Dass manche alte Kirchenlieder auf noch ältere ganz weltliche Quellen zurückgehen, dass Tanzsätze und Liebes-Canzonen, die einst durchaus fleischliche Freuden besangen, zum Beginn der Reformation Melodien zur geistlichen Erbauung und Buße lieferten, gehört nicht gerade zu den weit verbreiteten Kenntnissen der Musikgeschichte. Um so verdienstvoller die CD „Luther tanzt“ des Ensembles „The Playfords“, die das mit einer klugen Auswahl illustriert.
Die fünf Musikerinnen und Musiker haben frühe evangelische Lieder zusammengetragen und spielen sie so, dass die alten Quellen kräftig durchschimmern. Authentisch im Klang, munter improvisierend in der Begleitung, pointiert in den Tanzrhythmen. Und sie stellen einige weltliche Originale vor und manchmal auch der geistlichen Bearbeitung gegenüber – ein hübsches Schlaglicht auf Lieder wie „Vom Himmel hoch, da komm ich her“ oder „O Haupt voll Blut und Wunden“, die allgemein zur Kern-DNA evangelischer Kirchenmusik gerechnet werden.
Christoph G. Schmidt hat diese zarten und erstaunlichen Bande zwischen Liebeslyrik und Glaubenspropaganda für das Booklet von „Luther tanzt“ präzise herausgearbeitet – ein Text, den wir den KulturPort-Lesern nicht vorenthalten wollen und mit Genehmigung des Autors hier präsentieren:
Prolog
Im Advent 1529 wurde ein Bettler, der lutherische Lieder sang, der Stadt Lübeck verwiesen; dies genügte, um die aufgeheizte Stimmung zwischen Altgläubigen und Reformern explodieren zu lassen; durch penetrantes Absingen evangelischer Hymnen wurde wochenlang jede katholische Predigt verhindert, bis der Senat in entscheidenden Fragen vor dem musikalischen Aufstand einknickte. Eine Momentaufnahme der Reformation in Norddeutschland.
„greift frisch in die Claves und singet drein, bis die traurigen Gedanken vergehen“ (Luther an einen befreundeten Organisten, 1534)
Bereits der Student Luther galt unter seinen Kommilitonen als ihr „musicus et philosophus“. Er spielte Laute und Flöte, und Zeit seines Lebens – wie sein enger Freund Johann Walter sich erinnert – ward „der thewre Mann vom singen so lustig und frölich im Geist, daß er des singens schier nicht kondte müde und satt werden.“ Musik galt Luther als die wertvollste Kunst nach der Theologie; 1530 bittet er in einer schweren Krise den katholischen bayerischen Hofkapellmeister Ludwig Senfl um Musik: „Die Welt haßt mich und kann mich nicht leiden. Ich habe bereits angefangen, die [Sterbe-] Antiphon ,in pace … requiescam‘ zu singen, ihre Melodie hat mich von Jugend auf erfreut und ich wünsche sie komponiert zu hören.“
Luthers Liebe zur Musik wurde prägend für Gebiete „lutherischer “ Konfession, zum einen innerhalb der Messe, deren reiche Form die Wittenberger Reformatoren nur dort antasteten, wo es theologisch zwingend schien, zum anderen aber auch im Alltag, dem Luther eine große Sinnenfreude zugestand, sofern diese nicht von der reinen Lehre hinwegführe. Damit steht er in scharfem Kontrast zu Zwingli und Calvin, den Begründern der „reformierten“ Konfession im Süden und Westen. Denen schien jegliche Musik der Besinnung auf das Wort Gottes zuwider; vor allem dürfe sie „in keiner Weise Gelegenheit geben, die Zügel schießen zu lassen“. Tänzerische Punktierungen waren bei calvinistischen Liedern ebenso untersagt wie Dreiertakte; der Gesang blieb einstimmig, und nach jeder Zeile war eine längere Atempause vorzusehen: Bei solch moralinsaurer Musik bestand sicherlich keine Gefahr sinnlicher Erregung.
