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Erik Satie 1866-1925

Er war ein Kauz, ein kreatives Multitalent, eine subversive Berühmtheit im Paris des frühen 20. Jahrhunderts und einer der bedeutendsten Musik-Erneuerer. Der Komponist Erik Satie – im Mai wäre 150 Jahre alt geworden – hat musikalische Moden verspottet und viele Entwicklungen angestoßen, doch in den Konzertsälen sind seine Werke kaum präsent. Unter dem Titel „Tout Satie!“ hat Erato sie auf 10 CDs eingesammelt und neu veröffentlicht. Ein Schatzkästchen.

Bei einem seiner Haupt- und Skandalwerke, der Ballettmusik zu „Parade“, wird Erik Saties Instrumentarium erheblich erweitert. Für diese Produktion von Diaghilews „Ballets russes“, zu der Jean Cocteau die Idee hatte und Picasso Bühnenbild und Vorhang malte, wünscht sich Cocteau zur Musik eine Schreibmaschine, Pistolenschüsse, eine elektrische Klingel und andere Geräusche aus der Alltagswelt. Saties Phantasie, die auch einen Ragtime ins Theater holt, spinnt das weiter: Wie wär’s mit einer Türklinke, einem Alt-Paletot, einem Leder-Kontrabass und einem chromatischen Waschbottich? Oder mit einem Knierohr, dem er eine lebensgefährliche Historie andichtet? Provokativer Spott, revolutionäre Ausweitung des Geräuschrepertoires, Spielerei eines Exzentrikers? Es waren jedenfalls genau diese Geräusche, die 1917 bei der Uraufführung für einen perfekten Theaterskandal sorgten.

Tout Satie – Complete EditionSatie spaltet bis heute das Publikum. Die einen sehen in ihm einen „gefälligen kleinen Musiker, einen amüsanten Unterhalter, einen einfallsreichen Erfinder drolliger Bizarrerien oder – im Gegenteil – geistreicher Naivitäten“, einen „netten Kabarettkünstler“ und „kleinen zweitrangigen Geist“. Aber selbst Kritiker wie Adorno gestehen ihm zu: „In den schnöden und albernen Klavierstücken Saties blitzen Erfahrungen auf, von denen die… Schönbergschule… nichts sich träumen lässt.“
Saties Schaffen enthält so unterschiedliche Werke wie die „Messe der Armen“, Ballettmusiken, an die 70 Kabarettsongs, unzählige Klavierminiaturen – selten länger als 1’30“, Choräle, und wenige Orchesterstücke. Sie alle zeigen ein Streben nach äußerster Einfachheit, Klarheit. Spott über musikalische Entwicklungen und Moden, Ablehnung von aufgeblasener Bedeutsamkeit, der Versuch, dem bürgerlichen Musikleben Sand ins Getriebe zu streuen. Statt dessen spielerisches, oft augenzwinkerndes Aufgreifen seiner musikalischen Umwelt. Bei Satie treffen sich Jazz, Kabarett, Musik für Stummfilme. Seinen vielen Klavierstücken gibt er phantasievolle Titel: Schlaffe Préludes (für einen Hund)“, „Drei Stücke in Form einer Birne“, „Sonatine bureaucratique“, „Kalte Stücke“, „Tanz der Drehtür“, „In der Art eines Pferdes“, „The dreamy fish“, „Pittoreske Kindereien“ oder „Drei distinguierte Walzer eines blasierten Affen“.
Gern schreibt Satie in seine Notenmanuskripte lange Spielanweisungen („sich selber kommen sehend“, „In der Furcht des Unklaren“, „großartig und angemessen“, „Verändern Sie nicht Ihren Gesichtsausdruck, erbleichen Sie in der Magengrube“, „Wie eine Nachtigall mit Zahnschmerzen“) und andere Gedanken, die oft in krassem, fast albern wirkenden Gegensatz zur Kürze des Stücks stehen. Dazu stellt er kleine satirische Zeichnungen. Kalkulierter Bruch mit Konventionen? Denn die Stücke sind handwerklich präzise gearbeitet und versuchen immer wieder, neue Sichtweisen in die Musik einzubringen. Im Grunde ist Saties Musik nur eine Seite seines Schaffens, man würde sich Projektionen seiner Notation wünschen, wenn die Werke erklingen. Oder Computerprogramme, bei denen sie zur Audiospur über den Bildschirm laufen.
Exzentrik als subversive Tarnung? Satie, geboren 1866 als Sohn eines Versicherungsagenten und dessen schottischer Frau, wuchs zweisprachig auf. Seine Mutter starb, als er sechs Jahre alt war. Seine Stiefmutter, eine Musiklehrerin, erkannte sein Talent. Satie selbst schreibt: „Nach einer kurzen Jugend wuchs ich zu einem normalen Menschen heran, zu nichts weiter. Es war zu jener Zeit, dass ich begann, in Tönen zu denken und zu schreiben. Ja... Ärgerliche Sache... Äußerst ärgerliche Sache!..“

