Meinung

Es gibt diese glückhaften Momente in der Musik, da man zugegen ist bei dem Akt der Entstehung einer Komposition. Oder es zu sein vermeint. Grad so, als ob man dem Komponisten über die Schulter schaute, während er, verzaubert durch seine eigene Schaffenskraft, die dem zwingenden Auseinanderhervorgehen der Töne lediglich nachfolgt, sich in seinem Konstrukt auf eine Weise verliert, ganz so, als ob es nicht sein eigenes wäre.

 

Das Wort Einflüsterung mag diesem Sachverhalt nahekommen oder auch das Bild, wie eine an Fäden gezogene Marionette einem fremden Willen zu gehorchen, indem sie ihm Ausdruck verleiht. So dass die seelenlose Puppe wie beseelt ist, da sie das scheinbar Fremde, als das Ureigenste hervortreten lässt.

 

„Das unaussprechlich Innige aller Musik, vermöge dessen sie als ein ganz vertrautes und doch ewig fernes Paradies an uns vorüberzieht, so ganz verständlich und doch so unerklärlich ist, beruht darauf, daß sie alle Regungen unsers innersten Wesens wiedergibt, aber ganz ohne die Wirklichkeit und fern von ihrer Qual. (…) Sie drückt (…) nicht diese oder jene einzelne und bestimmte Freude, diese oder jene Betrübnis oder Schmerz oder Entsetzen oder Jubel oder Lustigkeit oder Gemütsruhe aus; sondern die Freude, die Betrübnis, den Schmerz, das Entsetzen, den Jubel, die Lustigkeit, die Gemütsruhe selbst, gewissermaßen in abstracto, das Wesentliche derselben ohne alles Beiwerk, also auch ohne die Motive dazu.“ Arthur Schopenhauer in „Die Welt als Wille und Vorstellung“.

 

Zurück auf Anfang! Es wird schon so sein, dass Künstler jeglicher Couleur im Akt des Schaffens gerade im Selbstverlust erst wirklich zu sich selbst finden. Oder nicht zu sich selbst, sondern zu dem substanziellen Gehalt dessen, in das sie ihr Selbstsein versenkt haben. Was vermutlich keine allzu unpassende Bestimmung dessen ist, was authentische Kunst von artifizieller (also ihrer Totalverfehlung) unterscheidet.

 

Diese Einspielung mit dem Philharmonischen Orchester von St. Petersburg unter der so ungemein feinfühligen, unaufgeregt-liebevollen musikalischen Leitung von Yuri Temirkanov und mit der Solistin Sayaka Shoji ist vermutlich exakt in dem mental-emotionalen Bereich zu Hause, in dem sich Sergei Sergejewitsch Prokofjew befunden hat, als er das 2. Violinkonzert in g-Moll, op. 63 1935 in Noten gesetzt hat.

 

Was ja, wie bekannt, genau der Anspruch oder der Wunsch dieser japanischen Violinistin ist: Sich in den Zeitpunkt der Entstehung einer Komposition zu versetzen, also sozusagen die Marionette zu sein, deren Fäden die Tonmanifestationen des Komponisten sind. Und das setzt voraus, dass die Selbstverlorenheit des sich in diesem Selbstverlieren findenden Tonsetzers zu der des reproduzierenden Künstlers geworden ist, was also im Idealfall impliziert, dass die Differenz zwischen dem Akt der Schöpfung und der Reproduktion des Ton gewordenen Kunstwerks in seiner klanglichen Wiedergabe annulliert worden ist. Was vermutlich so nie zu erreichen sein wird, nicht allein deswegen, weil es sich um einen Anachronismus handelt. Wie soll, bitte schön, das in der wie auch immer entfernten Vergangenheit Realisierte mit demjenigen koinzidieren, das im jeweiligen, je unterschiedlichen Jetzt und Hier erklingt?! Das würde zunächst nichts anderes bedeuten, als dass der Fluss der Zeit aufgehoben wäre. Von all den anderen hierhergehörigen Differenzen und Differenzierungen, die den je unterschiedlichen Schaffensvorgang in seiner je selbstbezüglichen Eigenheit selbst betreffen ganz zu schweigen.

