KlassikKompass – Musik im Mittelalter: Tanz der Bauern und Pomp der Bürger (Teil 3)
- Geschrieben von Herby Neubacher -
Die franco-flämische und italienische Schulen wurden zu Triebfedern der Entwicklung der mittelalterlichen Musik hin zur Blüte der Renaissance.
Es waren besonders die Fürstenhöfe mit ihrem reichen Kulturleben, die eigene Musiker und Kapellen unterhielten – im Gegensatz zum frühen Mittelalter, als die Troubadoure noch von Hof zu Hof zogen.
Die Zeit hatte sich stark verändert – die Kräfte waren verschoben. Das alte Ständesystem des Frühmittelalters – ‚Kaiser, König, Edelmann, Ritter, Bauer, Bettelmann’ – war zugunsten der Grafen, Herzöge und Bürger ausgegangen.
Immer mehr eigenständige Fürstentümer entstanden – der Kaiser verlor seine absolute Macht – die regionalen Fürsten und Bürger regierten – oft durch Handel und eigene Münze reich geworden, wie die vielen italienischen Grafschaften und auch die Adeligen in Frankreich und Flandern.
Wir wollen zunächst einige der fürstlichen Höfe musikalisch besuchen.
Zuerst den Hof des Grafen Robert II. von Artois genannt ‚der Fromme’ (1250-1302), König von Sizilien.
Adam de la Halle (1237-1306 ) auch ‘Adam le bossu’ (Der Bucklige) genannt, zählte damals zu den bekanntesten Trouvères. Er wurde 1271 Ménestrel des Grafen in Neapel und trat als Autor von Theaterstücken hervor.
De Halles Singspiel ‚Le Jeu de Robin et de Marion’ (Das Spiel von Robin und Marion), dem ersten berühmten Liebespaar der europäischen Literatur, ist hier 1284 entstanden.
Qual e maggior la fiamma
Ch’io riverso dal petto ch’esce die questa luce
Anzi di questa fiamma?
Et che piu e piu m’arde et piu m’infiamma
Sempre quanto piu luce
Ond’io pur chiamo il fin de mia luce
Aus dem ‘Concerto delle donne di Ferrara’ – dem Frauen Musik-Ensemble des Grafen Alfonso d’Este di Ferrara (1476-1534)
Was ist die stärkere Flamme?
Die von meiner Brust ausstrahlt?
Oder die von dieser Sonne ausgeht?
Kaum entzeundet sich diese Flamme
Verbrennt sie mich mehr und mehr
Und verbrennt mich weiter je mehr sie scheint
Macht mich bitten mein Licht zu löschen.
(Deutsche Übertragung)
Die franco-flämische Gruppe ‚Le Musiciens de Saint-Julien’ unter ihrem Leiter Francois Lazarevitch haben sich diesen frühen Singspiels angenommen und mit dem ganzen breiten Instrumentarium des Mittelalters neu erstehen lassen.
Ihre CD mit dem Titel „Je voy le bon tens venir“ bietet ein buntes musikalisches Gemälde des frühen 14. Jahrhunderts.
Die Auswahl der Instrumente entnahm die Gruppe einer Schrift des wohl mit bekanntesten Komponisten und ‚Arrangeurs’ der Mittelalters Guillaume de Marchaut (1305-1377). Er lieferte das Singspiel ‚Le Judgment de Navarre’ (‚Das Urteil von Navarra’) von 1349 die folgende Instrumenten-Anforderungsliste: „Vielle, Rebec, Cittern, Lauten aus Arabien, Psalterion und Harfen, Tabor und Trompeten, Portative Orgeln und mehr als zehn Hörner, Dudelsäcke, einhändige Flöten und andere Pipes, Cymbale und kleine Glockenspiele, Tambourine, Querflöten, wie sie die Böhmischen spielen, Große Cornettte aus Germania, Elsässer Dudelsäcke und kleine Trompeten und Businen...“ und so weiter, und so weiter.
Ein ganzes mittelalterliches Orchester also. Man kann sich vorstellen, dass die paar Musiker viele unterschiedliche Instrumente beherrschen mussten. Dazu sollten sie auch noch schauspielern und singen können und einige Gauklertricks sind auch nicht vom Übel, um die adeligen Damen und Herren am Hofe gut zu unterhalten.
