CDs KlassikKompass

Der Mittelweg ist „der einzige, der nicht nach Rom führt“. Komponisten, „wenn sie die Technik, Musik mit reichstem Inhalt zu erfüllen, in einer Richtung ausgebildet haben, (müssen) es in der nächsten tun (will heißen, dass, im Idealfall, „jedes der Momente des Tonsatzes – Melodie, Kontrapunkt, Harmonik und Rhythmus – mit allen anderen untrennbar zusammenhängt und erst in den mannigfachen Relationen, in denen es erscheint, zu dem wird, was es ist“), und schließlich in allen Richtungen, in die sich Musik erstreckt“.

(Arnold Schönberg, Style and Idea; zitiert nach: Carl Dahlhaus, Musikästhetik; darin: Kriterien, S. 137)

 

Das letzte Violinkonzert des italienischen Komponisten Ottorino Respighi (1879 – 1936)aus dem Jahr 1921 hat, wie bereits aus dem Titel dieses dritten Konzerts für die Geige erhellt, einen eindeutigen Bezug zur Gregorianik; bedient sich also modaler kirchentonaler Wendungen. Zwecks Erläuterung: Der Gregorianische Choral, bei dem es sich um einen chormäßigen, kirchlichen Gesang handelt, ist ein einstimmiger, ursprünglich unbegleiteter liturgischer Gesang der römisch-katholischen Kirche in lateinischer Sprache (vgl. den entsprechenden Artikel bei Wikipedia).

 

Tu es deus

Gregorianik: Beginn des Graduales Tu es Deus aus dem Cantatorium St. Gallen, enthalten im Codex Sangallensis 359. Ausgeprägte Akzentnotation mit vielen „litterae significativae“, nach 922, Gemeinfrei

 

Dass dieser Komponist darüber hinaus dem Impressionismus verpflichtet war, ist unschwer aus dem verschwimmenden Gleiten der quasi chromatisch verwischten Tonintervalle herauszuhören. Gerade diese verschwebende Uneindeutigkeit aber ist es, die eine andere musikalisch-inhaltliche Zuordnung als vielleicht nicht ganz abwegig erscheinen lässt.

 

Da nämlich in den mehr als 550 Geschichten aus Tausendundeine Nacht sich die arabische, persische und indische Kultur zu einer vielfarbig schillernden Einheit verschränken – eine Art intern differenzierter östlicher Divan –, deren verbindender Bezugspunkt die verspielte Verstellung eines das Eindeutige uneindeutig machenden, verschmitzt lächelnden, betörend einschmeichelnden Betrugs ist: Sich der hoheitlich verfügten Vollstreckung des Urteils zu entziehen. So spinnt sich der immer wieder auch liegengelassene Erzählfaden über die Nächte hin und will und will kein Ende finden, weil dessen Ende gleichbedeutend mit einem blutigen Ende wäre.

 

Die schlafwandlerische Sicherheit im Knüpfen und Verweben so unterschiedlicher Erzählstränge und -formen, die dem Gebilde in seiner Gesamtheit etwas schwebend Unverbindliches und Uneindeutiges geben, ist für mein Empfinden auch in dieser Komposition für Orchester und Violine präsent. Und dies nicht allein der weiter oben namhaft gemachten Chromatik und des Impressionismus-Bezuges wegen.

 

Mir kommt es beim Hören so vor, als könnte es ewig so weitergehen, als sei der Komposition kein Maß und Ziel gesetzt. Tausendundeine Nacht ist zwar ein weites zeitliches Feld, aber in seiner absichtsvollen Weitgespanntheit immerhin noch annähernd überschaubar. Wie aber ist es, wenn der Wechsel der traumdurchwirkten Nächte überhaupt kein Ende mehr nehmen will? Wenn also die taghelle Realität mit ihrem Erwachen überhaupt negiert wird? Wenn also das Irreale das Reale, über dessen kontrastierende Existenz sich ja nur als das Irreale überhaupt und als solches bestimmen lässt, zur Gänze verdrängt hat? Ist dann das (Nicht-mehr-) Irreale zum eigentlich Realen geworden?

 

Wie auch immer es sich mit diesem dann faktisch aufgehobenen Übergang des Einen in sein Anderes – das dann nicht mehr das Andere des Einen ist – verhalten mag… Dass Sayaka Shoji sich in ihrem der näheren Charakterisierung eigentlich entziehenden, wie erdentrückt und erdenfern wirkenden Spiel – ein sich selbst negierendes Auf- und Untergehen in dem Corpus dieses zierlichen Instruments, so dass auch hier das eine sich in dem (Nicht-mehr-) Anderen verloren, beziehungsweise beides in dem nicht mehr Anderen jeweils zu sich selbst, also einem endlich Identischen gefunden hat – ihre unverstellte, ver- und bezaubernde Kindlichkeit bewahrt hat, ist dieses Falls umso bedeutender und relevanter, als es der Gesamtanlage der kompositorischen Vorlage entspricht. Und was ihr im eruptiv herausbrechenden, schlechterdings mitreißenden Finale auch ins in zeitlos-lieblicher Jugendlichkeit erstrahlenden Gesicht einer der Welt abhanden gekommenen Verlorenen geschrieben steht.

 

Es handelt sich um ein traumwandlerisches, entrückt-entrückendes Sichverlieren in – dies der Eindruck – sich im Prinzip unendlich hinziehen könnenden, verschwimmend-verschwommenen Melodiewelten, die ihrer mutmaßlich so auch intendierten prinzipiellen Unendlichkeit wegen noch einen weiteren musikkulturellen Bezugspunkt haben: den der romantischen unendlichen, in Selbstauflösung befindlichen Melodien. Der Komponist, der sich anheischig macht, das Unaussprechliche zu sagen, sagt es in der „Form seines (sic!) laut erklingenden Schweigens“, das „die unendliche Melodie“ eines sich sozusagen in sich selbst verströmenden Bewusstseins ist. (Richard Wagner, Zukunftsmusik)


Ottorino Respighi: Gregorianisches Konzert

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(Übersetzung des japanischen Texts: Hohe Qualität – Sayaka Shoji. Sayaka Shoji spielt Respighi, 38:21 Min.)

 

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