Schon mit seinem Titel deutet dieses Buch an, wie sehr es sich gegen den Zeitgeist wendet. Metaphysik schließlich ist seit gut hundert Jahren nicht mehr en vogue –besonders an den Universitäten –, und nur ganz wenige Künstler werden ihre Arbeiten noch heute mit ihr in Verbindung bringen.
Die „Pittura metafisica“ Giorgio de Chiricos ist Teil der Kunstgeschichte, nicht aber unserer Gegenwart. Ähnliches muss für die Architektur behauptet werden, denn gotische Kathedralen lassen sich als steingewordene Metaphysik verstehen – schon wegen ihres Strebens in die Höhe, aber natürlich auch, weil sie das Licht feiern –, wogegen heutige Architektur selten mehr ist als funktional; und wenn sie doch in die Höhe strebt, dann deshalb, weil der Auftraggeber der Größte sein und das ganz unbedingt auch zeigen will.
Hans-Dieter Mutschler ist nicht nur Philosophieprofessor, sondern auch theologisch versiert, Diplom-Physiker und noch dazu Musiker (Komponist). Für ihn als Hochschullehrer wie als Autor standen und stehen aber wohl die Fragen der Naturphilosophie im Vordergrund, und über die Jahre hinweg zeigt er sich derselben Tendenz wie in dieser Arbeit verpflichtet: Er wendet sich argumentativ gegen die Reduktion der Philosophie auf den Positivismus. Besonders überzeugend geschieht das in „Von der Form zur Formel“ (2011) und in „Halbierte Wirklichkeit“, das 2014 erschien. In beiden Arbeiten verteidigt der Autor die Ansprüche der Philosophie gegen die vielfältigen Versuche ihrer Marginalisierung, und in dem zuletzt genannten Buch vertritt er die auch hier wieder verteidigte These, „dass wir niemals mehr traditionelle, starke Metaphysik hatten als heute, wenn auch unter anderem Namen. Metaphysik flüchtet sich in die empirische Wissenschaft und geht dort inkognito.“ Nicht zuletzt, weil er selbst etwas von harter Naturwissenschaft versteht, kann er sie auch dort aufspüren, wo sie sonst kaum jemand vermutet.
Dieses Buch ist keine Ästhetik, und schon gar nicht geht es um einzelne Kunstwerke, sondern sein Thema ist die Bestimmung des grundsätzlichen Verhältnisses von Kunst und Metaphysik. Es sind also eigentlich zwei Themen, die hier zusammen behandelt werden – der Autor verteidigt die Legitimität metaphysischen Fragens, dazu aber kommt noch die Verbindung der Metaphysik mit der Kunst. Worin besteht ihr Gemeinsames? Hans-Dieter Mutschler, der sich unter anderem auf den französischen Philosophen Maurice Merleau-Ponty, auf Hermann Schmitz und besonders auf Gernot Böhme bezieht, findet das gemeinsame Fundament in der „Aisthesis“ genannten natürlichen Wahrnehmung, einer Wahrnehmung, die noch nicht begrifflich verengt ist und intellektuell oder gar ideologisch ver- und überformt wurde, sondern ursprünglich geblieben ist und damit weit geöffnet.
Was Mutschler nicht schätzt, macht er deutlich, wenn er anhand einiger Beispiele die Überlastung der Kunst als „Organon der Philosophie“ (Schelling) kritisiert. Eine Verquickung von Kunst und Metaphysik („die beiden ungleichen Brüder“), also der „Versuch, Kunst und Philosophie direkt ins Verhältnis zu setzen“, scheint ihm illegitim, und so zeigt er im 2. Kapitel, dass ihre Assimilation zu fragwürdigen Ergebnissen führt oder sogar führen muss; seine Beispiele sind der von ihm sonst geschätzte Maurice Merleau-Ponty, Henri Bergson, Theodor W. Adorno und endlich Martin Heidegger. Alle diese Autoren kritisiert er gelegentlich scharf. Er lehnt die manierierte Sprache Adornos ab und findet es „arrogant“, wenn dieser schreibt, dass der „Wahrheitsgehalt eines Werkes […] der Philosophie“ bedürfe. Nein, die Philosophie sei nicht notwendig, wenn wir uns der Kunst zuwenden. Bei der Lektüre Heideggers, dessen gelegentliche Einsichten er durchaus zu würdigen weiß, ärgert er sich über „ein verquastes, verschwiemeltes Raunen, das auch keine Philosophie mehr sein kann“.
