Es ist zweifellos die verrückteste Ausstellung, die jemals in der Hamburger Kunsthalle zu sehen war: In „Cotton Under My Feet: The Hamburg Chapter“ ergänzt der libanesisch-amerikanische Künstler Walid Raad Kunstwerke des Museums um eigenen Arbeiten und baut um seine Interventionen herum Geschichten, die den Märchen aus „Tausend und einer Nacht“ alle Ehre machen.
Für Liebhaber überschäumender Fantasie ist dieser aufregend-verwirrende Parcours aus Fakten und Fiktion ein hinreißendes Vergnügen.
Eines vorweg: Walid Raads Projekt, ursprünglich für das Museum Thyssen-Bornemisza in Madrid geschaffen und in Kooperation von Hamburger Kunsthalle und dem Sommerfestival auf Kampnagel 2023 um ein „Hamburg Chapter“ erweitert, ist zwar auch ohne diesen Ausnahmekünstler zu erleben (per Audioguide und kostenlosem Booklet), doch erst die Live-Performance (auf Englisch) des charismatischen Geschichtenerfinders und Menschenfängers macht diese Ausstellung zum unvergesslichen Erlebnis.
Seinem Publikum gibt Walid Raad gleich zu Beginn der 80minütigen Tour eine Warnung mit auf den Weg: „Ich werde Sie mit so vielen Namen und Daten konfrontieren, die Sie alle nicht hören wollen“. Stimmt. Schon nach fünf Minuten schwirrt einem der Kopf und nach weiteren fünf Minuten gibt man auf, sich nach dem Wahrheitsgehalt der Storys zu fragen. Es ist auch viel genussvoller, sich einfach mitreißen zu lassen in diesen Strudel internationaler Verflechtungen und historischer Verwicklungen von Politik und Finanzwelt, von familiären und geopolitischen Machtbestrebungen. In seiner Führung durch die Ausstellung kommt der Künstler von Hölzchen auf Stöckchen. Von Hercules, dem Chefkoch George Washingtons, zu den Zusammenhängen zwischen Zuckerhandel und Sklaverei; vom Bürgerkrieg im Libanon bis zur Klimakrise; von der Cooper Union, dem College in Manhattan, an dem Walid Raad lehrt, bis zu Abraham Lincoln und zurück. Dabei porträtiert der Künstler reale wie fiktionale Personen, internationale Sammler, Kunsthändler und Unternehmer, die alle irgendwie miteinander verbunden sind. Und immer wieder taucht eine geheimnisvolle Restauratorin namens Lamia Antonova auf – seine Hommage an Irina Antonova (1922-2020), die langjährige Direktorin des Moskauer Puschkin-Museums? - die spezielle Restaurierungsmethoden für Bilderrahmen mit psychischen Defekten entwickelt hat. (Wirklich erstaunlich, woran Rahmen so leiden können, die Krankheitsbilder reichen von Kleptomanie über Tourette, bis hin zu unspezifischer sexueller Dysfunktion).
En Passant führt Walid Raad dabei die Fähigkeit von Engeln, sich selbst zu regenerieren vor Augen, Pokale, die Würmer und Kakerlaken anziehen, „die grandiose Vampirbibliothek“ der Hamburger Kunsthalle, das geheime Treiben der Gremlins in der Hamburger Kunsthalle, und und und.
Es ist dieser unglaublich dichte, verblüffend intelligent verwobene Mix aus historisch verbürgten Tatsachen und überbordender Imagination, der Walid Raads Tour d’Horizon durch Kunst- Sammlungs-Politik- und Finanzgeschichte so amüsant und unterhaltsam macht. Im Zentrum steht dabei Hans Heinrich „Heini“ Thyssen-Bornemisza de Kászon und seine sagenhafte Kunstsammlung (die zweitgrößte private Sammlung weltweit), die der Baron 1992 Spanien vermachte (soweit stimmt es noch). Zuvor hatte Heini Hamburg als Zielort anvisiert, um sein Caspar David Friedrich-Gemälde »Ostermorgen« mit dessen künstlerischem Zwilling „Frühschnee“ in der Hamburger Kunsthalle wieder zusammenzuführen (eher unwahrscheinlich). Dem Sammler gelang es zwar nicht, die Bilder wieder zu vereinen, dafür schenkte er Hamburg angeblich mehrere Kunstwerke, die nie gezeigt wurden. Unter anderem einen Orientteppich aus dem 16. Jh., mit mysteriöser Eigenschaft: Er ist schwerer als sein Gewicht. Das alles blieb der Öffentlichkeit über Jahrzehnte hinweg verborgen. Bis…? Ja, natürlich: Bis der 1967 in Chbanieh/Libanon geborene Walid Raad nach dem Verbleib des Teppichs suchte, die Spur nach Hamburg fand und Kunsthallenchef Alexander Klar sein Okay gab, diese Ausstellung zu präsentieren. Was für ein Glücksfall für die Hansestadt!
„Walid Raad. Cotton Under My Feet: The Hamburg Chapter“
Zu sehen bis 11. November 2023 in der Hamburger Kunsthalle, Glockengießerwall, 20099 Hamburg
Tickets für die Performance-Touren ausschließlich über den Webshop Kampnagels.
Führungen im Oktober: 5.10., 18 Uhr. 6.10.,16 Uhr. 7.10. 12/16 Uhr. 8.10. 12/16 Uhr.
Weitere Informationen (Hamburger Kunsthalle)
Kommentar verfassen
(Ich bin damit einverstanden, dass mein Beitrag veröffentlicht wird. Mein Name und Text werden mit Datum/Uhrzeit für jeden lesbar. Mehr Infos: Datenschutz)
Kommentare powered by CComment