Praetorius. Pablo Heras Casado, Balthasar-Neumann-Chor und -Ensemble
- Geschrieben von Hans-Juergen Fink -
Drei Musiker mit dem Namen Praetorius – und ihre Kompositionen aus den ersten 25 Jahren des 17. Jahrhunderts. Ein Zeitalter rasanter Entwicklung der Stilmittel und Kompositionstechniken, ohne die die Musik des Barock nicht möglich geworden wäre. Der junge spanische Dirigent Pablo Heras-Casado mit dem Balthasar-Neumann-Chor und -Ensemble hat Kompositionen aus dieser faszinierenden Umbruchzeit aufgenommen.
Zu den Schultern, auf denen die Großkomponisten des Barock stehen, gehören auch die etlicher Musiker mit dem Namen Schulz oder Schultheiß. Nie gehört? Das mag daran liegen, dass sie ihren Namen der Zeitmode folgend, latinisiert hatten und sich nun Praetorius nannten. Wobei der berühmteste, der Komponist des vierstimmigen Satzes von des Weihnachtsliedes „Es ist ein Ros entsprungen“, Michael Praetorius – nicht verwandt ist mit der gleichnamigen Hamburger Organisten- und Komponisten-Dynastie.
Der spanische Dirigenten-Shooting-Star Pablo Heras-Casado hat sich mit dem Balthasar-Neumann-Chor und -Ensemble elf Werken von drei Trägern des Namens Praetorius gewidmet, die sämtlich im ersten Viertel des 17. Jahrhunderts entstanden – der Zeit des Übergangs von der Renaissance zum Frühbarock. Heras-Casado wählte Musik von Michael Praetorius(1571-1621), geboren in der Nähe von Eisenach. Er war ein bedeutender Komponist, Organist, Hofkapellmeister und Musikgelehrter, der in Thüringen, Braunschweig, Lüneburg, Dresden und Wolfenbüttel lebte.
Von ihm stammen nicht nur mehr als 1.200 Liedbearbeitungen in der Sammlung „Musae Sioniae“, das musikalische Erbe der Reformationszeit, und die bekannten weltlichen Tänze unter dem Titel „Terspichore“ (1612) – er schrieb auch die drei musiktheoretischen Bände von „Syntagma musicum“, erschienen 1615-1619, ein Werk, das heute als wichtige Quelle zur zeitgenössischen Aufführungspraxis und der Instrumente des Frühbarock gilt. Michael steuert zur Praetorius-CD ein Magnificat, komponiert 1611, bei.
Und eine 1607 entstandene Vertonung von Versen aus dem Hohen Lied Salomos. jener Sammlung von Liebesliedern, die zu den freud- und lustvollsten Texten des Alten Testaments zählen. Sie sind wohl zwischen 500 und 300 v. Chr. zusammengetragen worden und wurden wegen ihrer Sinnlichkeit wegen gern als Textgrundlage für Hochzeitsmusiken verwendet – womit auch Heras-Casado das Grundthema seines Praetorius-Albums gesetzt hat.
Neben Michael Praetorius liefern zwei Mitglieder der Hamburger Praetorius-Familie Kompositionen: Hieronymus (1560-1629), Sohn Jacobs des Älteren, ab 1582 Organist an St. Jacobi und hoch geachtet wegen seines großen Engagements für das Hamburger Musikleben, steuert ein Magnificat und fünf weitere Vertonungen bei. Sein Sohn Jacob der Jüngere (1586-1651), ab 1604 Organist an St. Petri und eines von drei Kindern des Hieronymus, die sich selbst wieder der Musik zuwandten, ist hier mit drei Werken vertreten.
Brüche mit den Konventionen der Vergangenheit
Die Musik der drei Komponisten entsteht in einer Epoche der Neuerungen, in der vielfach mit Konventionen der Vergangenheit gebrochen wird. Aus Italien brachten Komponisten von ihren Dienstreisen die berauschende Kunst vielstimmiger Vokalkompositionen über die Alpen, im Norden mischte sie sich mit einem gewissen rauen, protestantischen Ernst. Die neue Musik lässt die in großen sakralen Räumen lang schwebenden melodischen Linien der Renaissance hinter sich und wendet sich kürzeren Motiven zu, mit denen man konzertierende (dieses Wort erklärt Michael Praetorius so: „welches miteinander scharmützeln heißt“) Spannung und Dramatik ins Hörgeschehen holt, die die Seele auf lebendigere Art bewegen kann: Die Musik wird gesungen von mehreren Chören und gespielt von mehreren Instrumentengruppen. Über dem neuartigen Generalbass können sich reich ausgezierte Stimmen entfalten. Die Vielzahl der alten Kirchentonarten wird langsam immer weiter reduziert auf eine Dur/Moll-Tonalität. Dazu kommt eine wahre Lust an der ungewohnten Spannung, die durch punktuelle Dissonanzen entsteht.
Michael Praetorius, den Zeitgenossen als „weitberühmten, kunstreichen, vortrefflichen und von Gott hoch begnadeten Musicus“ lobten, den man sogar als „deutschen Orpheus“ bezeichnete, verwendete den konzertierenden Stil ab 1613, über seinen Nachfolger in Dresden, Heinrich Schütz, der sich auch in Italien umhören konnte, und über importierte Werke Vivaldis gelangte er später zu Johann Sebastian Bach.
Die Musiker experimentieren mit Leise/Laut- und Hoch/Tief-Kontrasten, mit einander antwortenden Sängergruppen wie in Jacob Praetorius’ „Indica mihi“ – komponiert von Jacob Praetorius für die Hochzeit seiner Tochter Gesa mit einem dänischen Komponisten. Michael Praetorius’ „Magnificat“ besticht durch lebhafte, fast dramatische Chorpassagen, in denen fast schon ein bisschen Swing zu hören ist. „Quam pulchra es“ von Jacob ist vertonte Leidenschaft, Sehnsucht und Sinnlichkeit mit freudig ausgekosteten Dissonanzen.
Pablo Heras-Casado mit dem Balthasar-Neumann-Chor und -Ensemble versteht es hervorragend, das Spannende, Neue dieser Musik, die sich dem „Menschlichen, dem körperlich Erfahrbaren, dem Genussvollen“ zuwendet, zum Klingen zu bringen. Es sind nicht mehr nur vertonte religiöse Setzungen – die Musik macht sich in diesem Vierteljahrhundert der Neuerung auf den Weg, die Menschen in ihren lebendigen Erfahrungen zu berühren – eine Welt unverbrauchten musikalischen Ausdrucks, die für die Zeitgenossen damals mit geradezu erschreckend neuartiger Kraft daherkam.
Praetorius. Pablo Heras Casado, Balthasar-Neumann-Chor und -Ensemble.
Archiv Produktion
479 4522
Hörbeispiele
Abbildungsnachweis:
Header: Barockmusiker. Quelle: Wikipedia
CD-Cover
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