Die CD ‚Je voy le bon tens venir’ mit dem Ensemble ‚Le Musiciens de Saint-Julien’ unter Francois Lazarevitch ist zu erhalten bei Alpha/Outhere Records unter der Bestellnummer Alpha 189.
Weiter geht es nach Flandern an den Hof Philipps (1419-1467). Philipp, genannt ‚der Gute’ wegen seiner Frömmigkeit, war Herzog von Burgund aus der burgundischen Seitenlinie des Hauses Valois, Sohn von Herzog Johann Ohnefurcht und der Margarete von Bayern.
Philipp begünstigte die Künste und Wissenschaften und beförderte Handel und Gewerbe, namentlich die Teppichweberei in Flandern.
Er und seine Gemahlin Isabella von Portugal liebten das feinsinnige Kunst-Lied und beschäftigten unter anderem den damals berühmtesten Komponisten, der auch für italienische Fürstenhäuser, wie das der d’Este in Ferrara oder der Medici in Florenz arbeitete, Guillaume Dufay (1397-1474 ).
Guilliaume war außer Komponist auch Sänger und Musiktheoretiker. Er gilt als der Begründer der franko-flämischen Schule und war zusammen mit dem Londoner John Dunstable (1390-1453) und de Franco-Flamen Gilles Binchois (1400-1460) einer der Altmeister der Musik des 15. Jahrhunderts.
Man genoss am Hofe das Liebes- und Frühlingslied – Musik diente vornehmlich der edlen Erbauung. Guillaume lieferte diese feine Unterhaltung die späterhin die Grundlagen für das deutsche Kunstlied und das französische Chanson als auch das italienische Madrigal legen sollte.
Die flämische Musik Gruppe ‚Allegorie’ widmete den Liedern um den Hof Philipps eine eigene CD unter dem Titel ‚L’ Arbre de Mai – Chansons & Danses au temps de Guillaume Dufay’ (‚Der Maibaum – Lieder und Tänze zur Zeit des Guillaume Dufay’).
Diese Aufnahme mit ihren fast schwärmerischen Frühlingsliedern und den Oden an die Jugend und die Liebe unterschieden sich nun grundsätzlich von den eher derben und wilden Tänzen der italienischen Balli. Die CD bietet ein breites Spektrum des damaligen Liedschaffens und unterteilt dies in die Themen ‚L’amour & La Jeunesse’ (‚Liebe und Jugend’) ,L’arbre de Mai’ (‚Der Maienbaum’), ‚La Guerre & Le Roi’ (‚Der Krieg und der König’) und ‚Au soir de la vie’ (‚Am Abend des Lebens’).
Man merkt an dieser Themenauswahl – besonders dem letzteren – die bereits beginnende Grund-Melancholie die das späte Mittelalter und seine Musik prägte und durchzog.
Man hatte so viele Kriege und Seuchen, so viele Härten und Enttäuschungen erlebt – die menschliche Existenz war nur im Frühling und in der Liebe lebenswert – beiden schwanden viel zu rasch. ‚Media vita in morte sumus’ sangen die mittelalterlichen Mönche – ‚Mitten wir im Leben, sind mit dem Tod umfangen ...’.
Das Ensemble ‚Allegorie’ mit seinen feinen Stimmen und Instrumenten unterstreicht diese melancholische Grundstimmung der Lieder. Man führt die ‚Chansons colla parte’ auf – das bedeutet man verdoppelt die Singstimme jeweils mit parallel geführten Instrumenten und erreicht damit eine intensive, hautnahe Wirkung.
Eines meiner Lieblingslieder, dieser wirklich beeindruckenden Aufnahme, ist das von dem blinden Nürnberger Organisten Conrad Paumann 1452 verfasste
„Mit ganczem Willen“.
„Mit ganczem Willen wünsch ich Dir
Seind ich mich dir ergeben han
Ob es gesteht nach dein begier
Will ich gewaltiglichen stan
In deinem g’pot fraw wein on spot
So bleib ich dein alleyne
Du allerliebst frewleine.“
Die CD ‚L’Arbre de Mai – Chanson & danses au temps de Guillaume Dufay’ mit dem Ensemble ‚Allegorie’ ist bei Alpha/Outhere Records unter der Bestellnummer Alpha 054 erschienen.