Satie brach die Konservatoriumsausbildung ab (und absolvierte mit 30 noch einmal ein Studium des Kontrapunkts an der Pariser Schola Cantorum, mit Auszeichnung). Er komponierte für eine obskuren Geheimbund der Rosenkreuzer. Heuerte im Chat Noir, einer Kabarettbar am Montmartre, als Klavierspieler an – sein Brotberuf, dem wir Chansons und etliche Stücke in Jazz-Manier zu verdanken haben.
Als ein Beziehungsversuch zur Malerin Suzanne Valadon unglücklich endet, gerät er endgültig auf den Weg, ein bekannter Sonderling in der Künstlergemeinschaft von Paris zu werden. Von Valadon existiert ein Porträt des jungen Satie. Der scharfzüngige Beobachter hat viele bekannte Freunde – unter ihnen Claude Debussy, der einige seiner Klavierstücke orchestriert und mit dem Satie einen skurrilen Briefwechsel unterhält. Um anlässlich von Debussys „Pelléas et Mélisande“ 1902 zu stöhnen: „Es muss etwas anderes gefunden werden, oder ich bin verloren“. Cocteau präzisiert Saties Kritik an Debussy: „Der dichte, von Blitzen zerrissene Nebel Bayreuths wird zum leichten, sonnengefleckten impressionistischen Flockentanz (...) Der Impressionismus ist eine Nachwirkung Wagners, das letzte Gurren des Gewitters“ (zitiert nach Csampai/Holland: Der Skandal Satie, in: Musik-Konzepte 11). Zu Saties Montmartre-Bekannten gehören auch Ravel and Poulenc, Darius Milhaud, Man Ray, Brancusi und Duchamp.