Umso auffälliger, dass die lutherisch gewordenen Gebiete von derartigem Purismus verschont geblieben sind. Neben Luthers musikalischer Persönlichkeit dürfte auch sein extremer Werdegang dafür prägend gewesen sein: Seine berüchtigte Askese als Mönch, die ihm dennoch keine Heilsgewissheit brachte, findet ihre Fortsetzung in einer großen Sinnenfreude, die unmittelbar aus der Erkenntnis entsprungen sein dürfte, allein aus Gnade, bedingungslos von Gott geliebt zu sein. Selbst der in calvinistischen Kreisen als lüstern verachtete Tanz findet bei Luther seinen Fürsprecher: „Das sunde da geschehen, ist des tantzes schuld nicht alleyn, gleich wie es nicht des essens und trinckens schuld ist, das ettlich zu sewen drüber werden“. Die große Blüte gerade der lutherischen Kirchenmusik bis in die Zeit Johann Sebastian Bachs hat hier ihre emotionalen Wurzeln.
„Es sind Lieder geschaffen und vor Euch gesungen, damit ihr sie singt hier und in den Häusern, aber ihr sitzt hier wie die Klötze“ (Luther, 1526)
Heutzutage haben die Lieder der Reformationszeit ihren Platz vor allem im Gottesdienst. Betrachtet man aber die zeitgenössischen Quellen, so erhält man ein völlig anderes Bild. Zwar sprach sich Luther für mehr volkssprachliche neben lateinischen Gesängen in der Messe aus, aber gegen den gewohnten Brauch setzte er sich nicht damit durch. In einer Predigt von 1526 betreibt Luther in einem erregten lateinisch-deutschen Mischmasch regelrechte Gemeindeschelte: „Factae cantilenae et canuntur propter vos, ut hic canatis et in domibus, sed sedetis hic ut die klotze.“ („Es sind Lieder geschaffen und vor Euch gesungen, damit ihr sie singt hier und in den Häusern, aber ihr sitzt hier wie die Klötze“). Tatsächlich beließen die neuen Kirchenordnungen die Messe überwiegend auf Latein; deutsches Singen beschränkte sich auf einzelne Stücke, die sich Sonntag für Sonntag wiederholten – in spätmittelalterlicher Tradition; ein Umsturz der zeremoniellen Form wurde bewusst vermieden.
Dienstanweisungen und Noteninventare zeigen, dass die – auch die deutschsprachige – Musik im lutherischen Gottesdienst zumeist durch Kantor und Schülerchöre abgedeckt wurde. Das Bürgertum wusste kunstvolle Kompositionen und lateinische Sprache als Ausdruck hoher Reputation zu genießen; Singen in der Messe war Teil des Schulunterrichts und daher Pflicht der Jugend, Mitsingen unter der Erwachsenen Würde. Und das einfache Volk war es gewohnt, der Sonntagspflicht auch durch einen nur kurzen Besuch der Zeremonie zu genügen; eine ganze Predigt anzuhören war Zumutung genug, von aktiver Mitwirkung ganz zu schweigen. Die mittelalterliche Tradition einer weitgehend passiven Gemein de setzte sich im Luthertum noch jahrhundertelang fort, man „wohnte dem Gottesdienst bei“.
„Luthers Lieder haben mehr Seelen getötet als seine Schriften und Reden“ (Adam Contzius SJ, 1620)
Nun gibt es aber die umfangreichen Liedsammlungen der Reformationszeit. Wo hatten sie ihren Platz, wenn nicht in der Kirche? Die Antwort ist überraschend einfach: Im Alltag, bei der Arbeit, auf den Straßen, in der Hausgemeinschaft gehörte Gesang wie selbstverständlich dazu. Die lutherischen Reformatoren wussten das zu nutzen, ihre Lieder waren zuallererst ein Propagandainstrument; Neuigkeiten, auch die Neue Lehre wurden „ausgesungen“, mit dem Effekt, dass Philipp Melanchthon berichten konnte, „ich habe oft auf Reisen nur vom Gesang der Mädchen und der Pflüger auf den Feldern wahrgenommen, an welchem Ort nach welcher Kirchenlehre geleitet und gelebt wird.“
Viele nutzten die Popularität bekannter Lieder für die eigene Sache und gaben weltlichen Melodien neuen Inhalt: Dank „O Haupt voll Blut und Wunden“ oder „Kommt her zu mir, spricht Gottes Sohn“ lassen sich fast verlorene Volkslieder rekonstruieren, die Auswahl passender Texte ist groß. Luthers einzige eigene solche Kontrafaktur „Vom Himmel hoch“ folgt dem populären Reigen „Ich kumm aus frembden Landen her“, mit dem Tänzer und Tänzerinnen spielerisch umeinander warben. Schließlich aber war es ihm wohl doch unbehaglich, dass dieser Tanz zwangsläufig immer mitzuhören war, und so ersetzte er ihn durch die bis heute gängige neue Weise. Sein Tischgast Georg Forster setzte dem ein humorvolles Denkmal mit einem Satz, in dem beide Melodien gleichberechtigt ihren Platz finden.
