In Lübeck stellt eine Kabinettsausstellung mit hochwertigen Exponaten aus acht Jahrhunderten die Kulturgeschichte nicht allein des Briefes vor.
Es ist die schöne Villa des Brahms-Instituts der Musikhochschule Lübeck, in der die kostbaren Dokumente vorgestellt werden, aber obwohl sogar ein Brief von Ludwig van Beethoven (1770-1827) ausgestellt wird, steht keineswegs die Musik im Vordergrund. Vielmehr gehören die Exponate sehr verschiedenen Bereichen an, zum Beispiel dem der diplomatischen Korrespondenz des hohen Mittelalters oder dem der ausdrucksstarken Eigenwerbung phantasievoller Künstler der Gegenwart. Einmal handelt es sich um eine strenge amtliche Anweisung auf Schreibmaschine, ein anderes Mal um ein ethnologisches Objekt. Eine bunte Mischung!
Es ist schon bemerkenswert, dass sich gleich dreizehn Lübecker Institutionen zusammenfanden, um mit 30 Exponaten der verschiedensten Art diese Ausstellung zu bestreiten. Die hufeisenförmige Ausstellung passt trotzdem in einen einzigen mittelgroßen Raum und ist, anders als der Katalog, chronologisch gegliedert. Sie beginnt mit offiziellen Dokumenten und endet mit persönlichen Zeugnissen; ja, man kann sagen, dass die Zeugnisse generell persönlicher werden, je weiter die Zeit voranschreitet. Die originellsten Briefe gehören wohl in das 19. Jahrhundert, nicht in die Gegenwart.
Als erstes stößt man auf einen päpstlichen Schutzbrief aus dem Jahr 1234, beglaubigt durch eine „Bleibulle“ von Gregor IX. (1145-1241), die am Dokument mit rot-gelben Seidenfäden befestigt ist. Der extrem filigrane Text, ästhetisch äußerst reizvoll, wird im Katalog unverständlicherweise nur im lateinischen Original wiedergegeben, nicht aber in der Übersetzung. Es handelt sich, dem Kommentar zufolge, um eine Anweisung von Papst Gregor IX., der „am 15. Februar 1234 dem Bischof von Ratzeburg und anderen den Befehl“ übermittelte, „für die Aufrechterhaltung des Schutzbriefes für den Hafen von Lübeck und die von dort nach Livland (heute Teil von Lettland und Estland) segelnden Pilger (ein Euphemismus für die häufig gewaltsame Christianisierung und Eroberung) zu sorgen.“
Vielleicht ist es meine fehlende historische Bildung, die für Verwunderung sorgt – aber wie kommt der Papst in Rom dazu, sich um solche Fragen zu kümmern und (mehrmals) an einen Bischof im fernen Ratzeburg zu schreiben? Könnte es vielleicht sein, dass es sich bei diesem Brief um eine (immerhin mittelalterliche) Fälschung handelt, um einen Freibrief, den sich die Lübecker selbst ausstellten, weil es ja sonst keiner getan hätte? Nun, vielleicht verständlich, dass der Kommentator – stellvertretender Leiter des Archivs der Hansestadt Lübeck – nicht selbst ein Schmuckstück seines Hauses in Frage stellt; aber es ist eine Tatsache, dass kaum etwas so oft und mit so viel Leidenschaft gefälscht wurde wie päpstliche Urkunden aus eben jener Zeit.
Fast genauso alt sind die Wachstäfelchen mit Briefübungen aus dem 14. Jahrhundert; und immerhin noch ins 16. Jahrhundert zurück geht ein städtischer Brief im „Canzley-Stil“, was nicht zuletzt kunstvoll geschmückte Initialen und eine gestochene Handschrift auf einem wie neu wirkenden Pergament bedeutet. Es geht um einen Rechtsstreit, wie man auch der Transkription in das Lübsche, also stark plattdeutsch geprägte Deutsch der Zeit sehen kann: „So weth ick kein ander middell“ („So weiß ich kein anderes Mittel“)… Hier werden erstmals Persönlichkeiten sichtbar.
Natürlich gilt das noch viel mehr für die Beispiele aus dem 18. und 19. Jahrhundert, als es mit der Briefkultur immer weiter voranging und der Brief die empfindsamen Romane bestimmte. Hier in Lübeck finden sich ein prachtvolles Blatt aus einem Poesiealbum von 1817, ein wunderschöner Weihnachtsbrief oder ein Taufbrief von 1817. Und Emanuel Geibel, der uns heutigen wohl nicht mehr unbedingt als großer Lyriker gilt, wird als angenehmer Mensch vorgestellt, der einer unbekannten Verehrerin ihren Wunsch nach einem Autogramm (nach einem „eigenhändigen Namenszug“) prompt erfüllt.
