Bildende Kunst
Gerhard Richter. Birkenau

Das Museum Frieder Burda in Baden-Baden präsentiert den vierteiligen Bilderzyklus „Birkenau" von Gerhard Richter. Das monumentale Werk von 2014 entstand nach Fotografien aus Auschwitz-Birkenau, dem größten Konzentrations- und Vernichtungslager der Nationalsozialisten.
1944 von jüdischen Häftlingen heimlich aufgenommen und als Negative aus dem KZ geschmuggelt, zeigen die Schwarz-Weiß-Aufnahmen Frauen auf dem Weg in die Gaskammern, Berge von Toten und rauchende Scheiterhaufen mit brennenden Leichen. Kann, darf ein Künstler Dokumente des Holocaust im Kontext der Malerei nutzen? Wie verarbeitet Gerhard Richter, immerhin der teuerste zeitgenössische Künstler, diese unfassbaren Grausamkeiten bildkünstlerisch in seinen Werken?

Richters vier hochformatige, abstrakte Ölgemälde hängen im zweiten Obergeschoss des Museums. Sie tragen die Titel 937/1–4. Die Nummern beziehen sich auf die 937. Bildgruppe seines Werkverzeichnis „Atlas". Diese von Richter seit Anfang der 1960er-Jahre archivarisch geführte Sammlung von historischen Fotografien, Familien- und Urlaubsfotos sowie Zeitungsausschnitten, umfasst heute über 8.000 Einzelmotive. Mitte der Sechzigerjahre benutzt er erstmals Fotografien als Vorlage für eine Werkgruppe. Gemälde wie „Onkel Rudi", 1965, oder „Ema (Akt auf einer Treppe)" von 1966 schreiben Kunstgeschichte und machen den Maler weltberühmt. Seit etwa fünfzig Jahren sammelt er Fotos und Zeitdokumente über die Konzentrationslager, den Holocaust und die Shoah, die Ermordung europäischer Juden in den Vernichtungslagern.

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Als Annäherung an das Thema Birkenau dienen vier historische Fotografien vom Gelände um das Krematorium V. Die unscharfen Dokumente zeigen nackte Frauen, die bewacht von SS-Schergen in die Gaskammer getrieben werden, Berge von Leichen, ermordete Menschen auf brennenden Scheiterhaufen, den düsteren Birkenwald. Überliefert ist, dass ein griechischer Jude namens Alex die Kamera bedient und dass ein weiterer Häftling, David Szmulewski, bei der Aktion geholfen hat. Die Negative schmuggelte Helena Datón, eine Angestellte der SS-Kantine, in einer Zahnpastatube versteckt aus dem Lager Auschwitz heraus. Die Fotos, veröffentlicht 2007 in dem Buch „Bilder trotz allem" des Pariser Kunsthistorikers Georges Didi-Huberman, bilden die Grundlage für Richters Birkenau-Zyklus.

Der Besucher, der weiß, worauf sich der Bilderzyklus bezieht, dürfte überrascht sein. Wo sind die Fotografien aus dem KZ? „Wenn ich Fotos abgemalt hätte, das wäre Wahnsinn gewesen, das kann man nicht machen", so der Künstler. Den Horror von Auschwitz-Birkenau könne er nicht malen. Richter wählt die Abstraktion. Dennoch, angefangen hat er mit der Übertragung der Fotografien auf die weiße Leinwand. Die grauenvolle Tragödie versteckt er unter bis zu fünf Farbschichten. Mit einem breiten Spachtel trägt er die Farben auf: Schichten in Braun-, Schwarz- und Grautönen, die Farbe Rot vom dunklen Krapp bis zum „Caput mortuum", ein violettstichiges Rot, ein modriges Grün sowie abschließend schwarz-graue Schichten, die an Ascheregen erinnern. Mit dem Richtscheit oder einer Rakel bearbeitet Richter die einzelnen Farbflächen. Er malt, spachtelt, kratzt, reißt die Schichten immer wieder auf. Horizontale und vertikale Spuren bilden Gitternetze. Schwarz und Grau verschiedener Nuancen dominieren das Farbenspiel, dazwischen drängen Rot-Grün-Töne an die Bildoberfläche. Haben diese abstrakten Gemälde noch einen Bezug zu den Fotografien? „Das Bild ist dem Foto gewidmet", erklärt Richter.

