Das Debütalbum der polnischen Cellistin und Komponistin Dobrawa Czocher untersucht den Zauber und die Bedeutung unbewusster Zustände.
Überall auf der Welt üben Träume eine Faszination auf Menschen aus und inspirieren künstlerisches Schaffen. Wie sich diese Erfindungen des unbewussten Geistes gleichzeitig sowohl traumhaft als auch real anfühlen, wie sie in der Lage sind, die Realzeit zu verdrehen, in einer Erlebniszeit verkürzen oder auszudehnen, oder die Verbindung, in der sie zu unserem Leben im Wachzustand stehen könnten – all das sind Fragen, die Musiker, Maler, Literaten von Claude Debussy über Salvador Dalí bis hin zu Franz Kafka inspiriert haben.
In ganz ähnlicher Weise haben diese Vorbilder den Anstoß zu Dobrawa Czochers Debütalbum gegeben, das passenderweise den neologistischen Titel „Dreamscapes“ („Traumschaften“) trägt und damit Raum und Zeit in sich birgt. Die Musikerin nimmt ihr Publikum darauf mit auf eine Reise ins Unbewusste. Neben ihrer technischen Brillanz auf dem Cello, die sie seit dem siebten Lebensjahr kontinuierlich entwickelte, kommt eine Natürlichkeit hinzu, mit der Czocher kompositorisch arbeitet. Schließlich finden alternative Ansätze im Hinblick auf Aufnahmetechnik und Klang ihren Weg. Das alles beflügelt die Fantasie der Zuhörerschaft.
„Dreamscapes“ verdeutlicht, wie wohl sich die Cellistin dabei fühlt, zwischen klassischer und neoklassischer Musik hin und her zu pendeln. In ihren Kompositionen sind Einflüsse wahrzunehmen, die von Johannes Brahms bis hin zu Philipp Glass reichen.
Für das neue Album arbeitete Czocher mit dem Produzenten Niklas Paschburg, der Techniken des Übereinanderschichtens als auch Effekte benutzte, um der Musik filmische Qualität zu verleihen.
Wenn auch nicht streng linear, so folgen die zehn Tracks auf „Dreamscapes“ einer festgelegten Reihenfolge. Die Reise beginnt mit Prologue, das mit seine hohen Flageoletts weite, raumgreifende Klänge eröffnet, die auf den Vorgang des Einschlafens und das Eintauchen in die Welt der Träume mit all ihren grenzenlosen Wundern und Geheimnissen anspielen.
„Das Gefühl und die Atmosphäre passte zu einem offenen, noch nicht klar definierten Abenteuer, das noch vor einem liegt“, sagt Czocher über das Stück. Die Musik lockt die Zuhörer*innen in dieses Universum – mit Hilfe wiederkehrender Motive, improvisatorischen Arpeggios, mysteriösen Basslinien und Glissandi, die räumliche Vorstellungen von Enge und/oder Weite in jedem neuen Track malen.
Doch so bildlich die Musik auch sein mag, sie geht über das Sichtfeld hinaus und reflektiert tiefer liegende Gefühle. Im Stück „Forgive“ berührt Czocher die dunklen Abgründe der Seele als würde sie die bloße Bedeutung von Träumen und die Art, wie sie ihrem Betrachter auf geheimnisvolle Weise helfen, hinterfragen. „Sind wir in der Lage, in einem Traum auf unser Unterbewusstsein einzuwirken? Vielleicht ist im Schlaf der Moment, in dem wir uns tatsächlich mit ihm verbinden und es uns besondere Möglichkeiten offenbart, an inneren Konflikten zu arbeiten?“, fragt sich die Komponistin. Ganz klar von Glass’ Streichquartetten abgezeichnet, benutzt das Stück Wiederholungen als Möglichkeit, Zuhörer hypnotisch tief und gebetsmühlenartig in diese Reflektionen aber auch die Klangwelt der Komponistin hineinzuziehen.
Während die erste Hälfte des Albums hauptsächlich der Schaffung von Atmosphären, Farben und Texturen dient, geht es in der zweiten Hälfte richtig los: „Voices“ bildet zweifellos den Höhepunkt der Reise – vielschichtig und komplex liefert das Stück eine kaleidoskopische Version musikalischer Motive „wie viele Stimmen, die versuchen, in diese oder jene Richtung zu drängen“, erläutert die Cellistin. Die schnelle und dynamische Struktur des Stückes entsteht durch eine einfache Spieltechnik namens Détaché, die einen dramatischen Effekt erzeugt – nicht ganz alptraumhaft, aber doch verwirrend.
Auf das Stück folgt „Lullaby“, das die nötige Erleichterung schafft. Lang, friedvoll und lyrisch bildet das Stück eine Ode an die allgemeinzugängliche Magie des Schlummerns. Es liegt hier eine Klarheit in der Cellostimme, als würde sie auf die Wahrhaftigkeit zeigen, die Träume in sich tragen können, selbst wenn sie flüchtig von kurzer Dauer sind.
„Prayers“ führt die gefühlvolle Natur von „Lullaby“ fort, doch jetzt beginnt eine Intensität um die Melodie herum zu brodeln, die mit Arpeggios aufgebaut wird.
Das letzte Stücke auf „Dreamscapes“ namens „Epilogue“ ist das einzige ohne jegliche Nachbearbeitung. Es stellt die Rückkehr ins Erwachen dar, eine Nüchternheit ohne die komplette Fantasie der Träume, in der Czocher Pizzicato-Linien auf dem Cello benutzt, um die Melodie einfach zu singen. Die Rückkehr in die Realität ist trotzdem nicht vollkommen rezessiv, umwickelt sie das Album doch mit mehr Fragen als Schlussfolgerungen. „Was ist in einem Traum passiert, sind wir immer noch hier? Sind wir dieselben Menschen? Verändern uns Träume? Wo sind wir gewesen?“, fragt Czocher.
Dobrawa Czocher: Dreamscapes
Dobrawa Czocher (Cello)
Label: Modern Recordings
Digital, CD & Vinyl
EAN: 4050538861099
VÖ: 29. November 2022
- Weitere Informationen (Dobrawa Czocher)
- Weitere Informationen (Modern Recordings)
YouTube-Video:
Dobrawa Czocher – Prayers (5:01 Min.)
Tracklist:
1. Prologue
2. Doppelgänger
3. Chasing The Now
4. Forgive
5. Zima
6. March
7. Voices
8. Lullaby
9. Prayers
10. Epilogue
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