Felix Mendelssohn Bartholdy · Fanny Hensel: Lieder ohne Wort
- Geschrieben von Hans-Juergen Fink -
Mit seinen „Liedern ohne Worte“ hat Felix Mendelssohn eine eigene poetische Gattung begründet: Tönende Miniaturen, liedhafte Strukturen, meist zwei bis drei Minuten lang. Musikalische Zeitkapseln, in denen Mendelssohn wie auf Tagebuchblättern die Erlebnis-, Gefühls- und Traumwelt seiner Zeit festgehalten hat. Seine einige Jahre ältere Schwester Fanny Hensel, der eine öffentliche Musikerkarriere versagt blieb, baute das Genre mit eigenen Werken aus. Martin Kirschnereit hat jetzt die „Lieder ohne Worte“ der beiden auf drei CDs eingespielt – und fordert zu einem interessanten Vergleich heraus.
„Es wird so viel über Musik gesprochen, und so wenig gesagt. Ich glaube überhaupt, die Worte reichen nicht hin dazu, und fände ich, dass sie hinreichten, so würde ich am Ende gar keine Musik mehr machen. (...)So finde ich in allen Versuchen, diese Gedanken auszusprechen, etwas Richtiges, aber auch in allen etwas Ungenügendes, nicht Allgemeines. (...) Das, was mir eine Musik ausspricht, die ich liebe, sind mir nicht zu unbestimmte Gedanken, um sie in Worte zu fassen, sondern zu bestimmte. Fragen Sie mich, was ich mir gedacht habe, so sage ich: gerade das Lied, so wie es dasteht. Und habe ich bei dem einen oder dem andern ein bestimmtes Wort oder bestimmte Worte im Sinne gehabt, so kann ich die doch keinem Menschen aussprechen, weil dem einen das Wort nicht heißt, was es dem andern heißt, weil nur das Lied dem einen dasselbe sagen, dasselbe Gefühl in ihm erwecken kann wie im andern.“ Schreibt Mendelssohn an Marc André Souchay 1842
Den größeren Teil seines produktiven Lebens hat der Komponist Felix Mendelssohn (1809-1847) fürs Klavier immer wieder „Lieder ohne Worte“ geschrieben, das erste datiert auf 1829, da war er gerade 20 Jahre alt. Acht Bände mit jeweils sechs solcher Kompositionen gibt es, sechs davon wurden zu seinen Lebzeiten herausgegeben. Zwei erschienen postum, und einen neunten hat der Pianist der vorliegenden Aufnahme, Martin Kirschnereit, aus Stücken zusammengestellt, die dem Genre entsprechen, aber nicht Eingang in diese Sammlungen fanden.
Es sind musikalische Miniaturen, von denen den allerwenigsten ein Titel zugeschrieben ist („Jägerlied“, „Spinnerlied“, „Venetianisches Gondellied“, „Trauermarsch“, „Frühlingslied“, „Kinderstück“), andere sind durch Bearbeitungen in anderen Zusammenhängen in ihrem Inhalt fasslich. Doch um verbale scheinbare Eindeutigkeit geht es Mendelssohn gar nicht – er möchte in jedem Stück einen einzigartigen, starken Gefühlswert, eine poetisch verarbeitete Stimmung von allgemeiner Gültigkeit einfangen und weitergeben.
Die „Lieder für das Pianoforte“ seiner Schwester Fanny Hensel (1805-1847) entwickeln diese Idee weiter. Sie ist gut drei Jahre älter und eine begabte Pianistin und Komponistin von hohen Graden, die vom Vater an einer vermutlich grandiosen Karriere gehindert wurde – 1820 schreibt er ihr: „Die Musik wird für ihn [Felix] vielleicht Beruf, während sie für Dich stets nur Zierde, niemals Grundbass Deines Seins und Thuns werden kann und soll.“
Die Musik bleibt dennoch ein Kernpunkt ihres Lebens. Sie komponiert an die 470 Werke, die meisten sind vom Musikbetrieb bis heute fast vollständig ausgeblendet. Sie organisiert die häuslichen „Sonntagsmusiken“ der Mendelssohns in Berlin – eine ambitionierte Konzertreihe mit alter und neuer Musik vor einem privaten Publikum von regelmäßig 200 Zuhörern.
Ein einziges Mal konzertiert die großartige Solistin öffentlich mit dem g-Moll-Konzert ihres Bruders – sonst bleibt ihr der öffentliche Erfolg versagt, was sie in einem Brief so beklagt: „Felix, dem es ein Leichtes wäre, mir ein Publikum zu ersetzen, kann mich auch, da wir nur wenig zusammen sind, nur wenig aufheitern, und so bin ich mit meiner Musik ziemlich allein.“
Musik aus einer Welt voller Chancen und Ängste, die sich rasch verändert
Was aber drücken Mendelssohns mehr als 50 „Lieder ohne Worte“ aus? Es sind die Inhalte, die die Kunst des frühen 19. Jahrhunderts bestimmen. Nach dem Sturm der Französischen Revolution, dem Leid der Kriege und der Neuordnung Europas übernimmt das Biedermeier die Führung, das einen Primat der kommoder Bürgerlichkeit postuliert, mit zurückgezogener Häuslichkeit, Geselligkeit in kleinem Rahmen, mit Hausmusik, Gemütlichkeit, inniger Sehnsucht und romantischer Liebe. Bürgerliche Tugenden werden hochgehalten, die Familie ist patriarchalisch organisiert (wie auch bei Mendelssohns), die Kindheit wird erfunden.