In dem kurzen 3. Kapitel zeigt er in seiner Kritik an dem als Autor sehr erfolgreichen Markus Gabriel („Warum es die Welt nicht gibt“), dass der Bezug auf das Ganze konstitutiv für die Metaphysik ist: das ist ein für dieses Buch zentraler Gedanke. Es sei „einfach nicht wahr, dass wir uns immer nur mit Einzelheiten herumschlagen müssen.“ Spätere Kapitel stellen auch Ästhetiker der jüngeren Vergangenheit und sogar Theologen vor, und es findet sich eine überzeugende Kritik an dem bekanntesten zeitgenössischen Verächter der Metaphysik, an Jürgen Habermas.
Wenn er die Begegnung mit der Kunst beschreibt, spricht Mutschler wiederholt von Kontemplation, davon, dass es in ihr um ein „Innewerden“ geht und letztlich sogar um die Überwindung der Subjekt-Objekt-Spaltung. Damit nimmt er Motive auf, die vor allem die Philosophie des englischen Metaphysikers Whitehead bestimmen und sich auch in zahlreichen anderen Werken finden lassen. Aber mündet ein solcher Gedanke nicht, ohne dass es hier ausgesprochen wird, in eine Hochschätzung der Mystik? Ist ein Gegenüber von Subjekt und Objekt, von Betrachter und Natur oder Kunstwerk konstitutiv, wie es die traditionelle Ontologie und Erkenntnistheorie für alle Lebewesen annehmen, oder lässt sich dieser Gegensatz überwinden?
Wird wirklich in einer Begegnung mit großer oder vielleicht auch weniger großer Kunst – ob wir Musik hören, vor einem Bild stehen oder einen Roman oder Gedichte lesen – die Subjekt-Objekt-Spaltung überwunden, fließen der wahrnehmende Mensch und die Kunst ineinander? Und wäre dieser Zustand – in den Worten des Autors eine „Art des spontanen, meditativen Innewerdens“, den auch Gernot Böhme schätzt – wirklich erstrebenswert? Immerhin scheint es, dass nicht wenige neuere Kunstarten – Lichtkunst zum Beispiel, Installationen aller Art – ein anderes Erleben von Kunst anstreben und ihm ja vielleicht auch wirklich nahekommen. Der Betrachter tritt in einen Raum ein (Böhme spricht von einem „ingressiven“ Vorgang; „Ingression“ meint den Eintritt in etwas) und findet sich selbst ganz und gar von einem sinnlichen Erleben umgeben. Sollte in solchen Konzepten das „Gegenüber“ überwunden sein? Auch im Kino („CinemaScope“) und bei modernen Konzerten mit ihrer dank avantgardistischer Technik erreichten Rundum-Beschallung stellt sich diese Frage. Ältere Kunstphilosophien dagegen betonten immer das Gegenüber von Betrachter und Objekt, eine kritische Distanz, die weder überwunden werden konnte noch durfte.
Unbeschadet dessen ist der Grundgedanke des Buches überzeugend, dass wir das „Präreflexive der Aisthesis […] als Basis und als Verzweigungspunkt von Kunst und Metaphysik anerkennen“ sollten. Im Werk von Gernot Böhme („Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre“, 2001) ist von „Atmosphären“ die Rede. Das ist ein ursprünglich von Hermann Schmitz im Zusammenhang mit seiner Theorie der Gefühle geprägter Begriff, der in seinem Werk, der „Neuen Phänomenologie“, einen merkwürdig objektivistischen und deshalb gänzlich irrealen Grundton besitzt. Dagegen zeigen Böhme und Mutschler, dass Atmosphäre etwas zwischen Subjekt und Objekt ist, das sich nur dort einfindet, wo ein Wesen die Sensibilität aufbringt, sie tatsächlich wahrzunehmen. Ihr Begriff evoziert „die Assoziation des Schwebenden, grobmateriell nicht Fassbaren.“ So kommt es auf die Relationalität an – Atmosphären bestehen nicht „an sich“, sondern nur im Hinblick auf ein sie wahrnehmendes Wesen.