Auf der gegenüber liegenden Wand hängen fotografische Reproduktionen, in gleicher Größe wie die Originale. Jedes der Gemälde ist in vier Teile gegliedert, hinter Acrylglas montiert. Sie ermöglichen die Erfassung des Bildes in kleineren Segmenten. Vier Tafeln mit 93 Detailaufnahmen aus dem Zyklus vermitteln dem Besucher eine neue Leseweise. Das Auge des Betrachters versucht die Fotografien zu erkennen. Vergeblich!

In dem Ausstellungsraum wird Ivan Lefkovits neues Buch „Mit meiner Vergangenheit lebe ich" vorgestellt sowie die Lebensgeschichte von fünfzehn KZ-Überlebenden, welche mit Bildausschnitten der Birkenau-Gemälde illustriert sind.

Die Methode der Detailbetrachtung nutzt der Künstler bereits bei dem im Nebenraum ausgestellten Werk „Halifax". 1978 fotografiert Richter die Oberfläche des farbigen Ölbildes „Abstraktes Bild" (früherer Titel: Halifax, WVZ 432-5). Die 128 Einzelaufnahmen, aufgenommen aus unterschiedlichen Blickwinkeln, Entfernungen und bei wechselnden Lichtverhältnissen, sind als schwarzweiße Komposition in Form von acht gerahmten Tafeln neu arrangiert.

Als fotografisches Medium benutzt Richter sein abstraktes Gemälde Nr. 648-2 von 1987 für das Künstlerbuch „War Cut". Im Mai 2002 fotografiert er im Musee d`Art Moderne de la Ville de Paris 216 Details aus dem Bild. Er kombiniert diese Detailaufnahmen im Format 10 x 15 cm mit 165 Textausschnitten, die am 20. und 21. März 2003 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienen sind und den Beginn des Irak-Kriegs markieren. Donald Rumsfeld wird zitiert „Mit einem freundlichen Wort und einer Knarre wirst du mehr erreichen als nur mit einem freundlichen Wort." Präsident Bush versichert: „Wir kommen voller Achtung in den Irak." Zeitungstexte, leere Flächen und abstrakte Bilddetails in leuchtenden Farben bilden ein streng komponiertes Werk. Bis zum Buchende – Cut!

Dokumente und Fotografien aus Richters Atlas-Sammlung ergänzen die Serien „Halifax" und „War Cut". Sie belegen das Grauen in den Vernichtungslagern, den Holocaust und die Shoah, die Ermordung europäischer Juden. Von den rund sechs Millionen Opfern des Holocausts, sind über eine Million Juden in Birkenau ermordet worden.

Schließt sich mit dem Werk „Birkenau" des heute 84-jährigigen Malers der Kreis zu den Bildmotiven in den Sechzigerjahren? Zu seinen persönlichen Erinnerungen an den NS-Terror? Zu Tante Marianne, gemalt im Jahr 1965, die 1945 in einer psychiatrischen Anstalt der Nazis ermordet wurde? Zu Onkel Rudi, 1965, den Bruder der Mutter, der im Krieg fiel, als Richter zwölf Jahre alt war? Zu Heinrich Eufinger, Schwiegervater und Direktor der Frauenklinik Dresden-Friedrichstadt, der für die Zwangssterilisationen geistig oder körperlich Behinderter verantwortlich war? Die Antworten bleiben offen.

Begleitend zur Ausstellung „Gerhard Richter. Birkenau" zeigt die Bilderschau im Museum Abstraktionen von Gerhard Richter im Kontext seiner Zeitgenossen. Richters abstrakte Malereien, darunter „Strip" von 2011, „Abstraktes Bild, See", 1997, oder „Wellblech" aus dem Jahr 1967 und „Vorhang III", 1965, korrespondieren mit Arbeiten von den Blinky Palermo, Imi Knoebel, Sigmar Polke, Andy Warhol. Mit den Wand- und Bodenplastiken von Carl Andre, Sol LeWitt sowie den abstrakten Expressionisten Clyfford Still, Adolph Gottlieb und Willem de Kooning. Die Schau belegt die unterschiedlichen Positionen der Künstler zur Abstraktion, zu ihrer Ablehnung jeglicher Gegenständlichkeit.

