Auf zwei Prozent der Gesamtbevölkerung ist in den letzten anderthalb Jahren der Anteil der Ukrainer in Lübeck gestiegen – Grund genug für die Stadt, in einer völkerkundlichen Ausstellung das Verhältnis der alten Kaufmannsstadt Lübeck zu dem südosteuropäischen Land zu reflektieren.
Als Ergebnis der Suche fanden sich 150 Exponate in der Sammlung der Stadt, so dass kaum auf Leihgaben zurückgegriffen werden musste.
In Krieg und Frieden. Von Kiew nach Lübeck
Wer hier wohnt, sollte eigentlich wissen, dass der Süden Schleswig-Holsteins und der Westen Mecklenburg-Vorpommerns altes slawisches Siedlungsgebiet sind – nicht zuletzt hört man das an den Ortsnamen, die auf -in (Genin), -ow (Güstrow) oder -oe (Wesloe) enden (dabeibleiben – das sei in Richtung Süddeutschland gesagt – sowohl das „w“ als auch das „e“ stumm!). Deshalb – weil diese Gegend alles ist, aber ganz gewiss nicht urgermanisch – konnte die ukrainische Gastwissenschaftlerin Margarita Mudritska, als sie in den Lübecker Sammlungen herumstöberte, 1000 Jahre alte slawische Schriftstücke finden – allerdings nicht in kyrillischen Buchstaben, sondern in Futhark, der Runenschrift der Wikinger. Das symbolisiert sehr schön die Verbindung beider Kulturräume.
Die Runen sind nicht die einzige Überraschung, der der Besucher in dieser Ausstellung begegnet. Zu den ersten und damit ältesten Objekten gehören bemalte Ostereier, die ja sonst als typisch russisch gelten – tatsächlich sind sie mindestens ebenso typisch ukrainisch. Eines stammt aus dem Kiew des 10. Jahrhunderts! Dazu finden sich auch Weihnachtskrippen, Ikonen oder eine Mondsichelmadonna als religiöse Zeugnisse. Für diese ältesten Gegenstände war unter anderem der Lübecker Theologe und Historiker Jakob von Melle (1659-1743) verantwortlich, dessen breitgestreute Interessen sonst hauptsächlich der Geschichte der Stadt Lübeck galten, der aber seine „Wunderkammer“ dank der engen Beziehungen zwischen Lübeck und dem östlichen Europa mit solchen Funden zu bestücken wusste.
Die merkwürdigste Verbindung zwischen der Ukraine und Lübeck bildet der Selige Prokop, ein in Lübeck geborener, 1309 geborener Kaufmann, der erst zum orthodoxen Glauben übertrat, um später sein gesamtes, offenbar beträchtliches Vermögen zu verschenken und den Rest seines Lebens als mittelloser „Narr in Christo“ zu verbringen. In Lübeck erinnert eine Seitenkapelle der Franziskanerkirche St. Katharinen an ihn; sein Gedenktag ist übrigens der 8. Juli.
Wenn wir über die Verbindungen Lübecks mit Osteuropa sprechen, denken wir an die „Nowgorodfahrer“, also an jene Lübecker Hansekapitäne, die mit dem westlichen Russland Handel pflegten. Aber es gab noch weitere Verbindungen: die deutschen Siedler, die Katharina die Große im 18. Jahrhundert in ihr Reich holte und die später die „Wolgadeutschen“ genannt werden sollten. Sie reisten über Lübeck, wo sie sich teils monatelang aufhielten, bevor es endgültig in Richtung Ukraine ging. Und während des Zweiten Weltkrieges gab es mehrere Kriegsgefangenenlager in Lübeck, in denen nicht wenige Ukrainer arbeiten mussten.
Typisch für die Ukraine ist die erstaunliche Völkervielfalt, die auch mit dem häufigen Wechsel der Herrschaft zu tun hat. Natürlich gab es viele Juden, über deren Herkunft und Kultur Arthur Koestler sein heftig umstrittenes Buch „Der dreizehnte Stamm“ schrieb, in dem er das östliche Judentum auf die zum Judentum konvertierten Chasaren zurückführte, ein Turkvolk, das vor mehr als tausend Jahren zum Judentum übertrat. Die „Kaftanjuden“ schienen den westeuropäischen Juden sehr, sehr fremd. Alfred Döblin, assimiliert jüdisch, reiste Mitte der zwanziger Jahren durch Polen, um das östliche Judentum und ihr „Stetl“ zu studieren, und kam damit auch in die westliche Ukraine, die damals (1918-1939) zu Polen gehörte – vor allem mit Lemberg, dem heutigen Lwiw. Sein Buch über diese Reise und seine Begegnung mit einer leider untergegangenen Welt ist bis heute lesenswert.
Es gibt noch ein anderes schönes Buch über diese untergegangene, sehr vom deutschsprachigen Judentum geprägte Welt, die „Maghrebinischen Geschichten“ Gregor von Rezzoris (1953), ein Bestseller der jungen Bundesrepublik. Die vielen sehr bunten Geschichten, die sich in diesem Buch versammelt haben, spiegeln die vielfältige bunte Kultur von Czernowitz, einer heute in der Westukraine gelegenen Stadt, die aber eine Zeitlang auch zum Fürstentum Moldau gehörte und damit, weil dieses osmanisch beherrscht wurde, zur Türkei. Später wurde die Stadt erst österreichisch und dann rumänisch… Dann kam die sowjetische und schließlich die ukrainische Zeit.
Die Lübecker Ausstellung ist vielleicht nicht ganz so bunt wie die bewegte Geschichte dieser Stadt, aber doch spiegelt sie sehr schön wider, wie multikulturell und interessant die Geschichte der Ukraine und ihre Gegenwart dazu ist.
In Krieg und Frieden. Von Kiew nach Lübeck
Zu sehen bis Sonntag, den 8. Oktober 2023
Eine Ausstellung der Völkerkundesammlung Lübeck im St. Annen-Museum, St. Annen-Straße 15, in 23552 Lübeck
Geöffnet: 01.01-31.03.: 11-17 Uhr | 01.04.-31.12.: 10-17 Uhr.
Weitere Informationen (Museum)
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