„Shoplifters – Familienbande”. Der sanfte Zorn des Hirokazu Kore-eda
- Geschrieben von Anna Grillet -
„Shoplifters” ist Hirokazu Kore-edas radikalster Film, die Familie bleibt zentrales Thema seines Werks, in ihr spiegelt sich die Kälte einer gnadenlos Konsum- und Karriereorientieren Gesellschaft. Was verbindet Menschen eigentlich, fragt uns der japanische Regisseur: Geld, Gaunereien oder bedingungslose Zuneigung? Kann eine fremde Frau nicht vielleicht eine viel bessere Mutter sein als die leibliche?
Um den Protagonisten des Prekariats jenen ungeschliffenen Charme geben zu können zwischen Komik, Trauer, Optimismus, Stolz, Verrat und desperater Loyalität, weicht Kore-eda von seiner gewohnten formalen Strenge wie in „Nobody Knows” ab. Mit subtiler Finesse inszeniert er ästhetisch virtuos das berührende Porträt einer Schicksalsgemeinschaft als schillerndes Beziehungsgeflecht voller Abgründe, verborgener Leidenschaften und Tragik.
Mit Handzeichen und kurzen unauffälligen Blicken verständigen sich Osamu Shibata (Lily Franky) und sein Sohn Shota (Kairi Jō) bei ihrer Diebestour durch den Supermarkt. Draußen herrscht klirrende Kälte in dieser dunklen Winternacht, die beiden haben sich noch eine Portion dampfender Kroketten gegönnt, ihre unbeschwerten Stimmen hallen wider in den menschenleeren Straßen fern des Zentrums von Tokio. Auf einem Balkon steht ein kleines dünnes zitterndes Mädchen (Miyu Sasaki), starrt sie an mit großen ängstlichen Augen. Osamu spürt die Verzweiflung des ausgesperrten Kindes. Er nimmt es ganz einfach mit heim, in jenes wohlige lärmende Durcheinander dreier Generationen auf engstem Raum.
Man ist grade beim Essen, das Schlürfen und Schmatzen hat seine ganz eigene bezaubernde Sinnlichkeit, es wird genörgelt, geraunzt, gelacht. „Ihr habt das Shampoo vergessen!”- „Warum gibt es schon wieder Spitzkohl?”. Sie machen sich lustig übereinander mit vertrauter Selbstverständlichkeit. Grandma (grandios Kirin Kiki), schneidet sich grade die Fußnägel, wie eklig ist das denn. Einige meutern, die emotionale Wärme dieser Szenen erinnert der Zuschauer, wenn sich der Film unerwartet in der letzten halben Stunde als Schuld- und Sühnedrama entlarvt, aber bis dahin genießen wir jede Minute der fragilen Idylle, versuchen uns zu orientieren in dem schmuddelig harmonischen Chaos, das doch zugleich ein raffinierter, wohl organisierter Mikrokosmos ist. Fasziniert verfolgt das zarte kleine Mädchen jenes verwirrende Treiben um sie herum, verspeist andächtig einen Leckerbissen nach dem anderen. Als Osamu Stunden später das schlafende Kind zurückbringen will, wird er Zeuge eines hasserfüllten Streits ihrer Eltern, überlegt es sich anders und kehrt um.
Nobuyo (Sakura Ando), seine Frau, reagiert wenig begeistert, will keinen Ärger, aber als sie die Brandnarben und Striemen auf dem schmächtigen Körper entdeckt, beschließen die Erwachsenen, die vierjährige Yuri bleibt bei ihnen. Ist es nicht Kidnapping? Der Gedanke wird schnell verworfen, die Kleine will doch gar nicht zurück, ihr Vater scheint zwar wohlhabend, doch hier findet sie Fürsorge, menschliche Wärme, Fröhlichkeit, erwacht ganz langsam aus ihrer Erstarrung. Nur ohne die behutsamen Betrügereien, das ständige Klauen von Lebensmitteln würde diese Idylle nicht funktionieren, jeder neue Tag ist eine Herausforderung, will überlistet sein. Nobuyo verliert ihre Anstellung als Büglerin in der Großwäscherei, Osamu die Arbeit auf dem Bau. Großmutter Hatsues Pension und Akis Job im Softporno-Stripclub sichern das Überleben. Der Zuschauer verwandelt sich ohne Skrupel zum Komplizen, entdeckt spät, dass diese Familie vielleicht gar keine ist, nur ein behelfsmäßiges Konstrukt.
