Fotografie
Jochen Lempert in der Overbeck-Gesellschaft Lübeck

Der Hamburger Künstlerfotograf Jochen Lempert stellt im Pavillon der Overbeck-Gesellschaft in Lübeck aus.
Rund 50 Fotoarbeiten zeigen Bildmotive aus der Pflanzen- und Tierwelt. Wer Altbekanntes – wer Bildserien von Vögeln, Meereswellen und Wolken – erwartet hat, dürfte enttäuscht sein. Die Lübecker Schau präsentiert Arbeiten der letzten Jahre und – aus seinem reichhaltigen Fundus an Negativen – unveröffentlichtes Bildmaterial. Lemperts Bilderkosmos ist Schwarz-Weiß mit feinen Grauabstufungen, sein fotografischer Blick nüchtern, naturwissenschaftlich. Nüchtern ist auch die Hängung: Ohne Rahmen und schützendes Glas sind die Fotografien nur mit Klebeband an den weißen Wände befestigt.

Jochen Lempert studiert an der Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn Biologie und Insektenkunde; er schließt sich „Schmelzdahin", einer Gruppe experimenteller Filmemacher an. Anfang der Neunzigerjahre kommt er zur Fotografie. Konsequent widersetzt er sich der Digitalfotografie, fotografiert mit einer analogen 35mm Kamera und grobkörnigen Schwarz-Weiß-Filmen. Die Fotos werden in der Dunkelkammer von Hand entwickelt, als Silbergelatineprint auf dickem Barytpapier abgezogen. Seine Motive, egal ob Pflanzen oder Tiere sind fast immer in der Bildmitte angeordnet. Die auf den ersten Blick irritierende Hängung erschließt sich dem Besucher erst bei näherer Betrachtung: Lempert verknüpft seine Fotoarbeiten formal und motivisch zu heterogenen Gruppen. Scheinbar artfremde Sujets bilden Sichtachsen, Bezüge und Assoziationen, die nicht nur miteinander sondern auch mit dem Raum korrespondieren. Zum Beispiel hängen Fotos einer auf Blättern versteckten Phasmide, Gespenstschrecke, neben einer Fotografie vom Samenkorn des Springkrauts oder die Blüte der Schachbrettblume neben einer Belladonna, Tollkirsche. Welche Zusammenhänge und Gemeinsamkeiten gibt es da? Gespenstschrecken sind Insekten, die zur Tarnung ihre Körperform den Zweigen, Ästen oder Blätter ihrer Umgebung anpassen. Sie leben in tropischen und subtropischen Teilen der Erde. Auch das Springkraut ist ursprünglich in den Tropen beheimatet. Eingeschleppt nach Europa, verdrängt die Pflanze heimische Arten und gefährdet unsere Kulturlandschaft. Die Schachbrettblume dagegen ist giftig, vor allem die Zwiebel enthält Alkaloide, genauso wie die schwarzen Früchte der Tollkirsche.

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Der zweite Ausstellungsraum thematisiert Blätter von Bäumen. Sechs Foliogramme „Transmission" zeigen filigrane Zellstrukturen von Blättern, welche sonst dem menschlichen Auge verborgen bleiben. Die Aufnahmen entstehen nicht mit dem Elektronenmikroskop, sondern als Fotogramme. Das heißt, die Blätter werden in der Dunkelkammer auf ein lichtempfindliches Papier gelegt, etwa eine Stunde belichtet und vergrößert. Bereits László Moholy-Nagy und Man Ray haben im Paris der 1920er-Jahre mit Fotogrammen, dem Fotografieren ohne Kamera, experimentiert.

„Transmission" korrespondiert mit zwei Fotoarbeiten auf der gegenüberliegenden Wand. Unter einem Baum werden heruntergefallene Blätter vom Wind aufgewirbelt oder liegen auf parkenden Autos. Die Platzierung ist sorgfältig ausgewählt, denn der Blick durch die Glastür des Pavillons geht in den herbstlichen Garten mit seinen, unter Laubbäumen liegenden Blättern.

Ein großer Tisch mit Fotografien steht im dritten Raum der Ausstellung. Der Besucher kann die Fotos in die Hand nehmen, um sozusagen die Pflanzen haptisch zu erfahren. Von den Fotoarbeiten ist besonders Lemperts vierteilige Werkgruppe aus stark abstrahierten Blättern der Feige und Zaunwinde, dem Faulbaum und einem Gras interessant. Sie stehen im Dialog mit Bildschirm-Photogrammen aus Büchern der englischen Botanikerin Anna Atkins, der ersten Fotografin im Viktorianischen England. Mit Hilfe der Cyanotypie (Blaupause-Druck), einer damals bekannten Fototechnik, illustriert sie wissenschaftliche Lehrbücher „British Algae: Cyanotype Impressions" von 1843 und „Cyanotypes of British and Foreign Flowering Plants and Ferns", 1854. Heimische und ausländische Flora, darunter Farne, Gräser, Blätter und Algen werden von ihr detailliert dokumentiert. Atkins ist es zu verdanken, dass sich die Fotografie als Medium in der Naturwissenschaft etablieren kann. Sind Lemperts Arbeiten eine Hommage an diese großartige Fotografin und Botanikerin?

Mit Jochen Lempert präsentiert die Overbeck-Gesellschaft einen zeitgenössischen Fotokünstler, dessen Einzelbilder und Bilderserien sich zwischen dem naturkundlichen Blick eines Biologen und dem künstlerischen Blick eines Fotografen bewegen. Lempert ist kein Newcomer in der Kunstszene. Seit 1990 stellt er in renommierten Galerien, Kunstvereinen, Museen im In- und Ausland aus, darunter im Museum Folkwang Essen, Museum Ludwig in Köln sowie dem Sprengel Museum Hannover und der Hamburger Kunsthalle. 2009 lebt und arbeitet er als Stipendiat in der Villa-Massimo in Rom. Er erhält zahlreiche Auszeichnungen für sein Werk. 2006 ehrt ihn der Senat der Freien und Hansestadt Hamburg mit dem Edwin-Scharff-Preis. „Sein enzyklopädisch angelegtes Werk reflektiert im Medium der Fotografie Zusammenhänge zwischen Naturwissenschaft und Kunst", heißt es in der Laudatio.


Die sehenswerte Ausstellung „Jochen Lempert" ist bis zum 23. November 2014 in der Overbeck-Gesellschaft, Königstraße 11, 23552 Lübeck zu besichtigen.
Die Öffnungszeiten sind Dienstag bis Sonntag von 10 bis 17 Uhr.
www.overbeck-gesellschaft.de


Abbildungsnachweis: Alle (c) Jochen Lempert
Header: Jochen Lempert (Detail eines Fotos)
Galerie:
01. Jochen Lempert in der Ausstellung. Foto: Christel Busch
02. Blick in die Ausstellung. Foto: Overbeck-Gesellschaft
03. Ginko, 2014
04.-06. Blicke in die Ausstellung. Fotos: Overbeck-Gesellschaft
07. Ausstellungsansicht. Foto: Christel Busch
08. Honeyguides, 2011
09. Blick in die Ausstellung. Foto: Overbeck-Gesellschaft

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