Die Carmen Fantasie von Pablo de Sarasate (1844–1908) mit der Violinistin Hilary Hahn und dem hr-Sinfonieorchester unter der musikalischen Leitung von Andrés Orozco-Estrada.
Wäre Nietzsche diese rein instrumentale Carmen-Fantasie zu Ohren gekommen, läge man vermutlich mit der Mutmaßung nicht allzu falsch, dass seine Begeisterung für Georges Bizets Carmen tatsächlich hätte ernst gemeint gewesen sein können.
Die durchaus ernst gemeint gewesen ist, da ihm die schwüle und als dekadent empfundene, stets von theatralischem Pathos angekränkelte und religiös verunreinigte, in ihrem tiefsten Kern an ihrem hehren Pathos (ver-)zweifelnde Heldenpose der Musik des einst in seinem als revolutionär empfundenen Treiben Angehimmelten zusehends suspekt geworden war.
Wenn schon Musik mit hehrem Pathos, dann doch lieber solche, die mit diesem Pathos in ihrer Klarheit und Helle korrespondiert. Ein Heroe hat, selbst im Untergang, nicht von Selbstzweifeln zerfressen zu sein, sondern sich auch in seinem Tönen erhaben zu zeigen über das Schicksal, das ihn – unverschuldet übrigens – ereilt. Und der sich eben deswegen nicht in der Nachbarschaft eines an sich verzweifelnden, nervös-überfeinerten und vor allem an sich selbst irrewerdenden Heldentums, das einem sozusagen läppischen Untergang geweiht ist – Pathos, das sich stets auf dem Sprung in die Groteske befindet, Larmoyanz als nervtötendes Dauergehabe –, aufhält.
Ganz anders jedenfalls als in Richard Wagners sich in dunklem Drang verzehrender, sich selbst nicht mehr recht vertrauender Weihespielchromatik dominiert in Bizets Oper – und damit auch in dieser kongenialen Fantasie über Carmen –, aller inhaltlichen Tragik zum Trotz, die Helle einer klaren musikalischen Struktur, die sozusagen mit sich selbst im reinen und nicht von den Zweifeln an ihrer tonalen Integrität zerfressen ist. Da es doch genau diese, wenn man will, chromatische Veruneindeutigung der Musik Wagners gewesen ist, die im Vergleich mit der tonalen Eindeutigkeit eines Bizet etwa den musikalischen Fortschritt auf ihrer Seite hatte.
Der kompositorische Fortschritt: Chromatik als das Fließen von klanglichen Farbvermischungen auf der Basis von kompositorisch inthronisierten Halbtonschritten, die einer tief empfundenen Haltlosigkeit – ins Positive gewendet: dem ekstatischen Rausch – Ausdruck gaben. Die Dreiklangs-Harmonik und damit das Halt gebende tonale Zentrum wurden der Auflösung preisgegeben. Wagners Musik frönte dem Irrationalismus, gab sich dem Fallen ins Nicht-mehr-Geheure vorbehaltlos hin. Denn was ist ungeheurer als das auch im Tonmaterial und seinen verkürzten Differenzen, die sich auf dem Sprung zum die Differenzen aufhebenden Differenzial befinden, angestrebte Unendliche. In dem der musikalische Fortschritt sich seine Gestalt in dem kompositorischen Schaffen Wagners gibt oder gegeben hat.
Den sich – nämlich den Fortschritt – auch Nietzsche – der selbsternannte Fachmann ausgerechnet in Sachen Dekadenz, die diejenige Wagners war – wie kaum jemand sonst – so geht eine doppelbödige Ironie – auf die Fahne geschrieben hatte. Was impliziert, dass musikalisches und intellektuelles Neuerertum bei gleichzeitigem Hang zum Verfall und einer vom Niedergang magisch angezogenen Überfeinerung nur scheinbare Gegensätze sind oder sein können.
Welche delikate oder paradoxe Synthese, gleichviel, in nicht unerheblichen Teilen von Thomas Manns Erzählwerk ihre literarisch basierte Entsprechung gefunden hat. Der ja, wie bekannt, Wagners musikalisches Künstlertum gleichermaßen bewundert wie… ein starkes Wort: verachtet hat; oder jedenfalls mit stärkstem Zweifeln – das, wie man weiß, auch so etwas wie ein uneingestandener Selbstzweifel war, begegnet ist.
Von diesen den Sinn und den Verstand betörenden Verwicklungen ist in der Musik des gebürtigen Parisers und seines spanischen Bearbeiters gewiss keine Spur zu finden. Oder etwa doch? Was vor allem in dieser in ihrer Gesamtheit ungemein intensiven Einspielung so deutlich wird, wie wohl selten, das ist die ekstatische Eskalation eines musikalischen Wirbels, der im Finale alle doch eigentlich vorherrschende Klarheit im Chaotischen, das eben doch das letzte Wort behält, zu verschlingen droht, beziehungsweise faktisch verschlingt.
Freilich und erneut, von diesem Finale furioso abgesehen, ist diese Musik durch die Helle, Klarheit und Eindeutigkeit tonaler Gesittetheit – sit venia verbo – charakterisiert. Und dennoch, dass zum Ende hin das harmonisch und melodisch eindeutig strukturierte Konstrukt, aller Glissandi und Flageolett-Verschwebungen zum Trotz, völlig aus den Fugen gerät, mag auch damit zu tun haben, dass unter der Oberfläche auch hier chthonische Kräfte walten, die das Glatte, Helle und sich wie selbstverständlich Einschmeichelnde der nicht allein musikalischen Oberfläche durchbrechen, beziehungsweise dieses in die Unterwelt wild entfesselter, nicht geheurer Kreatürlichkeit hinabziehen.
Links: Pablo de Sarasate, spanischer Geiger und Komponist, 1905. Fotograf unbekannt. Gemeinfrei. Rechts: Hilary Hahn, 2019. Foto: © Quincena Musical. CC BY 2.0
Ich bitte, das sei abschließend vermerkt, auf Hilary Hahns Gesicht zu achten während des an furioser Wildheit und selbstentrückter Verzückung wohl nicht mehr zu überbietenden Finales. Sie hat sich während dieser paar Sekunden, dies der Eindruck, endgültig aus der Realität verabschiedet, ist der Welt in einem wüsten Taumel und einem Wirbel haltlos-verlorenen Hingerissen-Seins (einer nicht mehr rechenschaftspflichtigen Ekstase) – die diejenige der Musik selbst und als solcher ist – abhandengekommen. Um gleich danach aus diesem alles verschlingenden Strudel eines jeglichen Halts entbehrenden Außer-sich-seins wie aus einem Traum mit einem Lächeln, das Unsicherheit ausdrückt, wieder aufzutauchen und in ungläubigem Staunen zu sich selbst und in die Realität des Konzerthauses zurückzufinden. Dieses ungläubige Staunen unmittelbar erfahrenen Glücks, das ausgerechnet aus dem totalen Selbstverlust der Raserei resultiert und insofern vielleicht mit der Banalität des Glücks gar nichts mehr zu schaffen hat, ist aber das des nicht weniger entrückten und auf eine nervöse Art verzuckten (sic!) Rezipienten.
Pablo de Sarasate: Carmen-Fantasie, op. 25
Komponiert 1881
Allegro moderato | Moderato | Lento assai | Allegro moderato | Moderato
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Hilary Hahn Sarasate carmen fantasy (reupload, 15:09 Min.)
Deutsche Grammophon (7. Oktober 2022). „Deutsche Grammophon | ECLIPSE Hilary Hahn". Archiviert vom Original vom 24. September 2023.
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