Bildende Kunst
Kunst beim Reeperbahn Festival: Kreative Umnutzung des urbanen Raums

Baustellenzäune oder Parkplatzflächen: Das Hamburger Reeperbahn Festival findet seine Ausstellungsräume an den ungewöhnlichsten Orten.
Fazit eines viertägigen Kunstrundgangs durch Sankt Pauli.

Man kann sie schon von Weitem sehen: Fünf riesige Leinwände, die am Spielbudenplatz aufgespannt worden sind, gleich vor der Baustelle der ehemaligen Esso-Häuser. Davor drei Hebebühnenlifte, auf denen sich die Künstler entlang der knapp 70 Meter langen Fläche bewegen und in großen Strichen den Entwurf für das nächste Bild zeichnen: „City Canvas“ heißt das großformatige Graffiti-Werk der temporär aufgebauten Freiluft-Galerie, das hier als eines der zahlreichen Kunstprojekte im Rahmen des diesjährigen Reeperbahn Festivals entsteht.

Kreative Aneignung und Umnutzung des urbanen Raums vor den Augen der Betrachter, das geschieht bei gleich mehreren künstlerische Arbeiten rund um den Spielbudenplatz: Schließlich ist dieser nicht nur das geografische Zentrum des Reeperbahn Festivals, sondern auch aktuelles Paradebeispiel für die erhitzten Debatten um Nutzung von Hamburger Stadtraum. Die Gestaltung von Viertel und Standort wird daher in wechselnden Kurzzeitprojekten thematisiert: Die Berliner Künstler „Mr. Galle & Josh“ zum Beispiel basteln mit buntem Klebeband an einem Tape-Art-Würfel, das Hamburger Mädchenduo „Adameva“ gestaltet die Bauzäune rund um den Platz neu, und die beiden Comic-Künstler von „Pure Fruit“ zeichnen gemeinsam an einer zeitweise aufgestellten Wand. Umfunktioniert worden ist dieses Jahr aber auch der Medienparkplatz vor dem Sankt Pauli Stadion, bei dem Schiffscontainer als Minigalerien dienen, oder die frisch eröffnete Rindermarkthalle, hinter deren blankpolierter Fassade sich zunächst ein Konsumtempel mit Supermarkt- und Drogeriefiliale, Schnellimbissbuden und Kaffeeketten zu erstrecken scheint, aber auf der Gebäuderückseite Platz für die StreetArt School gemacht hat, die sich gezielt den Arbeiten der Graffiti-Szene widmet. Junge, urbane Kunst abseits vom Mainstream, aber mitten im Kiez und ganz nah dran an der Nachwuchsszene: Das hat sich das „Art“-Programm des Reeperbahn Festivals also auch dieses Jahr wieder auf die Fahnen geschrieben – und entspricht damit dem Geschmack des anwesenden subkultur-affinen Konzertpublikums.

Galerie - Bitte Bild klicken
Vom Zentrum nach außen vorarbeiten – getreu diesem Motto startet unser Kunstrundgang durch die verschiedenen Ausstellungsräume von Sankt Pauli beim Festivalzentrum am Spielbudenplatz. Gewohnheitsmäßig muss hier täglich der neu ausliegende Programmplaner eingesammelt werden, der Besuchern zumindest ansatzweise eine schnelle Übersicht über Start- und Endzeiten der einzelnen Musik-, Kunst-, Film-, Show- und Party-Veranstaltungen ermöglicht (ein Kunststück, was die grafisch überambitionierte und dadurch heillos überladene Festival-Website leider immer noch nicht zustande bringt). So gerüstet geht es zur ersten Station, die beiden Häuser „Hundertzehn“ und „Hundertvierzehn“ auf der Reeperbahn, bereits etablierte Ausstellungsorte der HAW- und HfbK-Studenten. Beide Häuser werden über mehrere Stockwerke von unterschiedlichen Projekten hinweg bespielt, sodass man schnell die Übersicht verliert, welche Ausstellung man sich eigentlich gerade anschaut – was aber dem Kunsterlebnis keinen wirklichen Abbruch tut. Los geht es bei der „Hundertzehn“: Begrüßt werden die Besucher gleich im dunklen Treppenhaus von der Diashow „Reflections“ von Hanna Lenz, bei der die Künstlerin ‚Kleiderzwillinge‘ fotografiert hat, also Menschen, die gemeinsam unterwegs und dabei gleich angezogen sind. Die skurrilen Motive sorgen für allgemeine Erheiterung – und ebenso schnell für den ersten Treppenstau von verweilenden Betrachtern und weiterdrängenden Besuchern.