„Shoplifters” erhielt in Cannes die Goldene Palme und einhellig positive Kritiken. Thriller, Parabel, Lovestory, facettenreiches Aquarell, kein Begriff wird diesem filigranen schwer zu entschlüsselndem Wunderwerk gerecht, es ist der zum Scheitern verurteilte Versuch einer Utopie, wo die herkömmliche Moral sich als fragwürdig erwiesen hat. Shota ist wenig begeistert von der Präsenz Yuris, der Teenager will keine Schwester haben und schon gar nicht bei den Beutezügen. Männer unter sich, das bringe eben mehr Spaß, Osamu stimmt zu, aber erklärt ihm geduldig , dass es für die Kleine ein gutes Gefühl sei, selber etwas beitragen zu können. Der vierjährigen Yuri hat sich eine magische unbekannte Welt eröffnet, wo die Großmutter liebevoll ihre Wunden versorgt, Ängste heilt, sie ihn Schutz nimmt, wenn sie nachts ins Bett macht, eigentlich für alles einen Rat weiß. Niemand schlägt oder quält sie mehr, im Gegenteil. Bewundernd verfolgt das Kind jede Bewegung von Shota, wenn er etwas stibitzt und schon bald imitiert sie das Ritual des Jungen. Ganz langsam entwickelt sich die Freundschaft zwischen ihnen, beim Stehlen kostspieliger Angelruten bewährt sie sich schon als Dritte im Bunde, zieht geschickt den elektrischen Stecker und der Alarm bleibt aus.
Nur Kinder, die zuhause nicht lernen können, müssen in die Schule gehen, erfährt Yuri von ihrem neuen Bruder, der Bücher mit Begeisterung verschlingt. Der gesetzeslose Freiraum braucht Legitimationen, was in einem Laden liegt, gehört noch niemandem. Kore-eda verklärt weder seine Anti-Helden noch die Armut. Osamu Shibats Optimismus ist ansteckend, seine selbst gebastelte Philosophie der Ersatz für das Unerreichbare, Geld, Bildung, Sicherheit, eine Zukunft. Der emsige gerissene Gauner lehrt die Kids stehlen. Warum, fragt ihn am Ende ein Beamter. „Was sonst hätte ich ihnen beibringen können.” Diese Antwort schmerzt ihn selbst am meisten. Eine Gesellschaft zwischen Rezession und Umbruch, sie verleugnet die Ärmsten der Armen, nackte Wut packt den 56jährigen Autorenfilmer über so viel himmelschreiende Ungerechtigkeit, und doch erzählt er mit scheinbarer Beiläufigkeit fern jeder Sentimentalität davon. Es zerreißt einem das Herz. Der Zuschauer muss sich langsam an die Wahrheit herantasten, Kameramann Ryuto verstellt uns manchmal einen Teil der Sicht, es ist wie ein unerlaubter Blick hinter die Kulisse. In den hinreißenden fast abstrakten Kompositionen sind unsere sechs Protagonisten manchmal nur noch ein winziger Punkt in der Gegenwart. Ihnen allen hat Grandma Unterschlupf gewährt in dem altmodischen winzigen Bungalow, Relikt längst vergessener Traditionen, er liegt inmitten anonymer weiß getünchter Wohnblocks. Der winzige Garten hinter ihrem Haus mit seiner wundervoll wilden Dschungelartigen Vegetation birgt ein tödliches Geheimnis.
Zusammen fahren alle für einen Tag ans Meer, Yuri ist ungeheuer stolz auf ihren neuen Badeanzug, auch beim Schlafen hat sie ihn anbehalten, ausgelassen toben die fünf in den Wellen, Grandma sitzt am Strand, beobachtet sie und sagt leise „Danke.” Kore-eda nimmt sich viel Zeit beim Erzählen: ein Feuerwerk, die Familie sitzt draußen vor dem winzigen Haus, sehen können sie keine von den Raketen, die in den Himmel schießen, aber die Geräusche beschwören in ihrer Fantasie das Spektakel, sie haben zusammen gelernt mit unendlich wenig glücklich zu sein. Sie sind selbstbewusst, stolz auf ihre Fähigkeiten, stibitzen, lügen, betrügen aus Überzeugung ohne jedes Schuldbewusstsein, Grandma ist eine wahre Meisterin der Verstellung. Jeder von ihnen, Kinder wie Erwachsene, hat seine ganz eigene Geschichte voller Geheimnisse. Und so entdeckt Aki die Liebe in der Umarmung eines taubstummen Kunden. Aber warum will Shota Osamu nicht Papa nennen? Der grauhaarige Besitzer eines altmodischen Lädchens reicht dem schmächtigen Teenager Zuckerstangen. Sie sind geschenkt, aber er soll seine kleine Schwester nicht zum Diebstahl anstiften, fügt der alte Mann hinzu, etwas zerbricht in dem Jungen. Er trifft eine folgenschwere Entscheidung. Am Ende quält alle die Vorstellung, versagt zu haben, Verrat durch mangelnde Loyalität.
Kann eine Fremde nicht vielleicht eine viel bessere Mutter sein als die leibliche? Nobuyo beweist es, selbst als die fragile Utopie längst zerstört ist und sie im Gefängnis.
Originaltitel: 万引き家族 Manbiki kazoku, internationaler Titel: Shoplifters
Regie, Drehbuch, Schnitt: Hirokazu Kore-eda
Darsteller: Lily Franky, Sakura Ando, Mayu Matsuoka, Kilin Kiki, Kairi Jyo
Produktionsland: Japan, 2018
Länge: 121 Minuten
Kinostart: 27.12.2018
Verleih: Wild Bunch Germany
Trailer, Pressematerial & Fotos: Copyright Wild Bunch Germany
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