Unsere Reise an die musikalischen Fürstenhöfe führt uns nun weiter über die Alpen nach Italien...
Einer der kunstbegeisterten Fürsten des späten Mittelalters und der beginnenden Renaissance fand sich dort in Florenz - Lorenzo I. de Medici (1449-1492), nicht ohne Grund genannt ‚Lorenzo il Magnifico’ (‚Lorenzo‚ der Prächtige’). Den Beinamen ‚il Magnifico’ erhielt Lorenzo durch seine großzügige Förderung der schönen Künste: Musik Literatur, Malerei, Bildhauerei und auch ein wenig auf dem Gebiet der Architektur. Zu den geförderten Künstlern zählten unter anderem Sandro Botticelli und Michelangelo Buonarroti. Unter seiner Herrschaft wurde Florenz die wichtigste Stadt der Künste während der Renaissance. Von den wenigen Architekturbeispielen, die von einer Förderung Lorenzos zeugen, ist vor allem die Kirche ‚San Salvatore al Monte’ zu nennen. An ihrer Planung war ‘Lorenzo il Magnifico’ seit 1474 selbst beteiligt.
Lorenzo förderte und beschützte nicht nur Künstler, sondern besaß auch selbst genaue Kenntnisse in der Architektur und Literatur und Musik. Er spielte Laute und verfasste Poesie und Chansons in der Landessprache des alten Toskanisch, die von seiner beträchtlichen Begabung auf diesem Gebiet zeugt.
Lorenzo stand an der Grenze zwischen dem endenden Mittelalter und der beginnenden Renaissance – ein Stadtfürst mit eigenem Hof – Handelsherr und Förderer der schönen Künste. Einmal im Jahr veranstaltete Lorenzo seinen eigenen florentinischen Karneval: der Heilige der Stadt St. Johannes wurde gefeiert, mit einem großen Umzug alljährlich an den sogenannten ‚Calendimaggio’. Denn sobald Lorenzo 1469 an die Macht gekommen war – damals gerade 20 Jahre jung – wurde das Fest zu einer zentralen Kundgebung des Fürsten, ein prächtiges Festival der Künste. Musikalisch wurde alles aufgeboten, das damals Freude machte, selbst eigene ‚Canti Carnevaleschi’ – Karnevalslieder – wurden zum Anlass komponiert.
Ähnlich wie beim venezianischen Karneval verkleideten sich die Bürger, trugen Masken und feierten ihren Lokal-Heiligen mit viel Spaß, Musik und Tanz und Pomp überall in den Straßen. Man feierte dazu auch den Frühlingsbeginn und die Jugend und einen alten römischen Gott – den des Weines – Bacchus. Denn man begann in der Renaissance (‚Wiedererweckung’) die Antike neu zu beleben.
Das französische Ensemble Doulce Memoire rekonstruierte die Musik zu Lorenzos. Lieblingsfest auf einer CD unter dem Titel ‚Trionfo di Bacco’ – der ‚Triumph des Bacchus’. An der reichhaltigen und vielschichtigen CD von Doulce Memoire laesst sich nun an der Auswahl der Instrumente, der Melodik und der Arrangements sehr schön erkennen, wie die ursprünglich oft archaische Musik des hohen Mittelalters mit Beginn der Renaissance verfeinert und harmonisch übergeschliffen wurde, ohne an ihrer Kraft zu verlieren. Man erkennt im Rhythmus immer noch die ‚Estampie’ und den ‚Saltrello’ doch in der reichen Instrumentierung und der fließenden Harmonik lässt sich bereits etwas ganz Neues erkennen – reine, edle Unterhaltungsmusik. Nicht das diese Musik in irgendeiner Weise weniger ‚fußstampfend’ ist, als die rein mittelalterliche – eher im Gegenteil. Man nahm die Kraft der mittelalterlichen Musik und gab ihr einen harmonischen und verfeinerten Überbau.