Daher geht es weiter ins nächste Stockwerk, wo das vierköpfige Hamburger Künstlerkollektiv „Der 6te Lachs“ die Gruppenausstellung „Red Laich“ zeigt. Auch hier geht es humorvoll zu: Zu sehen ist unter anderem der „Lachsomat“, ein interaktiv zeichnender Passbildautomat, ebenso wie verschiedene Collagen, Skulpturen, Raum-Installationen und bunte Werke der Malerei, die an Pop-Art und Comic-Illustration erinnern. Besonders gut gefällt dabei die großformatige Klebearbeit von Grumbowski und die in der Badewanne versenkte rote Puppe. Bei so einem starken Auftakt haben es die anderen Arbeiten im Haus vergleichsweise schwer. Nach einem kurzen Zwischenstopp einem Raum mit politisch bedruckten Betttüchern geht es in den vierten Stock zu den Arbeiten „reeper reeper zwei“, die unter dem Motto ‚Bewegung‘ stehen und sich dem Thema in Grafiken und Zeichnungen, aber auch Skulptur, Trickfilm und Animation widmen.

Das naheliegende Haus „Hundertvierzehn“ wartet dagegen mit mehreren Highlights in Sachen interaktiver Medien-Kunst auf: Während Janina Schlichte eine Lichtinstallation zeigt, bei denen ineinander gefaltete Kuben zur live eingespielten Musik bunt bestrahlt werden, reagiert die Spiegel-Installation von Si-Min Fung auf menschliche Bewegung und will so über Beobachtung und Überwachung nachdenken. Nebenan zeigt Benjamin Wiemann in Tinte getränkte Zuckerkristalle in Dia-Rahmen, welche an Wand und transparente Hänge-Flächen projiziert werden. Und in der darüber liegenden Ausstellung „Happy Eyes – Ein Kunstalbum“ ist eine visuelle Playlist geschaffen werden, wobei akustisch sofort die knatternde Faxmaschine auffällt, die einen aneinandergeklebten Streifen Papier in Endlosschleife bedruckt. Altbewährtes wird in beiden Häusern beibehalten: Die Nachwuchskünstler sind hier vor Ort und plaudern beim gemütlichen Feierabendgetränk mit ihren Besuchern über ihre Arbeiten.

Andere Kunst-Stationen des Reeperbahn Festivals sind wesentlich schneller erledigt. Die Fotografien von Pascal Kerouche im „gewerbe5“ zum Beispiel, der verschiedene Prominente unter dem Motto abgelichtet hat, was gewesen wäre, wenn sie nicht berühmt geworden wären: So sieht man Nico Suave als Postbote, Matz Mutze als Zahnarzt, Samy Deluxe als Anzugträger und Kris von Revolverheld im Tennis-Outfit – eine nette Grundidee, die sich aber über die Promi-Präsenz hinaus nicht weiter trägt. Interessanter wird es ein paar Häuser in der „K-OZ Galerie“, wo die Foto-Ausstellung „Recorded“ einen Einblick in die unabhängigen Schallplattenläden-Szene Hamburgs gibt und so deren mühsamen Überlebenskampf in der Krise des Musikmarkts illustriert. Auch wenn das Thema ein wenig rührselig anmutet, regen die eindrücklichen Bilder und Geschichten, die es dort auch als Bildband zu kaufen gibt, durchaus zum Nachdenken an.