Im 18. und 19. Jahrhundert herrschte der Brief – nicht allein im täglichen Leben, sondern auch in der Literatur. Man denke nur an die Briefromane des 18. Jahrhunderts oder an die Rolle, die der Brief in den Romanen Fontanes spielt. In dieser Ausstellung aber veranschaulicht ein Ausschnitt von Günter Grass‘ „Vonne Endlichkeit“, „Briefe“ überschrieben, die Skepsis unserer Zeit gegenüber dem Brief. Besonders bedauert der Schriftsteller die zurückgehende Bedeutung handgeschriebener Briefe – allerdings in einem Text, den der Kommentator Jörg-Philipp Thomsa euphemistisch „Als rhythmisierte Prosa“ bezeichnet. Eigentlich handelt es sich um eine bloße Aufzählung von Stichwörtern, aus der man mit ein wenig Mühe vielleicht einen Essay hätte basteln können.
Es ist nicht möglich, hier alle Exponate anzusprechen. Zuletzt seien deshalb das originellste und das bedeutendste Ausstellungstück beschrieben. Zunächst der Drohbrief eines Indonesiers, ein beschriftetes Bambusholz mit geschnitzten Miniaturwaffen – dem Kommentar zufolge ein Rechtsdokument, das eine Forderung enthielt und im Haus des Schuldners aufgehängt wurde, weshalb der Text auch mit der Formel „Énda surat kucanggung“ (Dt.: „Dies ist ein aufgehängter Brief“) beginnt. Wurden drei dieser doch wohl recht rustikalen Mahnungen ignoriert, hatte der Autor der Briefe das Recht, die angedrohten Maßnahmen umzusetzen.
Angenommen, das päpstliche Dokument ist eine Fälschung, dann kommt wohl trotz des immer noch beträchtlichen Alters dieses Dokumentes dem Brief aus der Hand eines wirklichen Genies die Ehre des ersten Preises zu. Ludwig van Beethoven schrieb 1823 an einen Kollegen in Paris, weil er auf der Suche nach Subskribenten für seine „Missa solemnis“ war – der kränkelnde Komponist brauchte dringend Geld. Es tut geradezu weh, seine Bettelei zu lesen: schließlich war es nicht irgendjemand, der sein eigenes Siegel noch einmal erbrach, weil ihm seine ursprüngliche Forderung zu üppig schien (weil „der Preiß zu hoch ist“) und er sie abmildern wollte.
Die Ausstellung präsentiert in einer interessanten Abfolge Kultur- und Mentalitätsgeschichte. Ihr ursprünglicher Plan, die Materialität der Exponate anschaulich zu machen, kann natürlich nicht richtig funktionieren, denn alles muss in Vitrinen verstaut und nichts darf angefasst werden; aber der Weg von unpersönlichen Urkunden zu den Dokumenten der Individualität wird sehr schön anschaulich. Und der Verfall der Briefkultur in unserer Zeit? Lange vor der Erfindung von E-Mail und SMS nannte Hans-Georg Gadamer die dramatische Verkürzung der Brieflaufzeiten als den Grund für den Niedergang der Briefkultur, und in dieser Ausstellung können nicht einmal Postkarten und Briefe von Autoren wie Thomas Mann oder Günter Grass über darüber hinwegtäuschen. Im Grunde sind Handy oder Smartphone das Ziel dieser Entwicklung (mit einer Brieflaufzeit von quasi Null), und so scheint es logisch, dass ein altes Telefon von Nokia – in einer Vitrine, versteht sich – das Finale der Ausstellung darstellt.
Der Katalog dokumentiert die Ausstellung; jedem Exponat sind vier Seiten gewidmet, zu denen eine Abbildung, die Transkription des Textes und seine kulturgeschichtliche Einordnung gehören. Einziger Schwachpunkt ist seine Gliederung, denn während die Ausstellung, wie bereits erwähnt, selbst chronologisch geordnet ist, werden die Exponate nach den alphabetisch aufgeführten Leihgebern vorgestellt. Logisch erscheint das nicht.
„a BRIEF history“ – eine neue Ausstellung zeigt die Kulturgeschichte des Briefes mit 30 Schätzen aus Lübecker Archiven.
Zu sehen bis zum 17. Oktober 2020
Im Brahms-Institut der Musikhochschule Lübeck, Jerusalemberg 4, 23568 Lübeck
Die Ausstellung ist von 14 bis 18 Uhr geöffnet, der Eintritt ist frei.
- a BRIEF history (Homepage Brahms-Institut)
- a BRIEF history (Homepage Lübeck hoch3)
Katalog:
A BRIEF history
Herausgegeben von: Zentrum für Kulturwissenschaftliche Forschung Lübeck.
Brahms-Institut der Musikhochschule Lübeck
Edition text + kritik im Richard Boorbeck Verlag
136 Seiten
ISBN 978-3967074031
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