Satie konkretisiert die neue Musik, die er sich vorstellt. Sie soll „keine Grimassen schneiden“, soll wahrhaftig und unverstellt sein, eine Art musikalische Möblierung, ein musikalisches Klima schaffen. Und sie soll keine Größe vorgaukeln, die sie nicht besitzt. Im Grunde fordert er: „Habt Ihr’s nicht ne Nummer kleiner?“ Satie probiert viele Haltungen aus, schlüpft in Bedeutungen und findet zielsicher schnell wieder deren Schwächen. Er parodiert in eigenen Kompositionen Chabriers „España Rhapsodie“ und kritisiert die bürgerliche Musikübe-Atmosphäre mit seiner „Sonatine bureaucratique“, die ein Gegenstück zu Clementis C-Dur-Sonatine ist. Er hält dem Musikleben seiner Zeit einen Spiegel vor. Cocteau bringt das auf den Punkt: „Das Publikum ist schockiert über das Charmant-Lächerliche der Titel und Bezeichnungen Saties, aber es respektiert das Enorm-Lächerliche des ‚Parsifal’-Librettos.“
Satie stößt immer wieder Neues an. Schreibt für René Clair die erste Musik zu einem Stummfilm. Probiert in „Socrate“, wie Musik ein Ambiente schaffen kann. Ohne sich festzulegen, wohin die Reise gehen soll. Satie holt den Alltag in die Musik, Fetzen von Bar-Musik, Impressionen aus der Metropole. Er behauptet sogar: „Es gibt keine Satie-Schule. Der „Satismus“ wüsste nicht, wie er bestehen sollte. Man träfe mich dort als Gegner. Ich habe mich immer bemüht, durch die Form und durch den Inhalt in jedem neuen Werk die Mitläufer in die Irre zu führen.“
Sein Werk führt letztlich hin zu einer neuen Musikästethik – des Schreibens, des Aufführens, des Hörens. Weg mit den dem Kanon der Konventionen – der Unterscheidung zwischen Ton und Geräusch, der notwendigen Länge, den Taktstrichen, der herkömmlichen Harmonielehre. Von Satie aus führen viele Wege in die neue Musik des 20. Jahrhunderts, und es ist kein Wunder, das John Cage zu seinen überzeugtesten Jüngern gehört. Sein Urteil: „Es geht nicht darum, ob Satie relevant ist. Er ist unerlässlich.“ Cage ist es auch, der zum ersten Mal Saties kurzes Klavierstück „Vexations“ aufführt, das nach einer Anweisung des Komponisten 840mal hintereinander gespielt werden soll – 10 Pianisten brauchen dafür 18 Stunden. Musikalischer Minimalismus, ganz groß. Ein meditativer Weg zu einem neuen Hören.
Hauptsache, die Musik ist am Ende so wahrhaft wie das Leben. Satie lebt das Leben eines Menschen, der immer arm bleibt, in winzigen Zimmern haust, Bett, Klavier und Unmengen Papier – Notizblöcke voller Texte und Zeichnungen, absurde Werbeanzeigen, Auszüge aus Speisekarten, Aphorismen. Ein Kultur-Messie im Privaten, ein liebenswürdiger Herr im immergleichen Samtanzug (von dem er mehrere Exemplare besaß). Ein Anarchist, der viele Antennen hat für das Neue, egal ob es Kubismus, Dadaismus oder Surrealismus heißt. Und der immer danach sucht, wo er seine künstlerischen Überraschungen am effektivsten anbringen könnte. Deshalb ist er auch ein Meister der subversiven Selbstinszenierung.
Aber vor allem einer, der unkorrumpierbar seinen Weg gegangen ist. Nach seinem Tod schrieb Cocteau: „Er lehrte mich die Perspektive der Zeit und die Lächerlichkeit, dem Lob wie auch der Beleidigung die geringste Bedeutung beizumessen. Absichtlich gefallen oder missfallen zu wollen, waren für ihn unbegreifliche Haltungen. Er wählte von Anfang an eine unhaltbare Stellung.“

In vielen Filmen und Fernsehdokumentationen werden Schnipsel aus Musikstücken Saties immer wieder verwendet – ein später Erfolg seiner neuen Definition als musikalisches „ameublement“. Doch in den Konzertsälen ist die Musik Erik Saties bis heute (Höchststrafe für einen Komponisten) kaum präsent. Da ist es höchst verdienstvoll, dass auf den 10 CDs von „Tout Satie!“ das Gesamtwerk gesammelt wurde wenigstens hörbar gemacht wird. Das Klavierwerk wird überwiegend von den Satie-Experten Aldo Ciccolini, Alexandre Tharaud, Anne Queffélec und Jena-Yves Thibaudet präsentiert. Es muss eine aufwendige Archivsuche gewesen sein, die das Lebenswerk Saties zusammenführte: Die älteste Aufnahme, „Parade“, stammt aus dem Jahr 1967! Die skandalträchtigen Geräusche, sind auf dieser Aufnahme leider nicht dabei.

Tout Satie! Erik Satie Complete Edition
10 CDs
Erato
EAN: 082564604796 3
Hörprobe


Abbildungsnachweis:

Header. Erik Satie. Quelle: Wikipedia

CD-Box-Cover

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