CDs KlassikKompass
Kopfhörer 8

Tamar Halperin poliert Klavierminiaturen von Erik Satie zu verblüffenden, subversiven und Ohrwurm-verdächtigen Klangexperimenten auf. Auf eine Zeitreise 700 Jahre zurück gehen die im Inhalt erstaunlich modernen Liebeslieder von Jehan de Lescurel vom Ende der Troubadour-Zeit. Klangarchäologie betreibt auch Denis Kozhukhin im ersten Klavierkonzert von Tschaikovsky und in dem von Edvard Grieg – Virtuosität und romantische Seele in erstaunlich lässiger Transparenz. Und über den Wiener Fasching der Barockzeit geht es zu einer Weltersteinspielung: Telemanns erst 2015 wieder entdeckten Gamben-Fantasien – ausgegraben und gespielt von Thomas Fritzsch.

Cover_Satie-HalperinTamar Halperin: Satie. Erik Satie (1866-1925) war ein stiller Musikrevolutionär, der sich über Noten und Moden, über den Musikbetrieb und das Kulturgehabe in Paris amüsierte und mit großem Vergnügen Grenzen überschritt und Neues wagte. In Saties Werk treffen sich treffen sich Jazz, Kabarett und Musik für Stummfilme. Die größte Gruppe seiner Werke aber machen Klavierminiaturen aus, zwei- bis viermütige Musikschnipsel, in denen er seine Subversion des Kulturbetriebs mit amüsanten Titeln versieht, manchmal auch mit kleinen Karikaturen. Tamar Halperin, in Israel geborene Pianistin, hat mit Michael Wollny 2010 und 2014 den Jazz-Echo für die „Wunderkammer“-Produktionen bekommen. Jetzt hat sie sich gefragt, wie man diesen Satie heute spielen müsste, um das Neue, das Subversive seiner Inventionen wieder hörbar zu machen. Ihre Antwort: Sie verändert den Klang, addiert zum Klavier, das man im Ohr hat, mal Glockenspiel-Klänge, mal Cembalo, spielt auf der Hammond-Orgel und auf einem Wurlitzer-Piano, lässt manches von ihrem Produzenten Guy Sternberg elektronisch verfremden. Das Ergebnis: ein frischer, ein radikaler, ein verblüffender Satie-Sound, mal glitzernd, mal verträumt, immer ein bisschen mit dem Schalk im Nacken. Cover und Booklet-Fotos orientieren sich am Stil von Toulouse-Lautrec, in eigenwilligen Texten erklärt die Künstlerin, was Saties Klavier-Pralinen in ihr angerührt haben. Eine CD aus der neuen Edel-Reihe „Neue Meister“, und eine, für die man gern mehrfach die Repeat-Taste am CD-Spieler drückt.
Tamar Halperin, Tasteninstrumente
CD Neue Meister/Berlin Classics
0300759 NM


Cover The Love Songs Of J de LescurelThe Love Songs of Jehan de Lescurel. Musik aus der Zeit, in der das Bürgertum die Bühne der Geschichte betritt. 31 Liebeslieder des Pariser Bürgersohns Jehan de Lescurel, verfasst wohl um 1300 und in einer reich verzierten Roman-Handschrift mit überliefert. Die Bürger traten nicht nur selbstbewusst neben den Adel, sie eroberten sich auch Teile seiner Kultur. Jehan de Lescurel steht am Ende der großen Tradition der Troubadoure, seine Liebeslyrik ist nicht mehr in der engen, förmlichen Gefühlswelt des Adels verhaftet, seine Musik bedient sich aller Stilmittel der Zeit, der kecken und gefälligen Verzierungen ebenso wie der Polyphonie, die man damals langsam auch außerhalb der Kirchen zu verwenden beginnt. Das Ensemble Céladon unter dem Countertenor Paulin Bündgen nimmt uns mit auf eine faszinierende Reise in eine Zeit 700 Jahre vor der unseren. Faszinierend nicht nur wegen der ungewohnten Klänge, die das neunköpfige Ensemble singt und auf Laute, Flöten, Maultrommeln, Harfe und diversen Schlaginstrumenten spielt. Sondern auch wegen der augenzwinkernden Erkenntnis: Wirklich viel hat sich seit damals in Sachen Liebesfreud und Liebesleid gar nicht getan.
The Love Songs of Jehan de Lescurel
Ensemble Céladon, Paulin Bündgen.
CD Ricercar
RIC 366


