Kultur, Geschichte & Management

Das Museum der Arbeit in Hamburg stellt sich der Vergangenheit des eigenen Hauses.

Seit Eröffnung des Berliner Humboldtforums steht die koloniale Vergangenheit Deutschlands wieder im Fokus des öffentlichen Interesses.


Wie umgehen mit dem kolonialen Erbe? Rückgabe oder Nicht-Rückgabe der Benin-Bronzen, der weltberühmten Nofretete-Büste und anderer zigtausend Kunstobjekte, das ist hier die Frage. Weit weniger spektakulär, aber mindestens so komplex in ihren Auswirkungen, sind die bis in die Gegenwart reichenden wirtschaftlichen und sozialen Verflechtungen zwischen Kolonialismus und Industrie, die das Museum der Arbeit am Beispiel seiner eigenen Archivbestände beleuchtet.

 

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Wer denkt schon beim morgendlichen Kämmen und Händewaschen, bei einem gemütlichen Glas Kakao im Kerzenschein oder beim Anziehen der Gummistiefel an Ausbeutung, Unterdrückung und Zwangsarbeit? Mit Sicherheit die Kurator*innen Sandra Schürmann und Christopher Nixon, die monatelang die Geschichte der 1870 in Barmbek gegründete New-York Hamburger Gummi-Waaren Compagnie erforschten, in deren Fabrikhallen sich seit 1994 das Museum der Arbeit befindet.

 

Das Werk selbst (das seine Produktion von Hartgummi-Produkten nach dem Zweiten Weltkrieg nach Harburg verlagerte und heute noch in Lüneburg produziert) ist Teil der Hamburger Handels- und Industriegeschichte. Einer Erfolgsgeschichte, die gern aus Sicht der hanseatischen Kaufleute und Reeder erzählt wird, die mit ihren Rohstoffen aus Afrika, Brasilien und Indonesien, vor allem mit Kautschuk, Kakao und Elfenbein, ein Vermögen machten und den Reichtum der Stadt mehrten. Börse, Handelsflotte, Speicherstadt – ja, die gesamten Stadtentwicklung hatte mit den Produkten der deutschen und europäischen Kolonien zu tun. Die skrupellose Ausbeutung von Natur und Menschen in den jeweiligen Ländern, das enorme Leid, das Zwangsarbeit und Versklavung mit sich brachten; Hunger, Not, Vertreibung, die Zerstörung traditioneller Lebensformen – all das wird gerne dabei unter den Tisch gekehrt.

 

Die Ausstellung „Grenzenlos“ legt den Finger in die Wunde. Erzählt die Geschichte des Kolonialismus aus Sicht der Unterdrückten und Ausgebeuteten – derjenigen Menschen, die bislang nie eine Stimme hatten. Die Kuratoren Schürmann und Nixon schlagen dabei geschickt eine Brücke in die Gegenwart. Machen klar, wie rassistische Sehgewohnheiten aus der Kolonialzeit bis heute nachwirken und unsere gesellschaftlichen Strukturen bestimmen. So kommen im begleitenden Bokkazine viele „Black Indigenous People of Color“ zu Wort, die in Deutschland sozialisiert wurden und Rassismus von klein auf erlebten. Sie beklagen vor allem die fehlende Diversität im Kulturbetrieb. So würden deutsche Museen zwar unisono Solidaritätsbekundungen zu „back lives matter“ posten, doch die internen Machtverhältnisse stünden dazu im Widerspruch: (Fast) alle Kuratoren-Teams sind heute noch weiß. Schwarze Kulturschaffende wie Sandrine Micossé-Aikins, Kommunikationssoziologin Dr. Natasha Kelly, Kritiker Antwaun Sargent, sowie Kurator Christoph Nixon und Josephine Apraku (wissenschaftliche Mitarbeiterin der Ausstellung und Gründerin des Instituts für diskriminierungsfreie Bildung in Berlin) fordern deshalb einen Strukturwandel im Kulturbetrieb.
In Hamburg, im Museum der Arbeit, hat er bereits begonnen.


„Grenzenlos. Kolonialismus, Industrie und Widerstand“

Zu sehen bis 18. Juli 2021
im Museum der Arbeit, Wiesendamm 3, 22305 Hamburg.

Weitere Informationen und Rahmenprogramm

 

Das Bookazine zur Ausstellung

Das Bookazine „grenzenlos“bringt unterschiedliche Stimmen und Perspektiven von BIPoC in Deutschland zusammen. In Essays, Interviews, Gedichten, Collagen und Fotografien, bildet die Publikation die vielfältigsten Lebensrealitäten ab. Die Autor*innen führen dabei den Diskurs um die Ausstellungsinhalte selbstständig und kritisch fort. Das Bookazine möchte insbesondere BIPoC erreichen und bietet zugleich durch seinen diversitätssensiblen, diskriminierungskritischen und inklusiven Ansatz allen Leser*innen produktive Lernräume.

Mit Beiträgen u. a. von: Lahya Aukongo, Olenka Bordo Benavides, Elliot Blue, Nikita Dhawan, Diana Ejaita, Natasha A. Kelly, Isaiah Lopaz, Sandrine Micossé-Aikins, Alok V. Menon, Movain, Candice Nembhard, Kofi Shakur, Moro Yapha.

Herausgeber*innen: Josephine Apraku, Rita Müller, Christopher Nixon

170 Seiten, zahlreiche Abbildungen, KOCMOC-Publishing Space

 

YouTube-Videos:

- Grenzenlos. Kolonialismus, Industrie und Widerstand. | Stimmen zur Ausstellung (4:24)

- Online-Vortrag: Kolonisierte Arbeitswelten (50:41)

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