Hochstaplern gelingt es in der Regel, sich auch die Sympathie des Kino-Publikums zu erschwindeln, ihrem Charme und zwielichtigem Einfallsreichtum können wir nicht widerstehen. „Tausend Zeilen“ als emotionale Underdog-Story funktioniert genau umgekehrt: Unser Herz schlägt allein für Elyas M’Barek in der Rolle des einsamen Kämpfers, der den Lügner entlarvt.
Regisseur Michael „Bully“ Herbig witterte früh das satirische Potenzial in dem spektakulären Medien-Skandal um Starreporter Claus Relotius. Raffiniert rasant jongliert der Altmeister deutscher Parodie mit den Genres. Täuschung entwickelt sich zum dramatischen Prinzip in diesem anarchischen Hochglanz-Thriller, leider schmälern Kitsch und Klamauk gelegentlich das Vergnügen.
Im Presseheft heißt es, der Film sei „inspiriert“ von Juan Morenos (49) Buch „Tausend Zeilen Lüge“, in dem der Reporter detailliert schildert, wie er den vielfach preisgekrönten Spiegel-Kollegen Claas Relotius (36) als Fälscher enttarnt. „Inspiriert“ ist als Begriff untertrieben wie auch irreführend: „Bully-Paraden“ Regisseur Herbig und Drehbuch-Debütant Hermann Florin lassen sich nur ungern eine süffige Anekdote der Vorlage entgehen, und manches, was im Kino nach Gier auf komödiantisch-knackige Pointen klingen mag, stellt sich beim Nachlesen als knallharte Fakten heraus. Welche Ironie, die oft völlig frei erfundenen Stories, so unglaublich sie klangen, wurden arglos von den Lesern verschlungen, belohnt mit den höchsten journalistischen Auszeichnungen, während die Wahrheit, das Entlarven der Fälschungen scheinbar unbewusst auf Widerstand stößt, nicht nur damals bei der Chefredaktion, sondern selbst noch heute bei uns, dem Zuschauer. Jener Relotius stellt einen Felix Krull in den Schatten, unschlagbar in seiner phantastischen Dreistigkeit. Im wahren Leben, so die Recherchen, eher eine graue Maus, die während der Ausbildung weder durch besondere Schlagfertigkeit noch brillante Texte auffiel. Auch später beim Spiegel immer wieder wohlwollend als schüchtern charakterisiert, drängte er sich nie in den Vordergrund, nicht unbedingt typisch für unseren Berufsstand. Fotos von ihm machen wenig her. Eben Typ graue Maus. Im Film wird aus Claas Relotius, der gefeierte Shooting-Star Lars Bogenius, gespielt von Jonas Nay („Schweigeminute“, Legal Affairs“), der verleiht dem Hochstapler kamerawirksame modische Smartness und ein Grinsen, in das wir viel hineininterpretieren können. Nur keine Schüchternheit.
Aus Juan Moreno wurde auf der Leinwand Juan Romero (Elyas M’Barek), der recherchiert in Mexiko für das Hamburger Nachrichtenmagazin „Chronik" (unverkennbar „Der Spiegel"), über die ständig wachsenden Flüchtlingsströme Verzweifelter, die um jeden Preis versuchen, in die USA zu gelangen. Die Chefredaktion möchte das Thema als Titelstory veröffentlichen, allerdings soll nicht Romero der verantwortliche Autor sein sondern Bogenius, der berichtet über die Gegenseite, jene selbst ernannten amerikanischen Grenzschützer, die illegale „Eindringlinge“ aus ihrem Vaterland fernhalten wollen. Romero bietet an, auch den USA Teil der Geschichte zu liefern, doch Ressortleiter Rainer M. Habicht (Michael Maertens) verbittet sich solche Eitelkeiten. Bogenius ist seit Jahren Aushängeschild der „Chronik“. Von seinen Preisen und glamourösem Edel-Feder-Nimbus profitiert nicht nur die Auflage des Magazins. Schon bald soll Habicht den stellvertretenden Chefredakteur Christian Eichner (Jörg Hartmann) beerben, der zum Chefredakteur befördert wird. Während der spanischstämmige Romero und sein österreichischer Fotograf in der gnadenlosen Hitze der Wüste Flüchtlinge interviewen, vor und hinter sich Aberhunderte von Menschen, sitzt Bogenius entspannt auf der schattigen Bank einer luxuriösen Hotelanlage mit Meerblick, den Laptop auf dem Schoß und grübelt über den Fortgang seiner Reportage.