Doulce Memoire unter der Leitung des Zinkisten Denis Rasin-Dadre gehört mit seinen unzähligen Aufnahmen zur Renaissance-Musik meiner Meinung nach zu den herausragenden Ensembles dieser Musikgattung. Ich habe die ganze Sammlung seiner Veröffentlichungen bei mir im Plattenschrank – ich habe bisher noch keine einzige gefunden, die nicht auf ihre Weise besonders und mitreißend ist. Das Ensemble besteht auf dieser Aufnahme von 1998 aus den Vokalisten Marc Pontus (Alto), Serge Goubidou und Lucien Kandel (Tenor) und Marc Busnel (Bass). Dazu aus den Instrumentalisten Pascal Boquet (Lauten und Renaissance Gitarre), Frederic Martin (Lira da Braccio), Jean-Paul Boury (Cornetts und Blockflöte), Elsa Frank (Chalumeaux, Bombard und Blockflöte), Denis Rasin Dadre (Leitung sowie Bombard und Blockflöte), Jeremie Papasergio (Bombard und Blockflöte), Franck Poitrineau (Trompete und Sackbutt) und Bruna Caillat (Schlagwerk).
Der fröhliche Karneval des prächtigen Lorenzo de Medici wurde späterhin durch den fanatischen Bußprediger und Dominikaner Mönch Girolamo Savonarola (1452-1498), der mit seiner Kritik am Lebenswandel des herrschenden Adels und Klerus einer der Vorläufer der Reformation war.
Savonarola war eine Zeitlang de facto Herrscher über Florenz von 1494 bis kurz vor seiner Hinrichtung 1498. Zu dieser Zeit wurde aus dem fröhlichen Umzug eine drastische Vorschau auf die Hölle und die Verdammnis. Es wurde zu einem ‚Carnevale de Crossifisso’ – ein Karneval des Kreuzweges zur Umkehr des Menschen. Savonarola machte ein wahrhaft großes Spektakel daraus. So fand sich zum Beispiel ein ‚Triumphwagen des Todes’ darunter, der ‚Carro della morte’, auf dem ein erschreckliches Skelett auf einer Anzahl Särge, aus denen die Toten herauswinkten, thronte und mit einer gewaltigen Sichel um sich schlug. Der Wagen wurde von schwarzen Ochsen gezogen und man sang Trauerlieder die ‚Dolor planto e penitenza’ – die ‚Schmerzen des Weines und der Reue’. Die Lieder dieser schwarzen Umzüge beschließt die ausgezeichnete und hoch empfehlenswerte CD der Gruppe Doulce Memoire.
Die CD ‚Lorenzo Il Magnifico – Trionfo di Bacco’ mit dem Ensemble Doulce Memoire unter Leitung von Denis Raisin-Dadre ist zu erstehen bei Audivis Astree Records unter der Bestellnummer E 8626.
Die Reise durch die Mittelalterlichen und Frührenaissance Fürstenhöfe zeigt die musikalische Entwicklung die vom 13. Jahrhundert bis zum 15. Jahrhundert die mitreißende und späterhin verfeinerte Unterhaltungsmusik entwickelte, die schließlich in der Kunst eines Claudio Monteverdi (1567-1643) ihren ersten musikhistorischen Höhepunkt in der Hochrenaissance fand.
In Deutschland nahm die Entwicklung einen anderen Weg. Das erstarkende Bürgertum setzte sich sein eigenes musikalisches Denkmal und entwickelte aus den Stücken der Minnesänger das erbauliche Kunstlied.
Das bürgerliche Kunstlied „Mein traut Gesell“:
„Mein traut Gesell mein höchster hort
Wiss das dir wünschen meine wort
Auf den tag so das jahr anvacht
Was zu gelück y ward erdacht
Das werd allzeit an dir vollbracht
Und das dich meid was dir versmacht
So wurd mein hercz in freuden gail
Wann dein gelück das ist mein heil
Wy ich pey dir nich mag gesein
So pin ich doch all zeit das dein
Soll ich nach lust erwunschen mir
So wilt ich frölich sein bey dir
Wy das mit freuden schir geschech
Das ich dich liebster hort ansech
Als pald dein lib mein laid zeprech
In mynniklicher taugenhait
So ward mein senen ny so prait
Dein goet möcht wol erlösen mich
Wann ich pin du und du pist ich.“
Neujahrslied aus dem Liederbuch des Mönchs von Salzburg 1472
Eine weiterer Stand neben den Fürsten wurde stark im späten Mittelalter und etablierte einen eigenständigen Macht- und Kulturfaktor neben dem Adel – der zu Geld gekommene, selbstbewusste und namentlich freie Bürger insbesondere der ‚freien Reichs- und Hansestädte’ wie Nürnberg, Köln, Rostock oder Hamburg.