Überhaupt, die Fotografie: Trotz stark vertretener Kategorie beim diesjährigen Reeperbahn Festival können mehrere der groß angekündigten Projekte kaum überzeugen. Allerdings aus unterschiedlichen Gründen: Die Arbeiten des bekannten Festivalfotografen Peter Koudstaal zum Beispiel, die von Exzess und Schlammschlachten der besuchten Musik-Events sprechen, sind so kleinformatig und dicht gehängt, dass ihre ursprünglich expressive Wirkung gegen Null tendiert. Und die Jubiläumsausstellung zu Ehren des populären Schlagermusikanten Ernst Bader beschränkt sich auf eine enttäuschend spärliche Ecke des Sankt Pauli Museums. Lokalpatrioten kommen da noch eher bei Frank Egel auf ihre Kosten, der in zahlreichen Polaroid-Schnappschüssen das Leben auf Sankt Pauli einfängt – und dabei die schönen Momente in alltäglichen Begebenheiten zu entdecken weiß.

In Sachen Bildender Kunst kann das Reeperbahn Festival dann wieder mit einer beeindruckenden Vielgestaltigkeit der Arbeiten und der Internationalität der darstellenden KünstlerInnen punkten. Das deutsch-chilenische Duo Julia Wenzel und Pau Quintanajornet zeigen in der „Möwe Sturzflug“ gemeinsam ihre Ausstellung „Zelten gehen“: scharf gestochene Zeichnungen, denen man die Liebe zur Tattoo-Kunst anmerkt. Provokanter wird es bei den Arbeiten des Franzosen Nicolas Frémion in der „affenfaust“, der die in feingliedriger Pünktchen-Tusche-Optik dargestellten obszönen Körperszenen mit Motiven koreanischer Volkskunst mischt. Ähnlich verstörend, aber in der Ästhetik und Umsetzung ganz anders gestaltet ist die gemeinsame Ausstellung „Weapons of Mass Seduction“ von Victor Castillo und Alex Diamons, die apokalyptische Comicfigur-Szenarien neben brachiale Holzschnitt-Arbeiten stellt.

Nach vier Tagen Kunstmarathon ist klar: Die interessantesten Werke verstecken sich meist in den kleineren, weniger bekannten Ausstellungsorten des Reeperbahn Festivals. Mit etwas Ausdauer sind hier wirklich gute Arbeiten von teilweise noch weitgehend unbekannten Künstlern zu entdecken. Einzig wirkliches Manko ist dieses Jahr der Festivalplaner, der mit Druckfehlern bei Adressen und der ungenauen kartografischen Punktmarkierung der Veranstaltungsorte das Auffinden der Events vor allem für Ortsunkundige deutlich erschwert. Kurioser Nebeneffekt: Der Blick in den aufgefalteten Plan kann zum gegenseitigen Erkennungsmerkmal der Festivalbesucher werden, sodass die nächste Location dann gleich gemeinsam ge- und besucht wird.


Abbildungsnachweis:
Header: City-Canvas Spielbudenplatz/Hamburg
Galerie.
01. Mr. Galle&Josh A Tape Art Intermezzo Cube vorm Jazz-Cafe
02. Der 6te Lachs RedLaich im Hundertzehn
03. Hanna Lenz Reflections im Hundertzehn
04. Pascal Kerouche Almost Not Famous im gewerbe 5
05. Peter Koudstaal Music brings us together im Gudberg
06. Hamburg hoch11 Oben ist noch Luft Medienparkplatz
07. Victor Castillo&Alex Diamond Weapons of Mass Seduction im Holstenhof
08. 08 100 Jahre Ernst Bader St. Pauli Museum

Alle Fotos: Mirjam Kappes

Kommentar verfassen
(Ich bin damit einverstanden, dass mein Beitrag veröffentlicht wird. Mein Name und Text werden mit Datum/Uhrzeit für jeden lesbar. Mehr Infos: Datenschutz)

Kommentare powered by CComment


Wir benutzen Cookies

Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Einige von ihnen sind essenziell für den Betrieb der Seite, während andere uns helfen, diese Website und die Nutzererfahrung zu verbessern (Tracking Cookies). Sie können selbst entscheiden, ob Sie die Cookies zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht mehr alle Funktionalitäten der Seite zur Verfügung stehen.