Lubomyr Melnyk – „Illirion“: Zwischen Brahms und Bhagwan
- Geschrieben von Hans-Juergen Fink -
Schweben auf Klangwolke No. 81, Sonnenuntergang hinter den 88 Tasten des Konzertflügels, Melancholie „beyond romance“. Das Piano in der Endlosschleife von Lubomyr Melnyk und seiner „Continuous Music“ – sein meditatives Klavierspiel liefert die perfekte Klangwatte für gestresste Zeitgenossen.
Vom Cover seiner neue CD „Illirion“ blickt ein älterer Herr, der mit seinem dichten grauen Bart bei näherem Hinschauen an Brahms erinnert, an einen Hauch von Rasputin und ein bisschen auch an Bhagwan, den schlauen Erleuchter-Guru westlicher Aussteiger. Hohe Stirn, reseviert der Gesichtsausdruck, den linken Pianisten-Arm auf Instrument in müder Lässigkeit gestützt, grobes, naturfarbenes Jackett. Ein bisschen Prediger in der Wüste.
Lubomyr Melnyk ist 68 und hat schon gute Teile eines langen Pianistenlebens hinter sich. Sowie die Erfindung seines ganz eigenen Wegs, Klavier zu spielen. „Continuous Music“ hat er ihn getauft. Er produziert – in bisher 120 Kompositionen, am liebsten aber improvisierend an den Tasten, scheinbar endlose Klangströme. Mit Wurzeln in den Traditionen der Minimalisten, in fernöstlichen Mustern, in psychodelischem Jazz.
Seine neue CD beginnt mit „beyond romance“, einem 16-Minuten-Werk, das klingt, als hätte sich Michael Nyman mit seinem „Das Piano“-Soundtrack in eine melancholische, irgendwie spätromantisch angehauchte Endlosschleife verirrt, aus der er nicht mehr herausfindet. Das folgende „Solitude No.1“ nimmt verblüffend wahrhaftig und melodisch den Gestus von Chopins Nocturnes zwischen wilder Verzweiflung und abgeklärtem Leiden auf. „Sunset“, ein kurzes Zwischenspiel malt die Auflösung des Sonnenlichts in einer Klangwolke, das Verschwimmen, das
„Cloud No.81“ spielt sehr melodieorientiert mit filigranen Akkordbrechungen, während in „Illirion“ meditative Reinheit und Verklärung von geradezu Pärt’schem Ausmaß zelebriert werden.
Hübsche Klangströme, aber doch etwas geschwätzig
Lubomyr Melnyk zaubert gerne Arpeggien aus den 88 Tasten, mit viel Pedal aufgesammelt, mega-gelenkig türmt er Klangkaskaden auf, man spürt glitzernde Notentröpfchen im Gegenlicht. Es ist die klassische Musik zum Träumen und Wegschweben, nimmt man zu dieser Musik das Bewusstsein zurück, sieht man imaginäre Landschaften, es ist Filmmusik, und vor dem inneren Auge weitet sich der Blick zu Drohnen-Perspektiven – schwereloses Panorama übers Gebirge, Ebenen, Hügel und Schluchten. Passt perfekt zu jeder Arte-Dokumentation.
Strukturen, das klassische Mit- und Gegeneinander von Themen sind nicht so sein Ding. Melnyk setzt auf Klangwatte, produziert von einem geschwindfingrigen Über-Liszt, manchmal auch auf rhythmische Trance. Alles aber ist keine Virtuosität um ihrer selbst willen, sagt er. Auch wenn er gern damit ein wenig zählbeamtenhaft kokettiert (und seine Fans damit kokettieren lässt), dass er mehrere leicht absurde Weltrekorde im Pianospiel halte: die höchste Anschlagszahl mit 19,5 pro Sekunde, und die höchste Anschlagszahl im Stundenschnitt mit über 93.650 Noten. Mozarts Kaiser hätte, wenn der Satz denn je so gefallen wäre, nirgendwo anders mit mehr Recht „zu viele Noten“ moniert. Melnyks Musik wirkt immer ein bisschen geschwätzig gegenüber der minimalistischen Konzentration eines Glass oder Pärt.
