Nicht nur Yasmina Reza ist eine Meisterin darin, den „Gott des Gemetzels“ zu beschwören. Wie man seit dem italienischen Kinohit „Perfetti Sconosciuti“ (2016) und seinem deutschen Remake „Das perfekte Geheimnis“ weiß, versteht auch Autor Paolo Genovese menschliche Abgründe genüsslich vorzuführen.
Nun hat Ulrich Waller die grandiose Gesellschaftskomödie im St. Pauli Theater inszeniert und damit wohl einen neuen Kassenschlager geschaffen. Das Premierenpublikum jedenfalls trampelte vor Vergnügen.
Bestseller auf die Bühne zu bringen, ist ja das Markenzeichen des Altonaer Theaters. Doch warum sollen nicht auch andere Bühnen von dem Erfolgsrezept profitieren?! Ulrich Waller, Co-Chef des St. Pauli Theaters, hat die Komödie, die es mittlerweile in über 40 Versionen weltweit gibt, sicher nicht zufällig in der französischen Variante in Szene gesetzt, Ähnlichkeiten mit den Stücken von Yasmina Reza sind nicht von der Hand zu weisen: Die leicht versnobten Akademiker-Gastgeber des denkwürdigen Dinners, das am Abend einer Mondfinsternis stattfindet, heißen nun Vincent (Oliver Mommsen) und Marie (Anne Weber), er ist Schönheitschirurg, sie Psychotherapeutin. Ihre Tochter „Margo“ (Anna Caterina Fadda) - wobei der Name auf Französisch natürlich viel schöner klingt, als das deutsche Margot – ist schwer von der kontrollsüchtigen Mutter genervt, die Kondome entdeckt, bevor das Töchterchen zur Party enteilt. Unterschwellig kriselt es auch in ihrer Ehe – ebenso, wie bei ihren Freunden, Marcel (Stephan Grossmann) und Charlotte (Johanna Christine Gehlen). Es ist nicht so ganz klar, was die beiden eigentlich beruflich machen, sie scheint nur schwer beschäftigt zu sein und genervt von der Schwiegermutter, die bei ihnen zuhause lebt und sich um die Enkelkinder kümmert.
Das pure Liebesglück scheinen dagegen der Taxifahrer Thomas (Holger Dexne) und seine Tierärztin Lea (Isabelle Giebeler) zu verkörpern, die gerade schwer daran arbeiten, ein Kind zu kriegen. Und dann ist da ja noch Benoit (Sebastian Bezzel), der geschiedene, arbeitslose Sportlehrer, der versprochen hatte, seine neue Lebensgefährtin mitzubringen. Sieben gute Freunde also, die Männer kennen sich seit der Grundschule, alle freuen sich auf den gemeinsamen Abend und sind sichtlich enttäuscht, als Ben allein auftaucht und seine Begleitung mit Fieber entschuldigt.
Das perfete Geheimnis: v.l.n.r. Giebeler, Grossmann, Dexne, Bezzel, Mommsen, Weber, Foto: © Kerstin Schomburg
Es könnte ja alles so nett sein. Doch, wie einige aus der deutschen Filmfassung von 2019 in der Regie von Bora Dagtekin (u.a. mit Elyas M’Barek und Wotan Wilke Möhring) noch erinnern dürften, läuft der Abend komplett aus dem Ruder. Die Sticheleien von Marcel, dem Hypochonder mit Nahrungsunverträglichkeiten, dem übel wird angesichts der Kochexperimente von Vincent („Gänseleber in Milch! Warme Austern!“), sind damit noch gar nicht gemeint. Nein, die Katastrophe beschwört vielmehr ein nettes, kleines Gesellschaftsspiel. Wer war noch gleich auf die verflixte Idee gekommen, die Karten, pardon, die Handys auf den Tisch zu legen und alles, was darüber ankommt, der Runde offen zu legen? Egal. Die Frauen preschen vor, die Männer zieren sich, aber schließlich machen doch alle mit. Und dann kommt, was kommen muss: Von wegen „keine Geheimnisse“! Abgründe tun sich auf! Eine schockierende Offenbarung jagt die nächste. Obszöne Fotos, heiße Höschen, erotische Facebook-Spiele, und der Versuch, mit „Plastik-Titten“ die Ehe zu retten, sind nur der Anfang. Marcel, der mit Ben die Handys tauscht, da er die intimen „Gute-Nacht-Bilder“ seiner heimlichen Freundin dem Kumpel zuschreiben möchte, muss sich unversehens als „Schwuchtel“ beschimpfen lassen – bis Ben den Handy-Tausch aufklärt und deutlich macht, warum er seine Liebe zu Männern bislang verschwiegen hat: Das Geläster dieser heuchlerischen, im Grunde zutiefst homophoben Clique wäre einfach nicht auszuhalten gewesen. Die Fallhöhe von Thomas und Lea, der beiden Turteltäubchen, ist allerdings nicht zu toppen an diesem Abend: Wie sich herausstellt, hat Thomas bereits seine Chefin geschwängert und offenbar noch eine Affäre mit der Gastgeberin am Laufen.
Auch wenn man die Geschichte bereits kennen und den Film mehrfach gesehen haben sollte – diese Inszenierung darf man sich nicht entgehen lassen! Regisseur Ulrich Waller, Bühnenbildner Raimund Bauer (Bühne) und Kostümbildnerin Ilse Welter haben als bestens bewährtes Team den intelligenten Plot brillant in Szene gesetzt. Hier stimmt alles, Timing, Tempo, Witz, Spielfreude. Zwei Schauspieler stechen in dem hochkarätigen Ensemble besonders hervor, beide sind als behäbige, bzw. tollpatschige Polizisten in TV-Serien bekannt: Stephan Grossmann und Sebastian Bezzel. Grossmanns Marcel versteht es einfach hinreißend, feminine Attitüden zu persiflieren und Bezzels Ben entwickelt regelrecht tragische Züge, als er bekennt, wegen seiner Homosexualität aus dem Schuldienst entlassen worden zu sein.
Dieser Abend stürzt alle Akteure ins emotionale Chaos und hinterlässt in jeder Beziehung einen Scherbenhaufen. Was für ein Fest, dabei zusehen zu dürfen! Und sicher sind nicht wenige Zuschauer mit dem festen Vorsatz nach Hause geeilt, Ihr Handy gleich mal mit einem neuen Passwort zu sichern. Denn die Moral von der Geschicht‘: Allzu viel Ehrlichkeit schadet schlicht!
„Das perfekte Geheimnis“
Zu sehen bis 4.6. 2022 und wieder vom 22.11-11.12.2022.
Im St. Pauli Theater, Spielbudenplatz 29-30 in 20359 Hamburg.
Alle Informationen zu Spielplan und Karten unter www.st-pauli-theater.de.
Tickethotline: (040) 4711 0666.
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