Dazu noch ein Auszug aus der Website ‚Das Mittelalter in Deutschland’: „(...) Vom Bürger als eigenständigem Stand spricht man ab dem 11. Jahrhundert. Zeitgleich löste das Wort “stat” das ältere Wort “burg” ab. Diese Schicht zählte in der Ständeordnung im Mittelalter genau wie Bauern zum dritten Stand.
Als Bürger bezeichnete man einen Stadtbewohner. Man differenzierte zwischen den “burgaere”, welcher alle politischen Rechte besaß, und dem “medewoner” (Einwohner), welcher keine politischen Rechte besaß. Alle Stadtbewohner waren aber im Gegensatz zur der Landbevölkerung frei (...)
(...) Das Bürgertum bildete sich im Hochmittelalter mit der Gründung der Städte als eigener, neuer Stand, zu denen der einfache Stadtbürger gehörte. Diese einfachen Bürger waren manchmal ehemals Bauern, denn Einige von ihnen hatten ihr Schicksal selbst in die Hand genommen und waren vor den elenden Lebens- und Arbeitsbedingungen vom Land in die Stadt geflohen (...)
(...) So war dem Aufblühen des Bürgertums auch die Beseitigung der Unfreiheit in seinem Kreise zu verdanken. Mit dem Aufblühen des Handwerks entwickelten sich ab dem Hochmittelalter zahlreiche Berufe und Wohlstand machte sich mehr und mehr breit (...)“
Dieser freie Bürger profitierte vom aufkommenden Geldgeschäft und Handel und Gewerbe, organisierte sich selbst durch Stadtrat und Zünfte. Vorher hatte man Dienst (Schutz durch Kaiser, Fürsten und Ritter) gegen Dienst (Frondienst und Arbeit für die Schutzmacht) vergolten. Nun war das Geld an diese Stelle getreten und wer sich recht fügte und gute Geschäfte betrieb, die lukrativ waren, konnte erstmals sein Glück machen, ohne adelig zu sein.
Natürlich orientierte sich das neue, städtische Bürgertum zunächst kulturell an den Sitten seiner ehemaligen Herren und versuchte höfische Musik und Kunst nachzuahmen. Dies gelang nur unzureichend und nicht auf gleichem Niveau. Dennoch entwickelte man einen kulturellen Stolz im Gegensatz zu den Adeligen, die zumeist italienisch oder französisch sprachen, dichteten und sangen, die ‚deutsche Sprache’ (Mittelhochdeutsch) zu sprechen und zu fördern – obwohl dies auch nur teilweise möglich war und sich wirklich erst im 16. Jahrhundert durchsetzte, zunächst sprach man meistens Dialekte der jeweiligen Region.
Man sang ziemlich einfache leicht zu lernende Lieder im Stil der Minnelieder aber viel – wenn man so sagen darf ‚ puddeliger und lieblicher – fast ‚biedermeierlich’ in der Aussage und Melodik. Doch man pflegte auch eine Art Minnesang – namentlich späterhin in den Vereinigungen der ‚Meistersinger’ die sich in verschiedenen Städten wie in Nürnberg etablierten. Die Meistersinger waren bürgerliche Dichter und Sänger im 15. und 16. Jahrhundert, die sich zunftartig zusammenschlossen. Die Dichtungen und Melodien des Meistersangs leiteten sich aus dem Minnesang ab, gehorchten aber strengen Regeln. Unter den Künstlern überwogen die Handwerksmeister, doch zählten auch Priester, Lehrer und Juristen dazu. Wie weit dieses neu gewonnene bürgerliche kulturelle Selbstverständnis ging hat Richard Wagner (1813-1883) sehr schön im 3. Akt seines Musikdramas ‚Die Meistersinger von Nürnberg’, 1868 dargestellt.
Hans Sachs, hochgeehrter Meistersinger und Dichter aus Nürnberg, Bürger und Schuster, klärt darin den verarmten Ritter Junker Stolzing öffentlich auf der Festwiese über das Selbstverständnis der bürgerlichen Künstler auf ...
Sachs: “Verachtet mir die Meister nicht, und ehrt mir ihre Kunst!