Cover-Tschaikovsky-KozhukhinDenis Kozhukhin spielt Tschaikovsky & Grieg. 1986 in Nizhny Novgorod geboren, gilt der heute in Berlin lebende Russe Denis Kozhukhin als aufsteigender Pianistenstar. 2010 gewann er in Brüssel den hoch renommierten Reine-Elisabeth-Wettbewerb. Inzwischen ist er beim High-Quality-Label Pentatone angekommen, wo er mit zwei allseits bekannten Klavierkonzerten seinen Einstand gibt. Was, fragt man sich, könnte sein Spiel auszeichnen vor dem der Legionen Pianisten, die vor ihm diese „dicken Brocken“ bewältigt haben?
Die Antwort ist schnell klar: Kozhukhin ist auch knallharter und glasklarer Virtuose. Er hat aber ein ausgesprochen gutes Händchen dafür, hin und wieder das Tempo ein Spürchen zurückzufahren, um romantische Nuancen und die Anklänge an die russische bzw. norwegische Folklore auszukosten und vollendet aufblühen zu lassen. Kozhukhin stellt sich dem Dialog mit dem Orchester, und das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin unter Vassily Sinaisky ist ein wahrhaft aufmerksamer und fordernder Dialogpartner. Der junge Solist kann Sehnsucht ebenso überzeugend spielen wie aufwühlenden Kampf. Und der Spannungsbogen, mit dem er zum Schlussakkord des ersten Tschaikovky-Konzert hinführt, ist schlicht atemberaubend.
Tschaikovsky & Grieg: Piano Concertos
Denis Kozhukhin mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin unter Vassily Sinaisky SACD Pentatone
PIC 5186 566


Cover Commedia dell'AustriaAccentus Austria: Commedia dell’Austria. Vom Karneval in Venedig redet jeder. Vom Fasching in Wien ist hierzulande deutlich weniger bekannt. Dabei musste selbst das hohe Kaiserpaar der jährlichen Narretei Tribut zollen. Sie galt als „diejenige Zeit, welche alljährlich von christlichen Regenten zu privilegierter Ausübung der Augen-Lust, Fleisches-Lust und leichtfertigen Wesens ihren Unterthanen vergönnet wird“. Es wurden Faschingsopern aufgeführt, und im Ritual der „großen Wirtschaft“ gab es zwischen 1653 und 1733 sogar einen zeremoniellen Ausdruck der auf den Kopf gestellten Ordnung, indem Kaiser und Kaiserin als Wirtsleute für ihre Gäste zu dienen hatten. Ihre Hofmusiker lieferten dazu muntere Tänze, und so sind auf dieser CD Gigues, Gavottes, Bourees, Saltarellen, Sinfoniae und Pastorellen versammelt, die während des Wiener Fasching den musikalischen Rahmen zum ausgelassenen Treiben bildeten. Komponisten sind neben Heinrich Ignaz Franz Biber der Hofkomponist Francesco Conti, Andreas Anton Schmelzer und Hofkapellmeister Antonio Draghi. Zu verdanken ist der beherzte Griff in weitgehend vergessenes Repertoire dem Barockensemble Accentus Austria. Eine höchst amüsante Geschichtsstunde.
Commedia dell’Austria
Accentus Austria.
CD deutsche harmonia mundi
8898 5305 272


Cover-Telemann-FritzschThomas Fritzsch spielt Telemann: 12 Fantaisies für Viola da Gamba. Die 12 Gamben-Fantasien des Hamburger Musikers, Komponisten und Musikverlegers Georg Philipp Telemann von 1735 werden im Booklet zu ihrer Weltersteinspielung als „Bernsteinzimmer der solistischen Gambenmusik“ bezeichnet. Man wusste, dass sie existieren und gedruckt worden waren – aber erst 2015 fand Thomas Fritzsch ein Exemplar auf Schloss Ledenburg bei Osnabrück, in der Privatbibliothek einer adeligen Dichterin aus der Zeit Telemanns. Dessen Fantasien zwischen der strengen Kontrapunktik und den Fugen und Kanons des Barock einerseits und dem aufkommenden galanten Stil sind ein Kompendium der Klangmöglichkeiten der Gambe, mit viel Gefühl für den wunderschön kultivierten, singenden Ton seines Instruments gespielt vom Wiederentdecker, der auch bei anderen verschollenen Werken ein glückliches Händchen bewiesen hat. Die Telemann-Fantasien stehen in einer Reihe mit seinen Solo-Kompositionen für andere Instrumente (Flöte, Violine, Clavecin) und müssen sich vor den Violin-Solo-Sonaten von Bachs kein bisschen verstecken. Der perfekt Soundtrack zur mentalen Entschleunigung. Eine wirklich hinreißende Wiederentdeckung!
Telemann: 12 fantaisies pour la Basse de Violle, Hamburg 1735
Thomas Fritzsch, Viola da Gamba.
CD Coviello
COV 91601




Abbildungsdnachweis:
CD-Cover

Kommentar verfassen
(Ich bin damit einverstanden, dass mein Beitrag veröffentlicht wird. Mein Name und Text werden mit Datum/Uhrzeit für jeden lesbar. Mehr Infos: Datenschutz)

Kommentare powered by CComment


Wir benutzen Cookies

Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Einige von ihnen sind essenziell für den Betrieb der Seite, während andere uns helfen, diese Website und die Nutzererfahrung zu verbessern (Tracking Cookies). Sie können selbst entscheiden, ob Sie die Cookies zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht mehr alle Funktionalitäten der Seite zur Verfügung stehen.