Ein volkstümlich eingängiger Duktus aber war auch vielen neu geschaffenen Melodien eigen. Selbst der musikalisch strenge Johann Walter wagte einen Ausflug in die Tanzmusik bei dem „Titellied“ der Reformation „Nun freut euch, lieben Christen g'mein“, allerdings wohl ohne Absprache mit dem Autor: Im Erstdruck von 1524 findet sich zuerst Walters Version mit allen Strophen; erst dahinter folgt, wie schnell noch nachgeschoben und ohne vollständigen Text, die bis heute gebräuchliche Weise Luthers – geniales Schöpfertum, ein gewisses Chaos und geschicktes Spiel mit populärer Ästhetik waren prägend für die Musik von Luthers Reformation.
Als nach dem Schmalkaldischen Krieg (1546–1547) politisch verordnet Ruhe im Konfessionskampf einkehrte, verloren solche Lieder an zusammenschweißender Wirkung und verschwanden wieder aus dem öffentlichen Leben. Die lutherischen Gottesdienste aber liefen „na der gewanten wise“ (Kirchenordnung Bugenhagens) weiter, vor allem lateinisch und ohne viel Gemeindebeteiligung.
„Wer nicht gern in die Singstunde geht, verrät, dass er in der Sache nicht zu Hause ist.“ (Nikolaus von Zinzendorf, 1750)
Der Dreißigjährige Krieg (1618–1648) war eine mentale Zäsur. Altbewährte Strukturen und Weltbilder verloren angesichts des Massensterbens, durch Gewalt wie durch Seuchen, aber auch angesichts naturwissenschaftlicher Erkenntnisse an Tragkraft. Verstärkte Innerlichkeit war eine Antwort auf diese Lücke und führte schließlich zum Pietismus: Ausgehend von den reformierten (also von Calvin und nicht von Luther geprägten) Niederlanden verbreitete sich im 17. und 18. Jahrhundert als Glaubensbeweis eine puritanisch strenge Moral, verbunden mit starkem sozialem Engagement, und fiel im verwüsteten Deutschland auf fruchtbaren Boden. In frommen Hauskreisen wurde die eigene Bibellese gepflegt. Und hier lebten die Lieder – von lutherischer Sinnenfreude radikal bereinigt –, die wir heute pauschal als Kirchenlieder bezeichnen, wiewohl sie in der Kirche wenig Raum hatten. Mancherorts war der Zulauf derart, dass die Geistlichen anfingen, hier statt nur im regulären Gottesdienst zu predigen.
Von diesen wuchernden Singe-Andachten aus, mehr als 200 Jahre nach der Reformation, fanden geistliche Lieder ihren Weg dann doch auch in die lutherischen Gottesdienste: Die alte Liturgie hatte
synchron zum traditionellen Weltbild an Bindungskraft verloren; in einem langen Prozess passten sich die Riten an. Erst Ende des 18. Jahrhunderts dominierten ähnliche Gottesdienstformen wie heute, mit wechselnden Liedern, die sich um Lesungen und Predigt gruppieren; erst jetzt war die lateinisch zelebrierte Messe aus der deutschen evangelischen Welt verdrängt. Vor allem durch diese späte Entwicklung haben die lutherischen Lieder bis jetzt, wo in Deutschland das gesellig-informelle Singen beinahe ausgestorben ist, überlebt – im Schutzraum der Gottesdienste, für die sie anfangs gar nicht gedacht waren. Und in frommer Verkleidung überlebte auch manch „bul lied und fleyschlich gesang“, welcher sonst wohl längst vergessen wäre.
Christoph G. Schmidt, 2016
The Playfords: Luther tanzt
CD
deutsche harmonia mundi
8898 5305 282
Abbildungsnachweis:
Header: The Playfords. Foto: Martin Jehniche
CD-Cover
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