Was ihnen hoch zum Lobe spricht, fiel reichlich Euch zur Gunst.
Nicht Euren Ahnen, noch so wert, nicht Eurem Wappen, Speer noch Schwert,
dass Ihr ein Dichter seid, ein Meister Euch gefreit,
dem dankt Ihr heut Eu'r höchstes Glück.
Drum, denkt mit Dank Ihr dran zurück, wie kann die Kunst wohl unwert sein,
die solche Preise schliessest ein?
Das unsre Meister sie gepflegt grad recht nach ihrer Art,
nach ihrem Sinne treu gehegt, das hat sie echt bewahrt:
blieb sie nicht adlig, wie zur Zeit, da Höf und Fürsten sie geweiht,
im Drang der schlimmen Jahr blieb sie doch deutsch und wahr;
und wär sie anders nicht geglückt, als wie, wo Alles drängt und drückt,
Ihr seht, wie hoch sie blieb im Ehr:
was wollt Ihr von den Meistern mehr?
Habt Acht! Uns dräuen üble Streich: -
zerfällt erst deutsches Volk und Reich,
in falscher wälscher (franzoesischer!) Majestät
kein Fürst bald mehr sein Volk versteht,
und wälschen Dunst mit wälschem Tand
sie pflanzen uns in deutsches Land;
was deutsch und echt, wüsst keiner mehr,
lebt's nicht in deutscher Meister Ehr.
Drum sag ich Euch: ehrt Eure deutschen Meister!
Dann bannt Ihr gute Geister; und gebt Ihr ihrem Wirken Gunst,
zerging in Dunst das heil'ge röm'sche Reich,
uns bliebe gleich die heil'ge deutsche Kunst!“
Das ist ziemlich deutlich und wird leider heutzutage oft dümmlicher Weise als arrogante ‚Deutschtümelei’ missverstanden. Damals im späten Mittelalter war das ein echt revolutionäres Statement – namentlich einen ausgewachsenen adeligen Ritter so öffentlich zurechtzustoßen und sich dazu noch klar gegen den weitgehend französisch sprechenden Adel zu wenden. Man sieht daran welche Kraft das erstarkende Bürgertum für sich in Anspruch nahm, die ‚Deutsche Kunst’ zu vertreten...
Die ersten originalen Zeitzeugnisse dieses pompösen Bürger Anspruchs waren allerdings noch eher bescheiden, man findet sie in Liederbüchern und Liedsammlungen die im 14. und 15. Jahrhundert entstanden und das bürgerliche (Volks-)Kulturgut sammelten und später auch verbreiteten.
Wir wollen uns drei davon ansehen, die Sammlung des ‚Mönchs von Salzburg’ , das ‚Glogauer- und Lochhamer Liederbuch’ und dazu exemplarische CD-Einspielungen empfehlen, die einmal vom ‚Ensemble für frühe Musik Augsburg’ und weiterhin vom Ensemble ‚Dulce Melos’ aufgenommen wurden. Auf den CDs die wir jetzt des weiteren vorstellen, treffen wir erneut eine besondere Künstlerin an, die schon im ‚Ensemble Millenarium’ eine führende Rolle spielte, die Mittelalter Expertin, Flötistin und Sängerin Sabine Lutzenberger. Sie absolvierte 1990 ihr Blockflöten-Konzertdiplom an der Züricher Hochschule für Musik und studierte anschließend Mittelalter- und Barockgesang an der ‚Schola Cantorum’ in Basel. Lutzenberger ist in der Tat eine der Pionierinnen des mittelalterlichen Gesangs und seit nunmehr über zwanzig Jahren eine der herausragenden Sängerinnen auf diesem Gebiet.
Sie ist langjähriges und prägendes Mitglied des ‚Ensemble für frühe Musik Augsburg’ sowie des italienischen Ensembles ‚Mala Punica’, singt aber auch in Gruppen, wie dem Huelgas Ensemble, ‚Millenarium’ oder ‚VocaMe’ und selbst in der in der zeitgenössischen Musik wie dem Klangforum Wien.
Das ‚Ensemble für frühe Musik Augsburg’ hat mit ihr unendlich viel Pionierarbeit für das neue Verständnis mittelalterlicher Musik und ihrer ‚original’ rekonstruierten Aufführungspraxis geleistet.
