CDs KlassikKompass

„Was die großen Komponisten der Wiener Schule von Haydn bis Schubert wollten, eine Musik, die ganz und gar in sich gefügt, ganz richtig, ganz verbindlich und doch in jedem Augenblick Subjekt, eigentlich befreite Menschheit ist, hat bis heute noch nicht seine Stimme finden können.

Dennoch bleibt sie aufgegeben als Vorwegnahme des Bildes einer Gesellschaft, in der wahrhaft das Gesamtinteresse, mit dem aller Einzelnen koinzidierte, in der es keine Gewalt und Unterdrückung mehr gäbe (was offenbar in keiner der bestehenden der Fall ist, F.-P.H.).

Musik, welche Versöhnung meint, ist am empfindlichsten gegen deren Schein: das zeigen die Artistennerven an, wenn sie Kitsch registrieren. Erheischt wäre nicht das Friedliche über den Gegensätzen, sondern die reine, kompromisslose Darstellung des absoluten Gegensatzes selber.“ (Theodor W. Adorno, Klassik, Romantik, Neue Musik, in: Nervenpunkte der neuen Musik, S. 27ff.)

 

In der Suntory Hall in Tokio fanden am 26. und 27. November 2000 – Hilary Hahn feierte am 27. ihren 21. Geburtstag – unter der musikalischen Leitung von Mariss Jansons mit den Berliner Philharmonikern ein – ich greife zu einem Superlativ – zuhöchst ergreifendes Konzert statt.

Dieser Superlativ trifft natürlich sowohl auf die Komposition als auch auf diese, meines Erachtens kongeniale Interpretation zu. Wobei ich betonen möchte, dass alle an diesem Ereignis Beteiligten ihren jeweiligen Teil dazu beigetragen haben, dass diese Darbietung die Gefahr in sich birgt, in ein haltloses Lobpreisen auszubrechen. Was ich dann ja auch bereits getan habe. Und zwar ganz ohne schlechtes Gewissen.

 

Ich werde mich im Folgenden auf den zutiefst ergreifenden, geradezu herzzerreißenden 3. Satz dieses 1947/48 entstandenen Solokonzerts – also die andante zu spielende Passacaglia mit anschließender, ziemlich genau fünfminütiger Solo-Kadenz – konzentrieren.

Der Basso ostinato der Passacaglia, also das harmonische Grundgerüst der Barockmusik, ist in diesem Satz vom ersten Takt an präsent. Der Eindruck einer unerbittlichen Schwere und einer Trauer, der nicht zu entrinnen ist, drängt sich geradezu verstörend auf. Diese Trauer aber ist doppelten Ursprungs, beziehungsweise entwickelt sich auf zwei Ebenen, die zwar gegensätzlicher nicht sein könnten. Und die dennoch, über (Ton-) Abgründe hinweg, gerade auf Grund des Kontrastes eine Intensität erzeugen, die unter die Haut geht oder Tränen der Verzweiflung in die Augen treibt, die, so funktioniert eine musikalisch vermittelte Gefühlsparadoxie, gleichzeitig Tränen des Glücks sind.

 

Was für ein Kontrast! Die verschwebende Klage der Solo-Violine ist in ihrer Fragilität so überwältigend flehend, gebrechlich, ist eine inständige Bitte darum, in ihrer beängstigenden Einsamkeit vernommen, vielleicht erlöst zu werden. Der mehr als bloß den Hintergrund ausfüllende, gravitätische Basso ostinato schafft darüber hinaus eine Atmosphäre tiefster Schwermut, die dem Flehen eine geradezu ohrenbetäubende Tiefe, einen abgründigen Ernst des Mitleidens verleiht.