Melnyk braucht die vielen Noten indes nicht für Zirkusnummern, sondern um jenes impressionistische Flirren zu erzeugen, in dem der einzelne Ton nichts mehr ist als ein Punkt in einem großen Gemälde, oder die einzelne Stimme in einem Theaterpublikum, das sich freudig aufgeregt vor der Premiere unterhält – der Gesamteindruck erzeugt fröhliche Beliebigkeit, ein fast hypnotisches Davonschweben der Gedanken, gefühlte Ruhe in der endlosen Bewegung. Genau wie seine langen Melodiebögen, die aus dem Nichts kommen und dorthin wieder entgleiten. Vermutlich ist diese Einladung zum Loslassen ein großer Teil seines Erfolgs, der noch wachsen wird in einer Welt, die Überblick einfordert und ihn gleichzeitig immer schwieriger erreichbar macht.
Diesen Schwebezustand erreicht im Idealfall auch der Continuous-Pianist. Dem „Spiegel“ erzählte Melnyk im Interview: „Ich kann beim Spiel auch an andere Sachen denken, dann ist es wie Spazierengehen. Es ist sogar schon passiert, dass ich beim Spielen eingeschlafen bin. Ich bin eingenickt, und als ich wieder erwachte, spielte ich noch immer.“ Sekundenschlaf auf der Klangautobahn.
Geboren 1948 in einem Flüchtlingslager in München als Sohn ukrainischer Eltern, kam er mit ihnen bald nach Kanada. Studierte Klavier, auch Philosophie, schlug sich durch, auch als Begleiter von Ballett-Lektionen. Fand Mitte der 70er-Jahre zur „Continuous Music“, zimmerte sich daraus ein Lebensgebäude und Auskommen und wartete, bis die Zeit genervt genug war, seine Klangströme als Mittel musikalischer Kurzzeiterlösung zu akzeptieren.
Wellnesskuren für gequälte Piano-Veteranen
Sein Spiel sei eine neue Sprache fürs Klavier, eine, die Instrument und Spieler erlöst vom Diktat festkomponierter Werke. Eine Sprache der Befreiung. Auch vom Konzertbetrieb, der ihn gerade einholt. 90 Prozent eines Konzerts fänden statt, sagt er, während er sich vorab mit dem Instrument bekannt macht und es, widerborstig oder gefügig, zum Singen bringt. Das Konzert selbst sei dann nur das späteste Stadium dieser Bekanntschaft, eine fruchtbare Heirat auf Zeit.
Melnyk ist jetzt bei einem großen Label angekommen. Eine Sorge aber ist ihm geblieben: Dass er der einzige wäre, der continuous music beherrscht. Dass sie mit ihm ausstürbe. Dass der musikaffine Teil der Menschheit unerlöst bliebe und die poetischere Welt nicht erleben könnte.
Er gibt Fernkurse. Und Workshops an Schulen, die die Defekte von Klavierschülern in ihrem Klavierspiel reparieren sollen, sie von falschen Einstellungen befreien soll, die ihnen helfen sollen, Selbstbewusstsein, Kraft, Beweglichkeit und Gelenkigkeit zu entwickeln. Er unterrichtet gern auch per E-Mail und Tonaufnahmen.
Und nebenbei predigt er gegen den digitalen Sound, der alles Lebende aus der Musik zu 99,95 Prozent herausfiltere, Melnyk ist liebenswert altmodischer Prophet des lebendigen Realklangs. Keine Keyboards bitte, lieber gibt er einem alten, gequälten Tastenveteranen seine ganz eigene Wellnesskur, die dessen Klang irgendwann nach Stunden aufblühen lässt. Ein bisschen Brahms, ein bisschen Bhagwan. Und ein bisschen Weltflucht: „Wenn ich spiele“, verriet er einer englischen Kollegin, „verwandle ich mich in einen Adler, der fliegt, in einen Delfin, der schwimmt, in einen Geparden, der rennt. Ich werde zum Regen, zu den Wolken, zu den Farben des Himmels. Ich spüre nicht länger meine Finger – da sind keine Finger, da ist kein Körper mehr. Nur das Piano und ich – wir singen gemeinsam.“
Seine CD ist wirklich hübsch anzuhören.
Lubomyr Melnyk: Illirion
CD Sony classical
8898 5315 582.
Lubomyr Melnyk spielt. 4. Dezember 2016, Resonanzraum St. Pauli, Feldstraße 66, 20359 Hamburg
YouTube-Video:
Lubomyr Melnyk - Illirion (HD) Live In Paris 2015
Abbildungsnachweis:
Lubomyr Melnyk. Foto: Aleksandra Kawka for Sony Music Entertainment Germany GmbH
CD-Cover
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