwortlich für die vietnamesischen Sammlungen.
Weitere Informationen (Museum; fr./engl.)
Der Katalog zu dieser Ausstellung ist als Nachschlagewerk konzipiert, das die großen Perioden im Leben und in der Karriere jedes der drei Künstler beleuchtet. Ihre persönlichen Entscheidungen werden mit der großen Geschichte konfrontiert, die ihren Werdegang prägt. Der koloniale Kontext, die nationale Emanzipation Vietnams und die Zeit der drei aufeinanderfolgenden Kriege zwischen 1939 und 1975 werden ausführlich behandelt, um dem Leser einen besseren Einblick in die Entwicklung ihres Stils und ihrer bevorzugten Themen zu ermöglichen.
Anne Fort (Hrg.); Autoren: Nadine André-Pallois, Anne Fort, Marie Garambois, Sarah Ligner, Martina Thucnhi Nguyen, Phuong Ngoc Nguyen, Phoebe Scott.
Éditions Paris Musées, Format 21 x 30 cm, Broschur, 208 Seiten, 200 Abbildungen.
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