 

Der eigentliche Höhepunkt des Satzes aber wird durch das Englischhorn eingeleitet – apropos das Englischhorn: der früh schon einsetzende Dialog zwischen der Violine und der tiefen Oboe ist von einer schmerzhaften Eindringlichkeit des sympathetischen Gefühls, die unwillkürlich an die gleichfalls herzinnige Zwiesprache zwischen der Violine und der Oboe im Adagio von Johannes Brahms Violinkonzert denken lässt –, dessen per se in Dunkelheit gebrochenen klagend-näselnden Part dann das gravitätische, sanfte Dröhnen – ja, auch das gibt es – der Kontrabasstuba aufgreift und intensiviert. Die Violine aber mit ihrem verzweiflungsvollen, gebrechlichen Flehen um Erlösung aus ihrer Einsamkeit erhält in genau diesem tiefernsten Klang aus der dunkelsten Region des Verlassen-Seins eine Antwort, eine Resonanz und ist in dieser verdoppelten Einsamkeit dann doch nicht mehr allein. In der Verzweiflung aus gegensätzlichsten Tonregionen könnte die herbeigesehnte Erlösung gefunden sein. Und wenn auch nur als die Andeutung einer Wunscherfüllung.

 

Wenn dann die Passacaglia im Orchester (nach voraufgegangenem Pizzicato der Streicher!) zunehmend unter zartestem Paukenwirbel verklingt und endlich, mit einem das Herz angreifenden Seufzen der Violine, ganz verstummt ist, setzt die Geige mit einer zunächst nachsinnenden, zart-versonnenen Solo-Kadenz ein, die, nicht allein ihres Umfangs, sondern auch ihrer sich entfaltenden Inhaltsschwere wegen, den Charakter eines selbständigen – vierten – Satzes hat. Das ängstlich tastende Suchen bäumt sich, unmerklich fast, zu einer virtuosen Raserei der Verzweiflung auf mit den an die technische Beherrschung des Instruments höchste Ansprüche stellenden Doppel- oder auch Dreifachgriffen, die den Eindruck erwecken, die Violine würde in wildem und ungebärdigem Trotz, der zusehends furios eskaliert, eine in ihrem Kern selbstzerstörerische Zwiesprache mit sich selbst halten.

 

Dieser sich in seiner Verzweiflung überschlagende Trotz – eine Verwüstungsintensität ohnegleichen – aber ist das Hauptcharakteristikum des selbstredend attacca zu spielenden finalen Satzes, der auf den ersten Blick wie eine beschwingte, sich an sich selbst berauschende Jahrmarktsbudengaudi daherkommt, in Wahrheit aber in seiner chaotisch-wilden Ungebundenheit die Groteske einer Festivität ist, die ihrem eigenen Untergang in wüster Ausgelassenheit entgegentaumelt.

 

Zum Beschluss noch eine Randnotiz, die zwar unter dem rein musikalischen Gesichtspunkt unerheblich scheinen mag, die ich aber, des unverkennbaren Gefühlsausdrucks wegen, dann doch für immerhin zentral halte. Ich rate, die asiatische, vermutlich japanische, Querflötistin am oberen Bildrand, die von Anfang an und immer wieder im Hintergrund zu sehen ist, zur Kenntnis zu nehmen. Weshalb? Weil in ihrem seiner selbst nicht bewussten, selig-verlorenen Blick – die Andeutung eines Lächelns heimlichen Glücks ist ihrem Gesicht eingeschrieben – die ganze Zeit – jedenfalls so lange, solange sie nicht selbst in das musikalische Geschehen involviert ist – etwas aufscheint, was meines Erachtens, aller Gebrochenheit und Verzweiflung zum Trotz, beziehungsweise genau deswegen, das Grundmotiv dieser ungeheuerlichen Komposition ist. Ich rede von der Liebe, wovon auch sonst.

 

Tropftest Mäßigung dem heißen Blute,/ Richtetest den wilden irren Lauf,/ Und in deinen Engelsarmen ruhte/ Die zerstörte Brust sich wieder auf … (Johann Wolfgang Goethe, Warum gabst du uns die tiefen Blicke)


Dmitri Shostakovichs Konzert für Violine und Orchester a-Moll op. 77

Hilary Hahn & die Berliner Philharmoniker in der Suntory Hall, Tokio 2000. Produktionsdatum: 26.11.2000 (99. Min)

 

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Hilary Hahn - Shostakovich: Concerto for Violin and Orchestra No. 1 in A minor (39:32 Min.)

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