 

Dennoch, ich behaupte, dass dieses Ansinnen, seiner Vergeblichkeit zum Trotz, bei Gelegenheit dieser Darbietung, die nun auch schon wieder knapp zehn Jahre zurückliegt, der Verwirklichung sehr nahegekommen ist. Wer zu hören versteht, und wer auch feinste Nuancen der Mimik wahrzunehmen vermag, der wird sich bei dieser Einspielung, die wie aus einer fernen Zeit zu ihm/ihr spricht, in einem Taumel des Glücks selbst verlieren, beziehungsweise für die Minuten der Anteilnahme zu sich selbst gefunden haben. Das heißt, endlich dort – der Sehnsuchtsort schlechthin – angekommen zu sein, wo jegliche Bedrückung und alles Ungemach zu existieren aufgehört hat.

 

Im 2., Andante assai – Allegretto überschriebenen Satz, hat Prokofjew diesen Zustand schwebend-leichter Selbstaneignung, in dem alle Last sich verflüchtigt, gleich zwei Mal in Töne gesetzt. Ich rede von den Flageolett-Passagen, also dem das Herz zutiefst berührenden Zusammenspiel der Solovioline mit – man denke! – der Solotrompete, die beide, per Dämpfer, wie aus einer Feen- und Zauberwelt, also von ganz weit her, tönend zueinander finden, ihres ganz unterschiedlichen Klangs zum Trotz in einer faszinierenden Symbiose tatsächlich zueinander gefunden haben. Genauer: In der ersten Doppelsequenz kommt der Dämpfer bei der Violine noch nicht zum Einsatz; erst in der zweiten Doppelsequenz sind beide Instrumente mit einem Dämpfer versehen, so dass diese ‚Wiederholung‘ noch um eine Nuance zarter ausfällt, sich noch mehr ins Irreale, in eine quasi dahinschwindende Transzendenz verliert, die eine äußerster Zerbrechlichkeit des Innigsten ist. – Dass Prokofjew diese insistierende Doppelung vorgenommen hat, ich kann es mir nicht anders erklären als dadurch, dass ihn im ersten Augenblick des Initiiert-Seins die Freude darüber berührt oder überwältigt hat, so etwas wie eine Coincidentia oppositorum in die musikalische Realität überführt zu haben.

 

Ist es ein Zufall, oder handelt es sich nicht vielmehr erneut um eine Bestätigung des oben Angeführten, dass dieses Glück des Ursprungs erneut in der Reproduktion sich selbst wiedergefunden hat, zu sich selbst gekommen ist, darin nämlich – das Visuelle kommt ins Spiel –, dass Sayaka Shojis Gesicht zu Beginn dieser Märchenweltglückspassage in kindlich-unschuldigem, gleichfalls initiiertem und doch – eine contradictio in adjecto – wissendem Glück erstrahlt?! Weil sie in diesem Moment sich mit dem, der ihr und uns dieses Glück verschafft hat, über die Zeiten hinweg zumindest verbunden weiß.

 

Dass diese Geigerin sich aber in der unendlich nuancenreichen Zauberwelt der Musik unentwegt aufhält, d.h. in ihr geborgen ist – im Selbstverlust zu sich selbst und zu der Komposition in ihrem Wesenskern findet –, das zu überhören oder nicht wahrzunehmen ist schlechterdings nicht lediglich bei dieser Einspielung ein Ding der Unmöglichkeit. Oder beinhaltet eben die unerbittliche Klarstellung, dass zwischen der einen Welt (des kläglich scheiternden Rezipienten) und der anderen (des Künstlers, der einzig diesen Namen verdient) Welten liegen.


Sergei Sergejewitsch Prokofjew: 2. Violinkonzert in g-Moll, op. 63

 

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Sayaka Shoji plays Prokofiev: Violin Concerto No.2 in G minor, Op.63 (27:43 Min.)

 

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