Draußen, da ist es bedrohlich – Geister, Gespenster, Schauergeschichten, verfallene Burgen, spukende Ritter, schockierende Märchenfiguren und lichte Elfentänze bilden eine Gegenwelt ebenso wie die lebendige, die heile Natur.
Revolutionäre Köpfe wie der Journalist und Poet Ludwig Pfau spotten über die braven, ängstlichen Bürger:
Schau, dort spaziert Herr Biedermeier
und seine Frau, den Sohn am Arm;
sein Tritt ist sachte wie auf Eier,
sein Wahlspruch: Weder kalt noch warm.
Das Biedermeier und seine Denkfiguren und musikalischen Hervorbringungen sind Reaktionen auf eine gewaltige gesellschaftliche Veränderung, die das Leben in vielen Bereichen anfasst, die Chancen mit sich bringt, aber auch Ängste weckt. Die Industrialisierung und die immer größere Bedeutung der Wissenschaften bedrohen das beschauliche Leben; Maschinen ziehen ins Leben ein, die Städte wachsen schnell. Natur wird das idealisierte Gegenbild (Landschaftsbilder, wie es sie auch in der Musik Mendelsohns gibt), melancholische Rückblicke, phantastische Nebenwelten. Es entstand als wesentliche Triebkraft des Biedermeier der Wunsch nach Bewahren von Einfachheit und Überschaubarkeit (gar nicht so unähnlich der heutigen Zeit, nur heißt das heute nicht Biedermeier, sondern „Cocooning“) und dem Althergebrachten – wohl wissend, dass das im Lauf der Geschichte ein frommer Wunsch bleiben muss.
Das ist der Gefühlsmix, aus dem sich die „Lieder ohne“ Worte der Mendelssohn-Geschwister speisen. Fröhliche Jagd- und Reiterszenen, melancholischem Seelenbespiegelung, Freude beim Gedanken an eine geliebte Person, dunkel raunender Spuk, fröhliche Reisebilder wie Fannys „Il saltarello romano“, inniges Sehnen, raffiniert zur Schau gestellte Simplizität. Wobei hin und wieder Leidenschaft und Phantasie manchmal ein ganz eigenes revolutionäres Potenzial aufblitzen lassen.
Felix’ Schwester komponiert virtuoser und freier
Fanny Hensels Stücke sind durchweg etwas länger sind als die ihres Bruders, sie fordern vom Pianisten auch deutlich virtuosere Fähigkeiten. Und sie nehmen sich größere harmonische und formale Freiheiten heraus, die oft auch eine subtilere Tonsprache mit sich bringen.
Felix schätzt die Musik seiner Schwester sehr, er schreibt an seinen Bruder Paul: „Was es für ein Gefühl ist, nach langer Zeit zum ersten Mal wieder Musik zu hören, das habe ich gestern empfunden. (...) mir ging kein gesunder Gedanke durch den Kopf, um mich herum waren nur Musiker aber keine Musik, und schon wollte ich mich zwingen, doch irgend einen Geschmack an ihren Machwerken zu finden, da kamen Fannys Lieder. Ich denke es ist die schönste Musik, die jetzt ein Mensch auf der Erde machen kann. Wenigstens hat mich nie etwas so durch und durch belebt und ergriffen. (...) Solche Lieder werden nie wieder gemacht. (...) Das ist die innere, innerste Seele von der Musik. (...) Solche Musik habe ich nie gehört; auch werde ich in meinem Leben nichts ähnliches machen; das thut aber nichts, wenns nur in der Welt ist; einerley, wer es ausgesprochen hat.“
Matthias Kirschnereit, Hamburger mit Professur in Rostock, sucht wie in allen seinen Aufnahmen andere als die gewöhnlichen Lesarten. Und legt Wert darauf, nicht nur biedermeierliche Idyllen zum Klingen zu bringen, sondern gerade auch die Untiefen der Seele herauszuarbeiten: „innere Unruhe, Zerrissenheit oder Verletzbarkeit, Erschütterung (...), dunkle Sehnsucht.“ Alles bei ihm kommt direkt und frisch aus dem Leben, keine in Vitrinen zur Schau gestellten Ausstellungsstücke einer Bilderbuch-Romantik, sondern liebevoll gestaltete Klangwelten voller eleganter Sinnlichkeit, die sich romantischen Klischees gern auch mal verweigert, zum Klingen gebracht durch eine gewaltige Vielfalt wunderbarer Anschlagsnuancen und Klangfarben. Eine Zeitkapsel, deren Inhalt frappierend aktuell klingt.
Felix Mendelssohn Bartholdy · Fanny Hensel: Lieder ohne Wort
Matthias Kirschnereit, Klavier
Label: Berlin Classics
3 CD - 0300639BC
VÖ: 28.08.2015
Video: Matthias Kirschnereit "Lieder ohne Worte" Fanny Hensel - Felix Mendelssohn
Konzerte 2015:
26.08.15 Brilon - klassikforum Sauerland
30.08.15 Ulrichshusen - Festspiele Mecklenburg-Vorpommern
13.10.15 Emden - Neues Theater
14.10.15 Kühlungsborn - Kunsthalle
26.10.15 Münster/Greven - Aula
11.11.15 Hamburg - St. Michaelis - Internat. Bachtage
13.11.15 Osnabrück - Kloster Malgarten
Abbildungsnachweis:
Header: Fanny Hensel (1842), Felix Mendelssohn (1830)
CD-Cover
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