Wieder daheim in Berlin erwartet Romero der Familienalltag mit Ehefrau Anne (Marie Burchard) und vier kleinen extrem munteren Töchtern, die permanent seine volle Aufmerksamkeit beanspruchen, was sich in diesem Moment mit seiner journalistischen Tätigkeit nur schwer koordinieren lässt. Bogenius schickt per Mail die fertige Reportage. Romero ist entsetzt, nicht nur die Art, wie der Kollege mit seinem Text umgeht, sondern auch weil Bogenius’ Darstellung in höchstem Maße unglaubwürdig klingt. Hatten die „Border Wolves“, wie sich die Gruppe patriotischer Hillbillies nennt, tatsächlich in Gegenwart eines deutschen Reporters auf Flüchtlinge geschossen oder Frauen ohne Wasser zurück in die Wüste gejagt? Von seinem Freund, dem Pressefotografen Milo (Michael Ostrowski), erfährt Romero, dass Bogenius ihn kurzfristig abbestellt hat, es gibt somit keine eindeutigen Beweise, was sich dort wirklich ereignet hat. Die Chefredaktion reagiert unwillig bis aggressiv, ihr Lieblings-Reporter scheint unantastbar. Für Juan Romero steht der eigene Ruf und die Glaubwürdigkeit einer Branche auf dem Spiel. Heimlich fliegt er mit dem Fotografen in die USA, um einen der „Border Wolves“ zu treffen. Was die beiden erfahren, übertrifft ihre schlimmsten Befürchtungen. Die Hinweise veranlassen Romero, auch andere Geschichten aus der Feder von Bogenius nachzurecherchieren. Ob Plot oder Protagonisten, der gefeierte Lichtgestalt des deutschen Journalismus hat fast alles frei erfunden. Trotz erdrückender Beweise will man bei der „Chronik“ nichts davon wissen, dem unliebsamen Kritiker droht der Rausschmiss und auch die Ehefrau zeigt wenig Verständnis, von moralischer Rückendeckung keine Spur: „Du bist ein sturer Bock, der nur Recht haben will."
„Tausend Zeilen“ bezeichnet der Regisseur als „selbstbewussten Film, der einfach macht, was er will“, in wildem Stakkato wechseln die erzählerischen Mittel, der Hochstapler durchbricht die vierte Wand, spricht den Zuschauer direkt an, Romero taucht im Bademantel während einer Redaktionskonferenz auf. „Es geht in diesem Film um die Lüge, um die Unwahrheit. Darin habe ich stilistisch eine Chance gesehen, Dinge zu machen, die ein normaler Film nie machen darf“, erklärt Herbig. Die Handlung bricht immer wieder aus, wir erfinden kleine Geschichten innerhalb des Films. Und wenn die Leute glauben, dass sie grade die Wahrheit gesehen haben, schlagen wir wieder einen Haken Wir arbeiten also mit denselben Methoden, wie der Reporter, der seine Geschichten verdreht oder erfindet." Die Genres prallen aufeinander, coole Dialoge wechseln mit eher peinlich platten Sprüchen, ungewollt lacht man, ärgert sich darüber, aber schon bombardiert Herbig uns wieder mit Einfällen aller Art. Mehr Gauner-Komödie als Medien-Satire, die komplexe Handlung ist visuell und graphisch brillant aufgepeppt (Kamera: Thorsten Breuer). Nur warum wird Elyas M’Barek dazu verdammt, den Deppen zu mimen, der in seiner Verzweiflung ein Töchterchen im Doppeldecker Bus vergisst. Die Ehe ist kurz vor dem Aus, nur mit der Frau möchte man eh nicht verheiratet sein, der Anspruch auf Gleichberechtigung sollte situationsbedingt auch seine Grenzen haben. Regisseur und Drehbuchautor hätten sich lieber noch ein wenig mehr von der Vorlage „inspirieren“ lassen sollen. Eine Spur von Tragik statt dieser plumpen Familien-Posse wäre perfekt gewesen. In „Tausend Zeilen Lüge“ gibt es einen Absatz, der besonders berührt. Nach einem Telefonat mit Ressortleiter Geyer, scheint die Situation ausweglos. Man will Moreno nicht glauben. Er schreibt: „Ich weinte. Meine Frau sah mich zum ersten Mal so, und weil sie nicht wusste, wie sie damit umgehen sollte, verließ sie daraufhin die Wohnung, ging auf die Straße und brach in Tränen aus.“ Beiden war klar, dass wenn in der Branche bekannt würde, dass Moreno aus Neid „das Wunderkind des deutschen Journalismus“ mit Dreck bewarf, es wäre das Ende seiner journalistischen Karriere gewesen. Als Szene im Film perfekt, stattdessen rügt das jüngste Töchterchen mit weit aufgerissenen Augen und Piepsstimme Papas rüde Ausdrucksweise. Manche Kalauer sind unverzeihlich. Elyas M’Barek („Fack ju Göthe“, „Der Fall Colini“) bringt den Zorn, Romeros Verzweiflung, das Gefühl von Ohnmacht eindrucksvoll rüber.