Ein solches Verständnis der Kunst (eigentlich sogar: der Wahrnehmung überhaupt) ist nur schwer mit einem intellektualistischen Begriff des Kunstschönen zu vereinbaren, wie er noch die Philosophie Hegels bestimmt oder sich in großen Werken des 19. Jahrhunderts findet. Seit längerem verabschiedet sich die Philosophie von solchen Vorstellungen. Schon vor Schmitz fanden sich Philosophen, die sich gegen eine Intellektualisierung der Kunst (das „sinnliche Scheinen der Idee“) wandten und für die „sinnliche Anschaulichkeit“ aussprachen. Bereits das zielte auf eine ursprüngliche Anschauung, die sich in der Wahrnehmung einer „Stimmung“ zeige. Aber noch lange betonten Metaphysiker wie auch Vertreter einer philosophischen Ästhetik, dass das Kunstwerk dem Betrachter „unaufhebbar gegenüber“ bleibe – von einem Ineinanderfließen wollten sie nichts wissen, eine pflanzenhafte Überwindung der Distanz schien ihnen nicht erstrebenswert. Allein für die Musik glaubten viele Autoren ein Eintauchen oder Mitschwingen einräumen zu dürfen.
Ein Autor, der sich als ein Vorläufer dieser Überlegungen ansehen ließe, ist Jean Gebser in „Ursprung und Gegenwart“. Wie spätere Autoren nimmt er Cézanne mit seinen zahllosen Versuchen, den Sainte-Victoire zu malen, als den Ursprung der modernen Kunst, also zumindest einer Malerei, die viel mehr sein will und auch wirklich mehr ist als nur abbildende, nur darstellende Kunst. Für Gebser – wie für Mutschler, wenn er über Metaphysik schreibt – kommt es auf „das Ganze“ an: „Das Ganze, da es raumzeitfreier Art ist, kennt keine Mitte.“ Gebser führt das auf eine andere Bewusstseinsstruktur zurück, deren erste Vorbote er in der Kunst und in der Physik aufzuzeigen versucht. Damit handelt es sich – anders als in dem hier besprochenen Buch – um eine geschichtsphilosophische These. Aber trotzdem: In ähnlicher Weise wie Gebser weisen Böhme und Mutschler auf die Bedeutung von Relativitätstheorie und Quantenphysik für unseren veränderten Blick auf die Welt hin.
Paul Cézanne: Mont Sainte-Victoire mit grosser Pinie, 1887, Öl auf Leinwand, 67x92cm. Courtauld Institute of Art, London. Gemeinfrei
Für Mutschler kann, nein muss eine offene Wahrnehmung in Metaphysik münden, wenn und weil sie auf das Ganze zielt. Denn weil der „Bezug auf das Ganze konstitutiv ist für den Menschen“, lässt sich es sich gar nicht vermeiden, dass der Mensch Metaphysik treibt. Er ist notwendig ein metaphysisches Wesen – auch dann, wenn er sich abseits von ihr wähnt. Schon in seinen oben genannten vorigen Büchern ist es dem Autor gelungen, in den Arbeiten entschiedener Gegner der Metaphysik metaphysische Thesen nachzuweisen. In diesen Passagen (und auch sonst) kommt dem Autor zugute, dass er ein erfahrener Hochschullehrer ist, der ausgreifende Argumentationen bündig zusammenzufassen versteht und in seinem Buch eine sorgfältige, immer sachliche Auseinandersetzung sowohl mit den von ihm bevorzugten wie auch abgelehnten Positionen führt.
Am Ende des Buches geschieht das zusätzlich – ebenfalls kritisch, aber keinesfalls von vornherein ablehnend – mit theologischen Überlegungen. Hier plädiert er dafür, die Verwurzelung der Theologie in der „ursprünglichen Aisthesis“ ins Bewusstsein zu heben. Dass der Gottesdienst und ein Ritus ästhetische Aspekte besitzen – denn auch hier können wir von „Ingression“ sprechen, wenn der Gläubige in eine Kirche eintritt – wird im Schlusskapitel reflektiert.
Hans-Dieter Mutschler: Ästhetik und Metaphysik. Die abgerissene Verbindung
Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt (wbg Academic)
230 Seiten, Hardcover
ISBN 978-3534407583
Weitere Informationen (Verlagsseite)
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