Man spielte eine ganze ausführliche Diskografie des Mittelalters ein von Sequentien der Hildegard von Bingen (1098-1179) über zwei Jahrhunderte Anthologien des Minnesangs und der Trouvers bis hin zu den bürgerlichen Liedern des Spätmittelalters, mit denen wir uns jetzt beschäftigen.
Die früheste Sammlung der bürgerlichen Lieder entstammt einem Kloster. Der ‚Mönch von Salzburg’ war ein Liederdichter und Komponist des Spätmittelalters von europäischer Bedeutung. Mit über 100 Handschriften ist er derjenige Lyriker aus dem Mittelalter mit der größten Überlieferungsbreite.
Am Hof des Salzburger Erzbischofs Pilgrim II. von Puchheim (1365-1396) wirkte der anonym gebliebene Mönch von Salzburg, von dem 50 frühneuhochdeutsche Liebeslieder, sieben weitere weltliche, vor allem Trinklieder und rund 50 geistliche Lieder überliefert sind. Tatsächlich ist das geistliche Liedschaffen des Mönchs von Salzburg als das wichtigste Zeugnis des volkssprachlichen geistlichen Gesanges im Spätmittelalter für den gesamten deutschen Sprachraum anzusehen. Die vorherrschenden Formen sind dabei der Hymnus, die Sequenz und das geistliche Gemeindelied. Diese volkssprachlichen Gesänge zählten im Spätmittelalter mit zum festen Bestandteil der kirchlichen Liturgie. Die Liebeslieder stehen nicht mehr in der Tradition der klassischen Minnelieder der Hohen Minne, die Liebe zwischen Mann und Frau ist nicht unerreichbar. Sehnsucht, Angst und Eifersucht werden ebenso genannt, Hass auf die Nebenbuhler und Wut über Schwätzer und Neider. Spaß und Sorgen sind beide gegenwärtig. Die Lieder der Sammlung werden vom ‚Ensemble für frühe Musik Augsburg’ mit einer passenden Kleinbesetzung an Instrumenten wie Blockflöte, Schalmei, Gothische Harfe, Laute und Fiddle aufgeführt. Die Lieder sind einfach gehalten und die Instrumente standen dem Haushalt der Bürger zur Verfügung – erste Hausmusik kam auf.
Die Themen sind Liebes- und Spaßlieder wie das vom ‚Tewel und ein klafften Schalck’ – über den ‚teuflischen Klatsch’. Einige sind auch sehr beschaulich und haben eine sensitive Tiefe, wie das oben zitierte Neujahrslied an die ferne Geliebte ‚Mein traut Gesell’, das auch den Titel dieser wirklich sehr gut hörbaren und schönen CD lieferte.
Die CD ‚Mein traut Gesell’ – Weltliche Lieder des späten Minnesangs’ mit dem ‚Ensemble für frühe Musik Augsburg’ und Sabine Lutzenberger, Hans Ganser, Rainer Herpichböhm und Heinz Schwamm ist erschienen bei Christophorus Records unter der Bestellnummer CHE 0187-2.
Zwei der Liederbücher des 15.Jahrhunderts sind die Quellen, aus denen die ersten echten ‚Volkslieder’ deutscher Sprache entnommen wurden, die nicht mehr als Minnesang, sondern als echte ‚Gassenauer’ ihren Weg aus den Bügerhäuser bis in die Bauernstuben nahmen. Dazu zählen ‘All mein’ Gedanken, die ich hab’, ‚Ich fahr dahin’, ‚Der Wald hat sich entlaubet’ und ‚Ich spring an diesem Ringe’ entnommen aus dem ‚Lochamer Liederbuch’ oder ‚Ach Elslein liebes Elselein’ aus dem ‚Glogauer Liederbuch’. Letzteres ist eine um 1480 entstandene Sammlung von 292 geistlichen und weltlichen Vokal- und Instrumentalstücken der Spätgotik aus Schlesien. Der niederschlesische Ort Glogau liegt etwa 100 km nordwestlich von Breslau an der Oder. Es gilt als der älteste bekannte Stimmbuchsatz aus Zentraleuropa, der in drei Stimmbüchern (Discantus, Tenor, Contratenor) überliefert ist. Ein kleinerer Teil davon hat deutsche Titel und teilweise auch Liedtexte. Es handelt sich um eine Gebrauchssammlung für das gesellige Musizieren.