Vor einem Jahr hat Richter seinen Werkzyklus „Birkenau" in der Galerie Neue Meister seiner Geburtsstadt Dresden vorgestellt. Das Werk sorgte für Irritationen und führte zu kontroversen Diskussionen. Nutzt Richter den historisch belasteten Bildtitel, um den eigenen Marktwert im Kunst-Business zu steigern? Im Baden-Badener Museum wird jetzt der Birkenau-Zyklus neu konzipiert und als eigenständige Präsentation vorgestellt.

Das Museum Frieder Burda dürfte inzwischen vielen Kunstfreunden bekannt sein. Im Oktober 2004 eröffnet, zählt das Haus heute zu den renommierten privaten Kunstsammlungen Europas. Bereits Ende der 1960er-Jahre beginnt Frieder Burda (*1936), Sohn des Verlegers Franz Burda und dessen Ehefrau Aenne, moderne und zeitgenössische Kunst zu sammeln. Seine spektakuläre Sammlung umfasst heute rund tausend Werke - Malerei, Skulptur, Objektkunst, Fotografien und Graphiken. Sie spannt einen Bogen von der klassischen Moderne, über entartete Kunst bis hin zur Pop Art und Postmoderne. Die Künstlernamen lesen sich wie das Who is Who der Kunstgeschichte, darunter Pablo Picasso, Jackson Pollock, Georg Baselitz, Louise Bourgeois und Niki de Saint Phalle. Auf rund 1000 Quadratmetern Ausstellungsfläche werden die Exponate im Wechsel mit Sonderausstellungen einer interessierten Öffentlichkeit vorgestellt.

Nicht weniger spektakulär ist das nach den Plänen des New Yorker Architekten Richard Meier entworfene Museum an der Lichtentaler Allee: ein schlichter Kubus mit strahlend weißer Fassade und hohen Fensterfronten. Begehbare Rampen erschließen dem Besucher das Souterrain, die großen Ausstellungsräume sowie die im Mezzanin- und Obergeschoss liegenden Galerien. Über ein Oberlichtband gelangt Tageslicht in die oberste, lichtdurchflutete Ausstellungsebene, die durch Lamellen-Vorhänge reguliert werden kann. Im ersten Stock verbindet eine gläserne Brücke den Neubau mit dem neoklassizistischen Altbau der Staatlichen Kunsthalle Baden-Baden zu einem einheitlichen Ensemble.

Die moderne Museums-Architektur bildet einen eindrucksvollen Rahmen für die Ausstellung Gerhard Richter „Birkenau". Die überaus sehenswerte Schau ist bis zum bis 29. Mai 2016 im Museum Frieder Burda, Lichtentaler Allee, 76530 Baden-Baden zu besichtigen.
Die Öffnungszeiten sind Di-So von 10-18 Uhr, Feiertags (auch Mo) geöffnet.
www.museum-frieder-burda.de


Abbildungsnachweis:
Header: Gerhard Richter, Birkenau, 2014; Privatsammlung © Gerhard Richter, 2016; Foto: Volker Naumann, Schönaich
Galerie:
01. Installationsansicht, Museum Frieder Burda; Foto: Volker Naumann, Schönaich
02. Gerhard Richter, Birkenau, 2014; Privatsammlung © Gerhard Richter, 2015
03. Gerhard Richter, Birkenau, Fotografien. Foto: Christel Busch
04. Gerhard Richter, Abstraktes Bild, 1992; Museum Frieder Burda, Baden-Baden © Gerhard Richter, 2016; Foto: Volker Naumann, Schönaich
05. Gerhard Richter, Ausschnitt, 1971; Sammlung Böckmann, Neues Museum in Nürnberg © Gerhard Richter, 2016; Foto: Neues Museum in Nürnberg (Annette Kradisch)
06. Ausstellung "Gerhard Richter. Birkenau", Installationsansicht, Museum Frieder Burda; Foto: Volker Naumann, Schönaich
07. Gerhard Richter, Birkenau, War Cuts. Foto: Christel Busch
08.Ausstellung "Gerhard Richter. Birkenau", Installationsansicht, Museum Frieder Burda; Foto: Volker Naumann, Schönaich

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