Die vielschichtige David-gegen-Goliath-Erzählung entwickelt sich zum Wettlauf gegen die Zeit, kann mit Steven Spielbergs „Catch Me if You Can“ (2002) durchaus konkurrieren. Einfach ist das Unterfangen nicht, begegnen sich die beiden Kontrahenten Romero und Bogenius doch nie persönlich, nur über E-Mails, Telefonate und SMS. Und der „liebe Lars“, wie er genannt wird, beweist hier durchaus, er kann auch boshaft sein, sonst ist Freundlichkeit seine Wunderwaffe, aber so viel hat er schon begriffen, die ist bei dem Vollblutjournalisten Moreno wirkungslos. Die wohl formulierte Häme, Herablassung und Überheblichkeit lässt den Zuschauer erschauern. Hochstapler spiegeln die Schwächen unserer Gesellschaft. Das Lachen vergeht einem, wenn Bogenius eine schwerkranke Schwester erfindet, für die er sich Tag für Tag aufopfert, immer bereitwillig Auskunft gibt über den Gesundheitszustand. Wie sie ihn alle bewundern für seine Opferbereitschaft. Bogenius hat keine Schwester, ist behütet aufgewachsen in einer Blankeneser Akademiker-Familie.
Die Unterzeile zu „Tausend Zeilen Lüge“ lautet: „Das System Relotius und der deutsche Journalismus“. An die Vorlage kann der Film auch nicht ansatzweise heranreichen. Phantastisch wie Moreno die Mechanismen entschlüsselt, derer sich der „liebe Lars“ bediente. Was war das Geheimnis seiner Stories? Er ließ die Welt auf überschaubare Größe schrumpfen, wusste um die jeweiligen Aversionen seiner Auftraggeber und Sehnsüchte der Leser, Kitsch und Klischees aus Krisenherden staffierte er atmosphärisch aus wie in einer Nicholas Sparks Romanze, bei ihm lagen schlafende Hunde immer wie tot am Straßenrand. Da waren die fiktiven Star-Interviews von Thomas Kummer schon um vieles raffinierter. Die graue Maus war ideologisch unbedenklich, eben einer, der dem zuständigen Sachbearbeiter seine Lieblingssüßigkeiten mitbringt und sich voller Mitgefühl nach dessen Problemen erkundigt. Bei so viel Menschlichkeit versagten selbst die Kontrollmechanismen der viel gelobten Dokumentationsabteilung des Nachrichtenmagazins. Das Graffiti eines syrischen Jungen entfacht den Krieg. Die Sucht nach dem Spektakulärem in griffiger Form kannte (oder kennt) keine Grenzen.
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Tausend Zeilen
Regie: Michael „Bully“ Herbig
Drehbuch: Hermann Florin
Darsteller: Elyas M’Barek, Jonas Nay, Michael Ostrowski, Jörg Hartmann, Marie Burchard
Produktionsland: Deutschland, 2022
Länge: 93 Minuten
Kinostart: 29. September 2022
Verleih: Warner Bros. Pictures Germany
Fotos, Pressematerial & Trailer: Copyroght Warner Bros. Pictures Germany
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