Mendelssohns Sinfonien bekommen in den ersten beiden Veröffentlichungen einer neuen Reihe des London Symphony Orchestra unter John Eliot Gardiner überraschendes dramatisches Gewicht – sie büßen aber zugleich etwas von der flirrenden Kunst des Klangzauberers Mendelssohn ein.
Einen solchen Mendelssohn wie in dieser 3. – „schottischen“ Symphonie – hört man selten: John Eliot Gardiner und das London Symphony Orchestra (LSO) rücken ihn in der ersten Aufnahme dieser Reihe, die einmal alle Symphonien und etliche anderer Orchesterwerke umfassen soll, ganz deutlich an die Symphonik Beethoven heran. Mit dramatischen dynamischen Kontrasten, aufbrausender Expressivität und hochkomplexen Durchführungen. Weggewischt scheint der feentanzende Sommernachtsträumer, schwungvolles Vorwärtsstürmen illustriert die Landschaftserlebnisse, die auf Mendelssohn während seiner England- und Schottlandreise 1829 eingestürmt sind. Was ihm von Richard Wagner das mokant anerkennende Urteil einbrachte, er sei ein „erstklassiger Landschaftmaler“.
Es sind hochqualitative Live-Mitschnitte von Konzerten für das orchestereigene Label des LSO, die beim Kauf gleich in mehreren Versionen ausgeliefert werden: eine „normale“ CD, eine SACD für den Audio-Surround-Klang, und auf einer BluRay-Disc gibt’s die digital hochauflösende Stereo- und 5.1-BluRay-Audio-Variante dazu, mit der man sich zuhause für den perfekten Klang mit entsprechendem Gerät rundum beschallen lassen kann. Mitgeliefert auf der BluRay außerdem: ein Videomitschnitt jeweils des gesamten Konzerts.
Gardiner hat sich mit dem Orchester auf leichte Modifikationen der Spielweise in Richtung Originalklang geeinigt: Erste und zweite Violinen sitzen einander gegenüber und nehmen Bratschen und Celli in die Mitte. Sie spielen mit sehr weit zurückgenommenem, kaum hörbaren Vibrato, was einen sehr klaren Höreindruck zu Folge hat. Dazu äußerst knackige Trompeten und Pauken. Bei der 5. Symphonie (siehe unten) ist das altertümlichs Serpent dabei und in der Ruy-Blas-Ouvertüre die Ophikleide – beides tiefe Holzblasinstrumente, die längst aus der Mode gekommen sind.
Lebensprall und mit großer Kraft interpretiert
Gardiners Ziel ist aber keineswegs ein lieblicher Gesamteindruck, sein Mendelssohn kommt lebensprall und mit großer Kraft daher, zupackend, dass die Funken sprühen, und das durchaus nicht mit reduzierter Lautstärke. Das führt hier und da zu hochexpressiven Momenten, was sicher fasziniert, an anderen Stellen gerät dann aber das Geheimnisvolle, das Flirrende in Mendelssohns Musik arg in den Hintergrund – da fehlen die mystischen, die fantastischen und überirdischen Dimensionen des „Sommernachtstraums“.
Dreingaben zur „Schottischen“ sind die Hebriden-Ouvertüre (komponiert 1829-33), der Gardiner und das London Symphony Orchestra geradezu impressionistische Klangfarbenspiele abgewinnen, und Schumanns Klavierkonzert a-Moll (1840-45), gespielt von Maria João Pires – ein bedächtige, in Klangfarben schwelgende, großartige Aufnahme und eine fesselnd dichte Interaktion zwischen Solistin und Orchester. Die Videoaufnahme enthält übrigens auch noch Pires’ feine Zugabe: „Der Vogel als Prophet“ aus Schumanns „Waldszenen“.
Als zweite Veröffentlichung des Mendelssohn-Zyklus mit Gardiner und dem LSO ist die 5. Symphonie erschienen – als „Reformations-Symphonie“ betitelt und geschrieben 1829 für die 300-Jahr-Feier der Augsburger Konfession, aber nicht aufgeführt, weil die Feiern wegen der Unruhen im Gefolge der französischen Julirevolution des Jahres 1830. Eigentlich ist sie in der Reihenfolge des Komponierens die zweite symphonische Arbeit Mendelsohns, ihre Zählziffer aber trägt sie, weil sie als seine 5. im Druck erschien. Uraufgeführt wurde sie schließlich 1832 in Berlin.
Mendelssohn führt in dieser Symphonie den Aufbruch der Reformation vor Ohren, das lustvolle Aufblühen der Diskussion unterschiedlicher Meinungen. 1829 war für ihn außerdem das Jahr seiner Wiederaufführung von Bachs „Matthäus-Passion“. In seiner Symphonie zitiert aus dem gregorianischen „Magnificat“ und – wiedererkennbar für alle Dresdner und alle Wagner-Fans – aus dem „Dresdner Amen“, die aus der Messe der Dresdner Hofkapelle stammt. Eine kurze Sequenz von offenbar hoher Anziehungskraft, die neben Mendelssohn auch von Brucker in seiner 3. und Mahler im Schlusssatz seiner 1. Symphonie verwendet wurden. Richard Wagner hat sie weihevoll in seinen „Parsifal“ eingebaut, dort ist sie das Leitmotiv für den Gral.
Im vierten Satz verwendet Mendelssohn nach einem fugierten Beginn den Luther-Choral „Ein feste Burg ist unser Gott“, um die Blechbläser-fundamentierte Glaubensgewissheit der Reformation zu illustrieren. Gardiner geht auch diese Symphonie in einem klaren, forschen Stil an, bleibt aber damit für mein Empfinden etwas zu sehr der Oberfläche.
Dreingaben zu dieser 5. sind zwei Ouvertüren: „Calm Sea and Prosperous Voyage“, die Mendelssohn 1828 entlang zweier Goethe-Gedichte schrieb – und das schwüle, morbide Gefühl einer Flaute hinüberleitet in aufkommenden Wind, schnelle Fahrt und jubelnd begrüßte Heimkehr. Richard Wagner ist nicht weit entfernt davon gelandet bei seinen Ausdrucksmitteln am Anfang vom „Rheingold“. Die Ouvertüre zu „Ruy Blas“ entstand für eine Aufführung von Victor Hugos Tragödie als Auftragsarbeit des Theaters Leipzig.
Beide sind – wie die Hebriden-Ouvertüre – dramatische Gemälde, die Gardiners Mendelssohn-Verständnis und dem elektrisierend direkten Zugriff des LSO auf Mendelssohns Musik weiter entgegenkommen als die symphonischen Werke.
Felix Mendelssohn: Symphony No 3 und Ouvertüre “Die Hebriden”, Robert Schumann: Klavierkonzert a-Moll
Sir John Eliot Gardiner, London Symphony Orchestra, Maria João Pires, Klavier. 1 CD/SACD, 1 BluRay audio,
LSO0775
Felix Mendelssohn: Symphony No 5, u. a.
Sir John Eliot Gardiner, London Symphony Orchestra, 1 CD/SACD, 1 BluRay audio,
LSO0775
Hörbeispiele:
3. Symphonie
5. Symphonie
Abbildungsnachweis:
Header: Sir John Eliot Gardiner. Foto: Sim Canetty-Clarke
CD-Cover
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