‚Das Lochamer-Liederbuch’ ist eine umfangreiche Sammlung deutschsprachiger Lieder am Übergang vom Spätmittelalter zur Renaissance. Es stammt aus der Mitte des 15. Jahrhunderts. Das Liederbuch wurde nach einem seiner ersten Besitzer benannt, der sich mit den Worten ‚Wolflein von Lochamer ist das gesenngk büch’ um 1500 in das Buch eingetragen hat. Wolflein (von) Lochamer gehörte einer christlichen Nürnberger Patrizierfamilie an. Die Liederhandschrift umfasst auf 93 Seiten mit 50 ein- bis dreistimmige Lieder Für fast die Hälfte dieser Lieder stellt sie die einzige Quelle dar. Der Hauptschreiber war ein Frater Jodocus von Windsheim, der wohl der Schule um den Nürnberger Komponisten und dem bereits oben erwähnten blinden Organisten Conrad Paumann (1409-1473) zuzuordnen ist. Der Hauptteil der Sammlung stammt aus den Jahren 1451 bis 1453, Nachträge reichen bis 1460. Die Liedersammlung dokumentiert das verstärkte Aufkommen weltlichen Liedgutes neben den kirchlichen Liedern.
Beide Liederbücher wurden in Auswahl von dem ‚Ensemble Dulce Melos’ eingespielt wobei das Glogauer Liederbuch mit größerem Instrumentarium aufwartet von Blockflöten, Dulcemelos, Gamben, Violen, Lauten, Zittern und Renaissancegitarre.
‚Das Lochhamer Liederbuch’ ist eine Sammlung der ersten Baritonlieder – auch wie oben besetzt – aber viele von ihnen sind auch lediglich mit Lautenbegleitung unterlegt. Das Lauten begleitete Bariton - und Tenorlied erlebte spaeter seine Blüte besonders im England der Renaissance
Beide Aufnahmen sind von hoher, musikalischer Qualität – gesungen wieder von Sabine Lutzenberger (Sopran) und diesmal unterstützt von Martin Hummel (Bariton), der auf der CD des Lochamer Liederbuchs solistisch auftritt. Die Instrumentalisten des Ensemble ‚Dulce Melos’ sind Yukkito Yaita (Blockflöte), Margit Übelacker (Dulcemelos und Hackbrett), Elisabeth Rumsey (Renaissance Gambe), Uri Smilanski (Viola d’arco) und Marc Lewton (Laute, Zittern, Viola d’arco und Renaissancegitarre)
Die CDs ‚Das Glogauer Liederbuch’ und ‚Das Lochhamer Liederbuch’ mit dem ‚Ensemble Dulce Melos’ sind zu erwerben bei Naxos Records unter den Bestellnummern 8.572576 (,Glogauer’) und 8.557803 76 (,Lochamer’).
Ihr Herby Neubacher
Abbildungsnachweis:
Header: Detail aus Lorenzo de' Medici als Jugendlicher. Fresco von Benozzo Gozzoli, in der “Cappella dei Magi", im Palazzo Medici Riccardi in Florenz.
Galerie:
01. Michelangelo Merisi da Caravaggio (1573–1610); Der Lautenspieler, ca. 1595, Öl auf Leinwand. Eremitage, St. Petersburg.
02. CD-Cover ‚Je voy le bon tens venir’ mit dem Ensemble ‚Le Musiciens de Saint-Julien’
03. Rogier an der Weyden; „Philipp der Gute“, nach 1450, Öl auf Leinwand.
04. CD-Cover ‚Lorenzo Il Magnifico – Trionfo di Bacco’ mit dem Ensemble
Doulce Memoire
05. Hans Sachs im 51. Lebensjahr. Holzschnitt von Michael Ostendorfer, 1545
06. CD-Cover ‚Mein traut Gesell’ – Weltliche Lieder des späten Minnesangs’ mit dem ‚Ensemble für frühe Musik Augsburg’
07. + 08. CD-Cover ‚Das Glogauer Liederbuch’ und ‚Das Lochhamer Liederbuch’ mit dem ‚Ensemble Dulce Melos’.
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